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Soziale Ungleichheit und Pflege

Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung

VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl447 Seiten
ISBN9783531910147
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis54,99 EUR
Soziale Ungleichheiten im Kontext pflegerischer Versorgung stellen eine wachsende Herausforderung für die Sozial- und Gesundheitspolitik dar.
Die Beiträge angewandter Pflegeforschung machen aus wissenschaftlicher wie praktischer Perspektive deutlich, wie gravierend Ressourcenunterschiede auf die Qualität der Versorgung Einfluss nehmen.
Das gilt für die Ausgestaltung von Pflegearrangements, für die Effektivität und Effizienz der erbrachten Pflegeleistungen sowie für die Funktion der pflegerischen Versorgung bei der Reproduktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten. Der Band bietet aus der Hand profilierter FachvertreterInnen weitreichende theoretische und praktische Perspektiven zum Thema Pflege und soziale Ungleichheit an und stellt erstmals empirische Befunde zur Thematik einer systematischen Diskussion zur Verfügung.


Dr. Ullrich Bauer hat an der Fakultät für Bildungswissenschaften die Professur für Sozialisationsforschung inne.
Dr. Andreas Büscher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pflegewissenschaft (IPW) an der Universität Bielefeld.

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Leseprobe
Töchter pflegen ihre Eltern: Traumatisierungspotenziale in der häuslichen Elternpflege – Indizien für geschlechtstypische Ungleichheit? (S. 259-260)

Melanie Deutmeyer

Die aktuelle und zukünftige Versorgungssituation hochaltriger, pflegebedürftiger Personen ist eine große gesellschaftliche Herausforderung. Einerseits ist die Familie die zentrale Einrichtung für die Unterstützung älterer und kranker Menschen, deren Verfügbarkeit jedoch abnimmt, weil z.B. traditionelle Familienstrukturen erodieren und die Bereitschaft der Frauen sinkt, eine Pflegerolle zu übernehmen. Andererseits nimmt die Zahl der pflegebedürftigen Hochaltrigen aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und den damit verbundenen multimorbiden Krankheitsgeschehen deutlich zu, so dass die Pflege eines hochaltrigen Menschen in der Familie keine Ausnahme, sondern „erstmals in der Geschichte zu einem erwartbaren Regelfall des Familienzyklus geworden ist" (BMFSFJ 2002: 194).

Zu bedenken ist, dass die häusliche Pflege hochaltriger, bedürftiger Menschen überwiegend Frauen trifft. Folgendes Bild zeigt die Verteilung der privaten Pflegearbeit (ebd.): Bei den Pflegepersonen handelt es sich in nahezu 90% aller Fälle um nahe Angehörige, selten um Freunde, Nachbarn und Bekannte. Ca. 20% der Pflegebedürftigen werden von einer Partnerin und 12% von einem Partner gepflegt. Ein weiteres Drittel der Pflegenden stellen die Töchter (23%) und Schwiegertöchter (10%). Und: Ca. 80% der pflegenden Angehörigen sind Frauen. Angehörigenpflege ist damit zum überwiegenden Teil „Frauenpflege" (Kruse 1994: 42).

Bei der geleisteten Pflege steht die Konstellation „Tochter pflegt Mutter" an erster Stelle, gefolgt von „Frau pflegt Ehemann" und „Frau pflegt Schwiegermutter". Ursache hierfür ist eine Verlagerung der Pflegesituation im fortgeschrittenen Alter der Pflegebedürftigen. Während bei den 60 – 65-Jährigen der Anteil der Partnerpflege bei 56% und nur zu 13% bei den Kindern liegt, verschiebt sich die Pflegeversorgung kontinuierlich zu den Kindern. 80 bis 85- Jährige Pflegebedürftige werden nur noch zu 2% von den PartnerInnen und zu 65% von den Kindern, insbesondere Töchtern, gepflegt (BMFSFJ 2002).

Diese familiale Pflegearbeit hat Konsequenzen: Die Gesundheit vieler pflegender Angehöriger nimmt durch die mit der Pflege verbundenen Anstrengungen Schaden. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben pflegende Angehörige signifikant mehr körperliche Beschwerden (z.B. Gräßel 1998a). Besonders Frauen sind von solchen Beeinträchtigungen betroffen: Rund drei Viertel der pflegenden Frauen erkrankt an mindestens einer Krankheit (z.B. Adler et al. 1996). Nichtprofessionelle Pflegepersonen erleben aber nicht nur pflegebedingte körperliche, sondern auch soziale und psychische Beeinträchtigungen. Solche sind Erschöpfungssymptome, Einschränkungen der Freizeitaktivitäten oder Verringerung sozialer Kontakte bis hin zu sozialer Isolation.

