1.2 Paradigmatische Wende und sozialpolitische Umgestaltungsprozesse in der Bundesrepublik ab 1998
„Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“ 37
Im Jahr 1998 kam es zum Regierungswechsel in der BRD; die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl wurde nach 16 Jahren von einer rot-grünen Koalition abgelöst, neuer Bundeskanzler wurde der damalige SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder. SPD und Grüne versprachen in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Armut zu legen; insbes. die Kinderarmut müsse reduziert werden. 38 Die Forderung nach einer Verbesserung der Lebenssituation für von Armutsentwicklungen betroffene Bevölkerungsschichten war in den Jahren zuvor Kern sozialdemokratischer wie grüner Oppositionspolitik gewesen. 39 Nach dem Machtwechsel verschoben sich Prioritäten und Positionen allerdings zweifellos in Richtung des neoliberalen Mainstreams. Der im vorausgegangenen Kapitel dargestellte Prozess des wohlfahrtsstaatlichen Wandels erfuhr unter der Regierung Schröder eine drastische Beschleunigung und mündete schließlich in einer strukturellen „Neuorganisation des Leistungssystems und des institutionellen Settings“ 40 . Mit dieser erfolgte auch eine radikale Uminterpretation des Sozialstaatsgedankens, die der Soziologe Stephan Lessenich (2008) zugespitzt als „Neuerfindung des Sozialen“ bezeichnete. Hintergrund sei die gewollte Herstellung eines veränderten, an die Gegebenheiten des flexiblen Kapitalismus angepassten Beziehungsverhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. 41
Als Akt der ideologischen Grundsteinlegung für den Vollzug des sozialstaatlichen Paradigmenwechsels in Deutschland kann die Veröffentlichung des sog. Schröder-Blair-Papiers gesehen werden, das 1999 als europabezogenes Konzept zur Modernisierung sozialdemokratischer Politik vorgelegt wurde. In weiten Teilen wird hier nicht mehr die Gemeinschaft als Verantwortungsträger für das Wohl des Einzelnen betrachtet, sondern der Einzelne gleichermaßen für sich selbst wie für das Wohlergehen der Gesellschaft
verantwortlich gemacht. „Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des Einzelnen [...] kann nicht an den Staat delegiert werden.“ 42 In der Konsequenz „wurde die Frage nach Gerechtigkeit und Teilhabe in wachsenden Teilbereichen von Verteilungsfragen abgekoppelt und der Weg für eine stärkere Individualisierung von Risiken freigemacht.“ 43 Auch die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft stellte einen essenziellen Punkt des Schröder-Blair-Papiers dar. Der Fokus lag dabei unter anderem auf der Frage, inwieweit der Staat Marktversagen korrigieren solle; denn ein Zuviel an Sicherheit, so die Argumentation der beiden Autoren, mindere die Entfaltung von Werten wie Unternehmergeist, Eigenverantwortung, Leistungswillen und Erfolgsstreben. „Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft [...] wurde über-, die Bedeutung des Einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaffung von Wohlstand unterschätzt.“ 44 Ebenso habe man die Schwächen der Märkte bislang überbewertet und ihren Stärken zu wenig Beachtung geschenkt. 45
Das neoliberale Denkschema, das bereits die Politik der schwarz-gelben Vorgängerregierung geprägt hatte, wurde damit im Prinzip in erweiterter Form zur Leitschnur der neuen rot-grünen Bundesregierung, deren Maßnahmen in nicht wenigen Bereichen letztlich als eine konsequente Fortführung der Politik der 80er und 90er Jahre betrachtet werden können - auch wenn man zunächst versuchte, sich inhaltlich abzugrenzen. Perspektivisch neu war die politische Zentrierung auf den Gedanken von Arbeit um jeden Preis. Dass die Formulierung um jeden Preis sehr nahe an der Wirklichkeit liegt, verdeutlicht folgende Aussage des Politikwissenschaftlers Josef Schmid (2010): „Nicht mehr die Höhe der Sozialausgaben, sondern das erreichte Niveau an Beschäftigung ist Messlatte dieser neuen Politik.“ 46 Demzufolge konzentrierte sich die Regierung Schröder „weniger auf die Sicherung von Einkommen, als nunmehr auf die Herstellung neuer Formen von Arbeitsbereitschaft, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsgelegenheit“ 47 .
