21II. Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus*
Klaus Dörre
[…] Ich arbeite in einem großen Unternehmen als Zeitarbeiter und gehöre damit nicht zum Kernpersonal. Eingestellt wird sowieso nicht mehr. […] Überall nur Zeitarbeit. Diese Form des Kapitalismus hat nun freie Bahn, leider. […] Nachdem 2004 die Gesetze für Zeitarbeit von der Bundesregierung gelockert wurden […], wird nur noch über Zeitarbeit hier beschäftigt. Von der Sekretärin bis zum Administrator, das ist das Einzige, was boomt. Eingestellt wird über sogenannte BZA-Tarifverträge, die aber viel niedriger sind als ein normaler Lohn eines Angestellten. Die Verpflichtung, einen ähnlichen Lohn zu zahlen wie der von Festangestellten, besteht also nicht mehr bzw. wird so umgangen. […] Ich bekomme im Vergleich zu meinem Kollegen ein Drittel weniger Lohn, fünf Tage weniger Urlaub, keine Boni, halb so hohe Zuschläge, keine Essenszuschläge, keine Altersvorsorge, keine Betriebsrente, keine Lohnerhöhungen, keinen Parkplatz und darf nicht an firmeninternen Feiern […] teilnehmen – und das bei teilweise besserer Qualifikation. Von der psychischen Belastung will ich gar nicht sprechen, diese ist furchtbar, denn man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Man hat ja auch allen Grund dazu. Wohin soll diese Entwicklung denn noch führen? Welchen Ausweg sollte ich denn finden? Was raten Sie mir? Ich bin mittlerweile sehr, sehr ratlos. […]
Der zitierte Auszug aus der elektronischen Post eines Leiharbeiters beinhaltet eine Klage, wie sie in der Arbeitswelt alltäglich geworden ist. Offenbart wird nicht physische Not, nicht Verelendung in einem absoluten Sinne, und doch sind die geschilderten Erfahrungen existenziell. Vordergründig betrachtet hat der Betroffene alles richtig gemacht. Beruflich in einer modernen Leitbranche, der IT-Industrie, beschäftigt, hat er sich weitergebildet, um schließlich festzustellen, dass trotz Abitur kein Weg zurück in die Stammbelegschaft führt. Schmerzhafte Diskriminierungen und Ratlosigkeit sind alles, was bleibt.
22Wie kann, wie soll ein Soziologe auf solche Klagen reagieren? Natürlich besteht an einem wissenschaftlichen Instrumentarium, das sich billigem Mitleid verweigert, kein Mangel. Man könnte den fragenden Leiharbeiter darüber informieren, dass er zum Opfer einer riskanten Entscheidung geworden ist – persönlich ärgerlich, in einer individualisierten Moderne aber immer auch selbst gewähltes Schicksal vieler. Man könnte ihn, hermeneutisch geschult, mit der Nase darauf stoßen, dass er sich mittels des Sündenbocks Kapitalismus selbst von Verantwortung entlastet, statt entschlossen ein Studium zu absolvieren, um so die statistisch nachweisbare Bildungschance zu nutzen. Von systemtheoretisch bewanderten Beobachtern würde der E-Mail-Schreiber vielleicht mit dem Umstand konfrontiert, dass seine Klage allenfalls ein Rauschen im System verursacht, in dessen Substrukturen er dennoch unweigerlich inkludiert bleibt. Man könnte aber auch etwas Überraschendes tun: den Zeitarbeiter ernst nehmen und eine Spur verfolgen, die er in seiner elektronischen Post selbst legt. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der prekären Lebenssituation eines Einzelnen und einer besonderen Variante des Kapitalismus? Wie lässt sich dieser Kapitalismus kritisieren und verändern? Welche Alternativen gibt es?
Nachfolgendem Versuch, einem fragenden Zeitarbeiter zu antworten, liegt die These zugrunde, dass sich seit den 1970er Jahren Konturen einer neuen kapitalistischen Formation herausgebildet haben, die hier – vorläufig – als Finanzmarktkapitalismus bezeichnet wird. Ein Grundmerkmal dieser fragilen Formation ist, dass sie marktbegrenzende Institutionen zum Objekt einer neuen Landnahme macht. Dieser Prozess erzeugt inzwischen dramatische Krisen. Grenzen der finanzgetriebenen Landnahme werden sichtbar und lassen Spielräume für Veränderungen entstehen. Um diese Sichtweise zu begründen, soll zunächst (1.) die sozioökonomische Kernstruktur des Kapitalismus beleuchtet werden. Anschließend (2.) wird das Konzept der Landnahme eingeführt. Sodann sind die markanten Züge des Finanzmarktkapitalismus (3.) sowie dessen Krisen (4.) Thema. Abschließend geht es um die Frage, wie alltägliche Klagen in eine zeitgemäße soziologische Kapitalismuskritik übersetzt werden können (5.).
