II. Sozial-anthropologische Grundlagen der menschlichen Sexualität
Die neueren sozialwissenschaftlichen Theorien der Sexualität wenden sich zunächst gegen die in der älteren Soziologie vielfach vertretene Ansicht, die Sexualität des Menschen stelle ein biologisch in seinem Ablauf so gesichertes Instinktverhalten dar, daß eine Soziallehre der Geschlechtlichkeit in ihr einen präsozial weitgehend festgelegten Verhaltenskomplex einfach aufzunehmen habe oder gar von ihm soziale Beziehungen und Formen in ihrer Struktur deduzieren könne. Die moderne Anthropologie und die auf ihr aufbauenden Kulturlehren, wie sie in den Werken von BRONISLAW MALINOWSKI, MARGARET MEAD, RUTH BENEDICT, CLYDE KLUCKHOHN, ARNOLD GEHLEN u.a. vorliegen, sehen in der Sexualität wie in anderen biologisch bedingten Antrieben des Menschen eher weitgehend unspezialisierte Grundbedürfnisse, die gerade wegen ihrer biologischen Ungesichertheit und Plastizität der Formung und Führung durch soziale Normierung und durch Stabilisierung zu konkreten Dauerinteressen in einem kulturellen Überbau von Institutionen bedürfen, damit die Erfüllung schon des biologischen Zweckes, so im Falle der Sexualität etwa die Fortpflanzung, sichergestellt ist.
Von dem in seiner Auslösung, seinem Ablauf und seinem Gattungszweck instinktgesicherten Sexualverhalten der Tiere, wie es vor allem KONRAD LORENZ in seinen tierpsychologischen Untersuchungen geklärt hat, unterscheidet sich die biologische Situation der menschlichen Geschlechtlichkeit in zwei wesentlichen Merkmalen, die zugleich die Grundlage ihrer sozialen Formung ausmachen: in einer weitgehenden Instinktreduktion, die mit der Bildung eines sexuellen Antriebsüberschusses Hand in Hand geht, und in der Ablösbarkeit des sinnlichen Lustgefühls vom biologischen Gattungszweck, womit die Lust als ein neuer Zweck des Sexualverhaltens unmittelbar intendierbar wird.
Eine der entscheidenden Abweichungen des menschlichen vom tierischen Geschlechtsleben besteht im Fehlen des jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe (Brunstzeiten). Infolge der Daueraktualität des menschlichen Geschlechtstriebes, verbunden mit seiner Hypertrophierung unter einigermaßen günstigen Umweltbedingungen, entsteht ein sexueller Antriebsüberschuß, der nur in den seltensten Fällen in rein sexuellen Verhaltensweisen unterzubringen ist. Dieser Erhöhung der sexuellen Triebenergien steht nun auf der anderen Seite ein Abbau der organischen Kontrollen und Sicherungen dieses Verhaltens im Sinne biologischer Zweckmäßigkeit gegenüber: der Mensch verfügt weder im Einsatz noch im Ablauf seines Sexualverhaltens über eindeutige Instinktmechanismen oder feste ‹angeborene Schemata› (LORENZ) der Reizauslösung; obwohl zweifellos in der menschlichen Sinneswahrnehmung einige Reste sexueller Instinktschemata auffindbar sind (sexuelle Düfte, spezifische Formen des weiblichen und männlichen Körpers u.a.), hat die allgemeine Instinktreduktion doch zu einer fast universalen Plastizität (GEHLEN) des menschlichen Sexualverhaltens geführt. In diesem Antriebsüberschuß und der Instinktungesichertheit des menschlichen Sexualverhaltens steckt also eine außerordentliche Gefährdung des biologischen Wesens Mensch, die man als eine Tendenz zur Pansexualität und, sofern alles Sexualverhalten wesentlich auf Kommunikation zwischen mehreren Individuen zielt, als einen Zug zur ungeregelten Promiskuität bestimmen kann. (Die ältere Soziologie hat nie erkannt, daß die Vorstellung einer ungeregelten geschlechtlichen Promiskuität einen vorkulturellen Tatbestand, allenfalls einen Zustand des biologischen Verfalls des Kulturwesens Mensch meint und daher als Begriff einer Sozialform der menschlichen Geschlechtsbeziehungen in einer Kulturwissenschaft von vornherein illegitim ist.)
In dieser biologischen Gefährdung des menschlichen Trieblebens liegt nun aber zugleich seine kulturelle Chance: indem der Mensch dem Zwang der Umweltgebundenheit und der Instinktstarre entronnen ist, kann und muß er über seine Antriebe in bewußten Handlungen verfügen; daß das menschliche Triebleben auf kulturelle Führung und Regelung angewiesen ist, stellt die Grundeinsicht dar, die die neuere deutsche philosophische Anthropologie (MAX SCHELER, HELMUTH PLESSNER, ARNOLD GEHLEN) herausgearbeitet hat und die von der Humanbiologie heute als Grundlage angenommen ist (vgl. z.B. ADOLF PORTMANN, OTTO STORCH u.a.). Dieser Notwendigkeit der kulturellen Führung unterliegen insbesondere alle menschlichen Triebenergien, die auf ein Handeln unter mehreren Individuen zielen: die kulturelle Überformung der sexuellen Antriebe gehört sicherlich ebenso zu den ursprünglichen Kulturleistungen und Existenzerfordernissen des Menschen wie Werkzeug und Sprache, ja, es spricht nichts dagegen, in dieser Regelung der Geschlechts- und Fortpflanzungsbeziehungen des Menschen die primäre Sozialform alles menschlichen Verhaltens zu erblicken.