Aber auch mangelnde Anerkennung für die erbrachten Pflegeleistungen und berufliche Einschränkungen gelten als Stressoren. Häufig beobachtbar sind zudem psychische Beeinträchtigungen pflegender Angehöriger in Form von Depressionen mit Traurigkeit und Pessimismus, besonders wenn diese Demente pflegen (z.B. Gräßel 1998a, b, Vitalino et al. 2003). Die Befundlage zu den Auswirkungen der Angehörigenpflege macht deutlich, dass die Pflegepersonen durch die oft jahrelange Pflege erheblichen (gesundheitlichen) Belastungen ausgesetzt sind. Verschiedene AutorInnen bezeichnen pflegende Angehörige daher auch als „hidden patients" oder „hidden victims". (Zarit et al. 1985, Kruse 1994). Am deutlichsten aber bringt das Konzept der „filialen Reife" (Blenker 1965, Bruder 1988) die Pflegebelastungen zum Ausdruck. Es beschreibt die häusliche Pflege als ein kritisches Ereignis im Leben der Pflegenden.

In diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass es vielen Kindern Zeit ihres Lebens nicht gelingt, sich von den Eltern zu lösen. Dieses Defizit macht sich dann besonders in Pflegesituationen bemerkbar: Die Abhängigkeit von den Eltern und die fortdauernde Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung lässt die erwachsenen, pflegenden Kinder ihre eigenen Belastungsgrenzen nicht erkennen und provoziert Schuldgefühle und permanente Unzulänglichkeitsgefühle, die Pflegesituation nicht zur Zufriedenheit der Eltern auszuführen.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einführung9
Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen10
1 Was heißt heute soziale Ungleichheit?12
2 Ungleiche Gesundheit durch ungleiche Versorgung?19
3 Ungleiche Risiken in der Versorgung – der Altersfokus24
4 Soziale Ungleichheit in der Pflege – der Diskussionsrahmen31
5 Die Beiträge im Band37
Literatur40
Konzeptionelle und theoretische Zugänge49
Pflege in Figurationen – ein theoriegeleiteter Zugang zum , sozialen Feld der Pflege‘50
1 Einleitung50
2 Das Feld der Pflege51
3 Der Blick der Pflege57
4 Das Credo der Pflege61
5 Das Dispositiv der Pflege66
6 Epistemologischer Schluss70
Literatur72
Pflege und Ungleichheit: Ungleiche Citizenship rights im internationalen Vergleich79
1 Einleitung79
2 Soziale Bürgerrechte und Ungleichheit: ein theoretischer Rahmen82
3 Familialismus90
4 Pflegepolitik in europäischen Ländern – Effekte für Inklusion und Ungleichheit92
5 Fazit98
Literatur101
Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung105
1 Zum Gang der Untersuchung105
2 Elemente der Frage nach Gerechtigkeit106
3 Kritik an Ungerechtigkeit107
4 Vor der Gerechtigkeit – Ansatzpunkte für Gerechtigkeit108
5 Von der Würde zur Gerechtigkeit109
6 Die Gerechtigkeit110
7 Pflegebedürftigkeit als Anerkennung, dass einer Person Güter zuzuteilen sind111
8 Assessmentinstrumente als Hilfsmittel der Anerkennung von Pflegebedürftigkeit112
9 Unvermeidliche Exklusivität?113
10 Politik und Gesellschaft114
11 Epidemiologie: die Relevanz von Daten über das Auftreten von Pflegebedürftigkeit in einer Gesellschaft zur Realisierung gerechter Gesundheitsversorgung116
12 Pflegeklassifikationen116
13 Universalismus?118
14 Ungerechtigkeit durch Gerechtigkeit120
15 Vertiefung der Gerechtigkeit: Die Gabe und das personbezogene Budget123
16 Familiengesundheitspflege als künftiger Rahmen zur Vertiefung von Verteilungsgerechtigkeit126
17 Eine Utopie – wie die Zukunft aussehen könnte!128
18 Zusammenfassung130
Literatur131
Geschlechterungleichheiten in der Pflege133
1 Einführung133
2 Forschungs- und Diskussionsstand zu Geschlecht, Alter(n) und Pflege134
3 Geschlechtsspezifische Vergesellschaftung über den Lebenslauf in ihrer Auswirkung auf Pflege137
4 Geschlechtsvermittelte Ungleichheitsstrukturen in der Altenpflege146
5 Entwicklungsperspektiven: Umrisse einer geschlechtersensiblen Altenpflege150
Literatur152
Gibt es eine Unterfinanzierung in der Pflege?155
1 Einleitung155
2 Die Volkswirtschaftliche Bedeutung der Pflege156
3 Unterfinanzierung der Pflege: Begriff und Beispiele159
4 Gründe für das Entstehen der Unterfinanzierung165
5 Unterfinanzierung und soziale Ungleichheit168
6 Mögliche Lösungswege172
Literatur177
Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ und die soziale Ungleichheit in der Pflege181
1 Fachpflege verstärkt vielfach soziale Ungleichheit181
2 Die abhängige Variable: Die Güte der Fachpflege und die Klassifikation der Partizipation: Pflegebedürftigkeit, chronische Krankheiten und die Erweiterung der ICD- Diagnostik zur ICIDH und zur ICF191
3 Die ICF und das mesosoziologische Modell sozialer Ungleichheit in Gesundheit und Pflegebedürftigkeit196