Die nach dem Regierungswechsel vollzogene wohlfahrtsstaatliche Umgestaltung wird nun anhand einer Zusammenfassung rot-grüner Politik im Rückblick skizziert. Eine
allumfassende Darlegung ist mir dabei nicht möglich. Im Jahr 1999 begann man mit der etappenweisen Umsetzung einer ökologisch ausgerichteten Steuerreform, um Umweltverschmutzung und umweltschädlichem Verhalten steuerrechtlich entgegenzuwirken. Neben dem Ziel, Anreize zum Energiesparen zu setzen, hatte die Bundesregierung vorgesehen, „den Faktor Arbeit durch eine Senkung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung mit dem erzielten Steuermehraufkommen zu entlasten und dadurch zu besseren Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt beizutragen“ 48 . Infolge wiederholter Anhebung indirekter Steuern (z.B. der neu eingeführten Stromsteuer) erhöhten sich die Preise für Kraftstoffe und Strom besonders für die Bürger; die Wirtschaft wurde durch zahlreiche Sonderregelungen begünstigt. Wirft man einen Blick auf die Steuerpolitik im Ganzen, die bei der Bekämpfung von Armut durchaus auch eine Rolle spielt, so muss man zu dem Ergebnis kommen, dass insbes. hier „die Politik der Kohl-Regierung von Schröder fortgesetzt“ 49 worden ist. Allein Unternehmen und Reiche konnten, wie bereits in den Jahren zuvor, von umfangreichen Steuersenkungen profitieren (vgl. Abb. 1). Vor allem Einkommensteuer, Körperschaftssteuer und Gewerbesteuer wurden stark abgesenkt und / oder so modifiziert, dass sich für die betreffenden Kreise immer gewaltigere Einsparmöglichkeiten eröffneten.
Im Bereich der Alterssicherungs- und Rentenpolitik wurden zwar anfänglich von der Regierung Kohl vorgenommene Gesetzesänderungen rückgängig gemacht, dies waren jedoch Reformen von temporärer Geltung, die letztlich keinen Bestand hatten. Schon bald schlug man wieder den Weg der Vorgängerregierung ein. Unter Rot-Grün wandelte sich die bisherige Rentenpolitik zunehmend zu einer Politik der Alterssicherung, bei der die Sicherung von Lebensstandards schließlich weniger durch die gesetzliche Rentenversicherung vorgesehen war, als vielmehr durch betriebliche und private Vorsorgemaßnahmen. Eine Stabilisierung der Beitragssätze zur GRV gelang der Regierung Schröder nur auf Kosten des Leistungsniveaus. Mit der Rentenreform 2001 wurde die sog. Riester-Rente eingeführt, eine freiwillige Form privater Altersvorsorge, staatlich unterstützt durch Zulagen und Steuervergünstigungen. Ferner sollte die 2003 in Kraft getretene und 2005 ins SGB XII integrierte Grundsicherung im Alter und bei dauerhaft voller Erwerbsminderung dazu führen, versteckte Altersarmut zu verringern. 50
Der Zweck des Gesetzes bestand darin, den betroffenen Menschen eine eigenständige soziale Leistung zu gewähren, um deren grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherzustellen, wenn eigene Mittel nicht ausreichten. Das 2004 verabschiedete „Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung“ führte zu einer Modifikation der Rentenanpassungsformel; durch die Einführung eines „Nachhaltigkeitsfaktors“ wurde die Höhe zukünftiger Renten ab 2005 nicht mehr allein von der Lohnentwicklung abgeleitet, sondern auch vom Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern abhängig gemacht. Boeckh / Huster / Benz (2011) pointieren den Effekt: „Damit ist de facto eine Absenkung des zukünftigen Rentenniveaus festgeschrieben worden.“ 51 Zusätzlich sieht das 2005 verwirklichte Alterseinkünftegesetz zukünftig eine höhere Besteuerung von Renten und Altersbezügen vor.
Im Gesundheitswesen wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 die sog. Praxisgebühr eingeführt und der Kurs der Rückverlagerung von Kosten auf die Privathaushalte fortgesetzt. So bezahlten die Krankenkassen beispielsweise keine Brillen und Sehhilfen mehr. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz gab Rot-Grün das Paritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung auf; der größere Anteil der Aufwendungen wird seitdem von den Arbeitnehmern getragen.
2001 wurde das Wohngeld den steigenden Mieten angepasst, gleichzeitig aber der Kreis der Bezugsberechtigten verkleinert. Die Familienpolitik blieb weiterhin progressiv ausgerichtet. Entscheidungen in der Familienpolitik umfassten z.B. eine Erhöhung des Kindergeldes, Ansätze zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine rechtliche Stärkung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. Die gravierendsten sozialstaatsbezogenen Neuregelungen nach dem Jahrtausendwechsel erfolgten indessen unbestritten über die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik. Bereits Ende 2001 wurden mit dem Job-AQTIV-Gesetz viele Rechtsnormen geändert. Schmid (2010) bezeichnet das Gesetz...