231. Was ist Kapitalismus?
Wer nach der sozioökonomischen Kernstruktur des Kapitalismus fragt, wird häufig auf die Vergesellschaftung durch Märkte verwiesen. Für den, verkürzt als neoliberal bezeichneten, ökonomischen Mainstream ist der ideale Kapitalismus identisch mit einer Marktgesellschaft, die durch einen schlanken Staat reguliert und zusätzlich allenfalls von einer sittlichen Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder zusammengehalten wird. Zahlreiche Zeitdiagnosen, in denen der Übergang zu einer neuen kapitalistischen Formation als »Ökonomisierung des Sozialen«, als »Vermarktlichung« oder gar als »Markttotalitarismus« verhandelt wird,[1] knüpfen – zwar kritisch, aber eben doch – an dieses Leitbild an. Gleich, ob affin oder gegenhegemonial, ein Problem solcher Paradigmen ist, dass sie den Kapitalismus zu sehr mit der Verallgemeinerung von Warenform und Wettbewerb identifizieren. Wie sich zeigen wird, genügen jedoch weder das Postulat noch die Kritik des »reinen« Wettbewerbskapitalismus für ein Verständnis der neuen Gesellschaftsformation. Daher sei zunächst klargestellt, was Kapitalismus nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich ist.
Das marktorthodoxe Paradigma …
Grundlegend für das wirtschaftsliberale Denksystem und dessen methodologischen Individualismus ist die »Forderung nach einer strengen Begrenzung jedweder Zwangs- und Ausschließungsgewalt«.[2] Freiheit wird primär als Abwesenheit von Zwang und Regulierung definiert. Marktbeziehungen, die auf dem Streben nach Eigennutz beruhen und den Marktteilnehmern größtmögliche Entscheidungsspielräume lassen, gelten als Idealfall freier Interaktion. Dementsprechend betrachtet die zeitgenössische Marktorthodoxie den entfalteten Wettbewerbskapitalismus als Voraussetzung für po24litische Freiheit. In diesem idealen Kapitalismus ist das Gewinnstreben zentrales Motiv des Wirtschaftshandelns. Alles, was dieses Motiv schwächt, muss folgerichtig zu Verzerrungen des Wettbewerbs und damit zu gesellschaftlichen Deformationen führen. Das Ideal eines Unternehmers mit sozialer Verantwortung stellt, so jedenfalls Milton Friedman, eine besonders problematische Verzerrung dar.[3]
Allerdings, so muss hinzugefügt werden, ist das marktorthodoxe Paradigma in sich vielgestaltig: es umfasst unterschiedliche Schulen und Denksysteme.[4] Selbst seine radikalsten Verfechter geben vor, aus dem Scheitern des Laissez-faire gelernt zu haben, und erkennen Grenzen der Marktkoordination an. Nicht nur für Ordoliberale, auch für Anhänger der Chicago School sind Staat und Regierung wichtig als »Forum, das die ›Spielregeln‹ bestimmt«, aber auch als »Schiedsrichter, der über die Regeln wacht und sagt, ob sie richtig ausgelegt wurden«.[5] Dementsprechend richtet sich die Marktorthodoxie nicht generell gegen gesellschaftliche Assoziationen und Organisationen. Sie pocht aber auf das Prinzip der Vertragsfreiheit, das für jede Spielart von Organisationen Bestand haben müsse. Ihre Gegnerschaft richtet sich »nur gegen die Anwendung von Zwang bei der Bildung einer Organisation oder Gesellschaft, nicht gegen die Gesellschaftsbildung als solche«.[6] Da der Arbeitsmarkt nach dieser paradigmatischen Setzung ein Markt wie jeder andere ist, wird die Vertragsfreiheit auch und gerade gegenüber den Organisationen der lohnabhängigen Bevölkerung eingeklagt.
Vorausgesetzt wird ein Markt, der Ungleichheiten und Machtasymmetrien nicht beseitigt, sondern optimal nutzt. Ungleichheit an sich gilt als »höchst erfreulich«,[7] weil sie die Leistungsbe25reitschaft der Individuen fördert. Sieht man von unabdingbaren Staatseingriffen ab, funktioniert das Marktgeschehen auch für die moderne Marktorthodoxie nach dem Prinzip des »survival of the fittest«. Ihre Majestät die ökonomische Effizienz entscheidet, und nur die Stärksten überleben! Gewiss gibt es Spielregeln, an die sich Tauschpartner zu halten haben. Doch diese Regeln müssen nur aus einem Grund akzeptiert werden: Nicht, weil sie gottgegeben oder vernünftig begründbar wären, sondern ausschließlich, weil sie sich durchgesetzt haben. Kapitalismus lässt sich demnach in die Formel »Markt plus funktionierender Wettbewerb plus Vertragsfreiheit gleich Effizienz (maximaler Warenausstoß zu möglichst niedrigen Preisen) übersetzen. Vor allem im Ordoliberalismus erhält die Formel allerdings einen Zusatz. Dieser besagt, dass Märkte einen handlungsfähigen Staat benötigen, der aber nur stark sein kann, wenn er sich auf wenige Kernfunktionen beschränkt. Die »große Leistung des Marktes« besteht dann darin, die Anzahl der Probleme zu reduzieren, die »mithilfe politischer Maßnahmen entschieden werden müssen«.[8] Werden Staat und Regierung zunächst als Wächter über die Spielregeln des Marktes eingeführt, ist es letztendlich doch wieder die Ökonomie, die über die Effizienz und Marktkompatibilität der Politik entscheidet.
Der Wirtschaftsliberalismus hält auch eine Antwort an unseren E-Mail-Schreiber parat. Nach Auffassung der Marktorthodoxie entsteht der Outsider-Status von Zeitarbeitern als Folge überregulierter Arbeitsmärkte. Während ein Teil der Beschäftigten wegen der Kartellmacht der Gewerkschaften über Marktniveau bezahlt...