4 Ist das Gesundheitssystem oder die Armutsbekämpfung für Pflegeabhängigkeit zuständig? Chronische Krankheiten und die Abgrenzbarkeit der Geltungssphäre der Bedarfsgerechtigkeit201
5 Zusammenfassung208
Literatur211
Empirische Zugriffe I – Kontext und Ausgangsbedingungen von Pflege213
Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer*214
1 Einleitung214
2 Einflussfaktoren auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit216
3 Daten und Methode219
4 Darstellung der Ergebnisse223
5 Diskussion231
Literatur232
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen vor dem Hintergrund von Bedarf und Chancen237
1 Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen: Pflegearrangements238
2 Unterscheidung zwischen Mikro- und Makro-Ebene239
3 Makroebene: Bedarf und Chancen im Prozess des gesellschaftlichen und demographischen Wandels240
4 Mikro-Ebene des Entscheidens: stationäre oder häusliche Versorgung – „ Pflegekulturelle Orientierungen“ und soziale Milieus243
5 Mikro-Ebene der Praktiken – Beteiligung von Sektoren und Akteuren am Pflegearrangement245
6 Abschließende Bemerkungen250
Literatur253
Empirische Zugriffe II – Häusliche Pflegearrangements255
Töchter pflegen ihre Eltern: Traumatisierungspotenziale in der häuslichen Elternpflege – Indizien für geschlechtstypische Ungleichheit?256
1 Häusliche Angehörigenpflege – ein kritisches Ereignis mit traumatogenem Potenzial?259
2 Kennzeichen häuslicher Pflegesituationen260
3 Die Gesundheit der Pflegenden268
4 Soziale Pflegeungleichheit und häusliche Pflege270
5 Grenzen der Untersuchung und Ausblick276
Literatur277
Leben mit einem behinderten Kind: Betroffene Familien in sozial benachteiligter Lebenslage279
1 Problemhintergrund279
2 Familien mit einem behinderten Kind280
3 Sozial benachteiligte Familien mit einem behinderten Kind282
4 Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit283
5 Soziale Ungleichheit und kindliche Behinderung284
6 Schlussfolgerungen und Konsequenzen291
Literatur294
Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit, Selbstbestimmungschancen und Pflegeorganisation in häuslichen Pflegearrangements älterer Menschen298
1 Einführung298
2 Die Bedeutung der Milieuzugehörigkeit für die Untersuchung299
3 Das Untersuchungsdesign301
4 Milieuzuordnung302
5 Ergebnisse303
6 Fazit310
Literatur311
Warum Kinder und Jugendliche zu pflegenden Angehörigen werden: Einflussfaktoren auf die Konstruktion familialer Pflegearrangements312
1 Problemdarstellung312
2 Relevante Literatur315
3 Zielsetzung und Fragestellung318
4 Methodologische und methodische Aspekte319
5 Ergebnisse323
6 Diskussion332
Literatur335
Empirische Zugriffe III – Spezielle Zielgruppen und Versorgungsprobleme339
Der Einfluss sozialer Faktoren auf den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen – ( k) ein Thema?340
1 Einleitung340
2 Entwicklungslinien und Begrenzungen der Compliance- und Adhärenzforschung342
3 Soziodemografische Faktoren – Die Illusion von der eindeutigen Vorhersagbarkeit nonadhärenten Verhaltens344
4 Kritische Betrachtung der Complianceforschung und mögliche Auswege351
Literatur353
Zur Rolle von Ungleichheits- und Machtverhältnissen in der Interaktion zwischen Pflegenden/ Ärzten1 und verschiedenen Patientengruppen im Krankenhaus358
1 Rahmenbedingungen und Methoden359
2 Ungleiche Beziehungen zwischen Patienten und Personal359
3 Patienten mit Verständigungsschwierigkeiten361
4 Strategien im Umgang mit dem Interessenkonflikt361
5 Der Umgang mit zugewanderten Patienten363
6 Vorwurf der Diskriminierung seitens zugewanderter Patienten und ihrer Angehörigen365
7 Strategien von Patienten mit Migrationshintergrund im Umgang mit Benachteiligung366
8 Fazit368
Literatur369
Pflege und Wohnungslosigkeit – Pflegerisches Handeln im Krankenhaus und in der aufsuchenden Hilfe370
1 Einleitung370
2 Wohnungslose Menschen und die gesundheitsbeeinflussende Lebenslage „ wohnungslos“370
3 Methodisches Vorgehen der vorliegenden Untersuchung374
4 Das Handeln von Pflegekräften bei der Pflege wohnungsloser Menschen375
Literatur389
Pflege türkischer Migranten391
1 Migration391
2 Situation türkischer Migranten394
3 Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB XI durch türkische Migranten402
4 Diskussion der Ergebnisse410
Literatur415
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion und Produktion sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit?418
1 Einleitung418
2 Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen420
3 Reproduktion sozialer Ungleichheit in Selbsthilfegruppen?425
4 Ausblick: Produktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit durch Selbsthilfe?437
Literatur437
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren442

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