Die Leistungen des kulturellen Überbaus von Sozialformen gegenüber der geschilderten sexuellen Antriebsstruktur des Menschen gehen in zweierlei Richtungen: zunächst bedeutet die soziale Regelung der Geschlechtsbeziehungen eine Kontrolle und Zucht zur biologischen Zweckmäßigkeit, insofern das biologisch ungesicherte Sexualverhalten durch soziale Einschränkungen auf Dauerinteressen und Selektivität der Sexualziele eingestellt wird; ‹culture channels biological process› (CLYDE KLUCKHOHN). Dabei erweist sich die instinktschematisch ungesicherte Plastizität menschlicher Sexualbedürfnisse gerade als eine Chance zur Ausbildung einer höheren Selektivität der Sexualziele, die über den bloßen Gattungszweck hinausführt und die Einfügung von seelischen, kulturellen oder sozialen Differenzierungen in die sexuelle Antriebssphäre ermöglicht. Weiterhin bewirkt der kulturelle Überbau die Ablenkung der im Geschlechtsverhalten nicht unterzubringenden Energien auf nichtsexuelle oder pseudosexuelle Ziele. Indem sich aus den sozialen Institutionen, die das Triebleben regeln, institutionseigene Bedürfnisse entwickeln, die aber in ihrer Energiezufuhr auf sexuelle und andere primär biologische Triebquellen angewiesen sind, pendeln diese Institutionen in ihrer Entwicklung ständig in der Waage zwischen Ent- und Resexualisierung. Dies sowie die Tatsache, daß in den Formen dieses kulturellen Überbaus stets andere als sexuelle Grundantriebe zugleich mit aufgenommen und geregelt sind, macht die Analyse sozialer Gebilde in ihrer Beziehung zur Sexualität so außergewöhnlich schwierig.
Eine weitere Grundlage für die kulturelle Formung des sexuellen Verhaltens müssen wir darin sehen, daß die Lustempfindung des Triebverhaltens beim Menschen vom Gattungszweck ablösbar ist und zum eigenständigen Motiv bewußter Handlungen zu werden vermag. Indem die Sinneswahrnehmung des Menschen ihre organische Verwurzelung in bestimmten umweltgebundenen Funktionskreisen löst, gewinnt sie zugleich die Verfügbarkeit über das alles tierische Triebverhalten nur begleitende Lustgefühl, das jetzt, enthoben der biologischen Zweckmäßigkeit, zum Ziel dieses Verhaltens selbst werden kann. Diese Akzentuierung des Genusses hat O. STORCH (16, S. 23f.) für die Funktion der menschlichen Ernährung als Grundlage der menschlichen ‹Kochkultur› nachgewiesen: indem sich die Geschmacksqualitäten von der Funktion der bloßen Nahrungsaufnahme freisetzen lassen und um ihrer selbst willen erstrebt werden können, schaffen sie erst den eigentümlichen menschlichen Anreiz, Geschmacks- und Genußbedürfnisse um ihrer selbst willen zu verfolgen und diese daher als hohe kulturelle Differenzierung in die Formen der Nahrungsaufnahme einzubauen. So gehört das reine Genußmittel von vornherein ebenso zu den Wesenseigentümlichkeiten des Menschen wie die Verfolgung der bloßen geschlechtlichen Lust um ihrer selbst willen. Die primäre biologische Funktionslosigkeit dieser beiden autonomen Genuß- oder Lusttendenzen bedingt dann auch die in beiden angelegte Steigerung in den Rausch als eine nur vom Menschen anzustrebende Befindlichkeit. Von dieser Verselbständigung des Genusses her gesehen wird das menschliche Sexualverhalten mit Recht als Sinnlichkeit schlechthin bezeichnet. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß fast alle menschlichen Sinnesorgane im Dienst der Sexualität stehen und so – trotz der Verdichtung sexueller Lustempfindungen in den primär sexuellen Zonen des Leibes – die gesamte Leiblichkeit dem Menschen als Organ dieses Lustgewinnes zur Verfügung steht. Dieser realisiert sich nun in den sehr verschiedenen Abstufungen und Distanzverhältnissen leiblicher Sinneskommunikation zwischen den Individuen, zugleich aber als leibliches Selbstgefühl des Einzelnen im Hinblick auf dieses Kommunikationserlebnis.
Dieses im interindividuellen Kontakt auftretende, von der Bindung an einen biologischen Gattungszweck befreite leibliche Luststreben bildet als Bereich der Erotik eine stets vorhandene Schicht des menschlichen Sexualverhaltens, die ihrerseits nun genau so der sozialen Formung und Institutionalisierung unterliegt wie die primären Geschlechtsbeziehungen. Da dieser universal-leibliche Lustgewinn keineswegs an den Geschlechtsakt gebunden ist, sondern in jeder noch unmittelbar sinneshaften menschlichen Kommunikation erlebbar ist, besteht praktisch für alle sozialen Gebilde und Verhaltensformen, in denen die Menschen in leiblicher Gegenwart miteinander verkehren, die Möglichkeit der Erotisierung dieser Beziehungen. Eine Soziologie der Erotik sieht sich also von vornherein vor der Aufgabe, nicht nur die Anwesenheit erotischer Triebmomente in den...