Vorwort
Vielen Dank für Ihre Teilnahme an dieser klinischen Studie. Mag sein, dass Sie sich gar nicht erinnern können, Ihr Einverständnis gegeben zu haben, aber angemeldet wurden Sie im Dezember 2007, zu Beginn der Finanzkrise. Dieses Experiment beruhte nicht auf Regeln der informierten Einwilligung oder auf medizinischen Sicherheitsstandards. Ihre Behandlung wurde nicht von Ärzten und Krankenschwestern durchgeführt, sondern von Politikern, Ökonomen und Finanzministern.
Im Verlauf dieser Studie wurden Sie, genau wie Milliarden Ihrer Mitmenschen auf der ganzen Welt, einer von zwei Versuchsgruppen zugeteilt. Der einen Gruppe wurden Sparmaßnahmen verordnet, während die anderen mit Konjunkturprogrammen behandelt wurden. Sparmaßnahmen sind eine Medizin, die Symptome wie Schulden und Defizite lindern und Abhilfe gegen Rezessionen schaffen soll. Zu diesem Zweck wurden die Staatsausgaben für Gesundheit, Arbeitslose und Wohnen gekürzt. Die potentiellen Nebenwirkungen waren noch weitgehend unklar, als mit der Studie begonnen wurde.
Zu Anfang des Experiments war Ihre Prognose düster und unsicher. Das Platzen der Immobilienblase in den USA hatte 2007 Volkswirtschaften auf der ganzen Welt in Mitleidenschaft gezogen. Einige Politiker, wie der britische Premier David Cameron, beschlossen zu sparen, um ihr Haushaltsdefizit zu senken. Anderen europäischen Ländern, wie Griechenland, Spanien und Italien, wurde der experimentelle Sparkurs vom Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank aufgezwungen, mit der Auflage, bei Sozialprogrammen Milliarden von Euro einzusparen. Falls Sie zur Versuchsgruppe gehört haben, der Sparprogramme verabreicht wurden, dürfte sich Ihr Leben ziemlich gravierend verändert haben.
Andere Politiker entschieden sich dagegen für Investitionen in Gesundheits- und Sozialprogramme. Wenn Sie zur Versuchsgruppe gehört haben, der Konjunkturprogramme verabreicht wurden – sprich: falls Sie in Schweden, Island oder Dänemark leben –, so war Ihr Land von Rezession und Arbeitslosigkeit zwar massiv betroffen, blieb von Sparmaßnahmen jedoch weitgehend verschont. Sie haben in Ihrem Stadtviertel, bei den Warteschlangen im Krankenhaus, den Lebensmittelpreisen oder der Anzahl der Obdachlosen vermutlich kaum Veränderungen festgestellt.
Es war nicht das erste Mal, dass die Auswirkungen von Konjunktur- oder Sparprogrammen in einem großangelegten Experiment auf den Prüfstand gestellt wurden. Eines der umfangreichsten Experimente dieser Art fand vor 80 Jahren in den Vereinigten Staaten statt. Als Ausweg aus der »Großen Depression« beschloss der US-Kongress auf Vorschlag von Präsident Franklin D. Roosevelt ein ganzes Bündel von Programmen, den sogenannten »New Deal«. Auf diese Weise wurden Arbeitsplätze geschaffen und das soziale Netz gestärkt. Doch während viele Bundesstaaten den New Deal umsetzten, lehnten andere das Angebot Washingtons ab. Die Folgen stellten sich in beiden Gruppen sehr unterschiedlich dar: Wo der New Deal angenommen wurde, verbesserte sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung; in jenen Bundesstaaten, die sich verweigerten, dagegen nicht. Auch im postkommunistischen Russland und in Ostasien wurde vor zwanzig Jahren mit Sparprogrammen experimentiert – mit frappierend ähnlichen Ergebnissen.
All diese Experimente lieferten wichtige Bausteine, die sich zur zentralen Erkenntnis dieses Buches zusammenfügen: Es geht bei wirtschaftlichen Entscheidungen nicht nur um Wachstumsraten und Defizite. Es geht um Leben und Tod.
Dieses Buch handelt von Daten und von den Geschichten, die sich hinter diesen Daten verbergen. Wir, die Autoren, beschäftigen uns schon seit zehn Jahren mit der Frage, wie sich Wirtschaftskrisen – einschließlich der aktuellen weltweiten Finanzkrise – auf unsere Gesundheit auswirken. Unser Interesse an diesem Thema ist nicht nur akademischer, sondern auch persönlicher Natur.
Was es bedeutet, Geldsorgen zu haben, und welche Folgen für die Gesundheit damit einhergehen, haben wir beide am eigenen Leib erfahren. David Stuckler brach die Schule ab, um sich ganz seiner Leidenschaft zu widmen und in einer Band zu spielen. Da sich mit Musik nicht viel verdienen ließ (und die Band im Rückblick betrachtet auch nicht so wahnsinnig toll war), schlug er sich mit Jobs als Kellner und Hausmeister durch. Nachdem er von einem Tag auf den anderen entlassen worden war, konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen. Eine Zeitlang schlief er abwechselnd in einem Zelt, in seinem Auto oder bei Freunden auf dem Sofa. Als der Winter kam, wurde er krank. Er hatte schon seit seiner Kindheit unter Asthma gelitten, jetzt zog er sich zuerst eine Bronchitis und dann eine Lungenentzündung zu. Weil er arbeitslos war, hatte er keine Krankenversicherung, kein Geld und kein Dach über dem Kopf. Dank der Unterstützung seiner Familie kam er schließlich wieder auf die Beine, ging aufs College und studierte Gesundheitsökonomie und Statistik. Dabei lernte er, dass er kein Einzelfall war: Überall in den USA waren Menschen nur ein Monatsgehalt davon entfernt, obdachlos zu werden und genauso auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, wie er es gewesen war.
Auch Sanjay Basu erlebte schon in jungen Jahren, was es bedeutet, krank zu sein. Seine Mutter litt jahrelang an Kokzidioidomykose, einer Lungeninfektion, die auch als »Talfieber« bezeichnet wird. Um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, nahm sein Vater lange Arbeitswege in Kauf. Zeitweise wohnte die Familie geradezu im Krankenhaus. Jede Woche wurde Sauerstoff für das Beatmungsgerät geliefert. Sanjay Basu war gut in Mathematik, und als er sich am Massachusetts Institute of Technology einschrieb, entdeckte er die Mathematik von Leben und Tod: Wie Statistiken die Ursachen dafür nennen, wer am Leben bleibt und wer stirbt.
Kennengelernt haben wir uns im Rahmen unseres Masterstudiums der Medizin und der Epidemiologie. Uns verband das Bedürfnis, anderen zu helfen. Seitdem beschäftigen wir uns mit der Frage, wie sich sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Letztlich haben diese Maßnahmen nämlich einen größeren Einfluss darauf als irgendeine Pille, Operation oder Krankenversicherung. Gesund sein beginnt nicht in Krankenhäusern und Arztpraxen, sondern damit, wie und in welchem Stadtviertel wir wohnen, was wir essen, welche Luft wir atmen und wie sicher die Straßen in unserer Stadt sind. Einer der wichtigsten Faktoren für die Berechnung Ihrer Lebenserwartung ist Ihre Postleitzahl. Denn vieles, was zum Erhalt unserer Gesundheit beiträgt, hängt von unserem sozialen Umfeld ab.1
Alle Forschungsergebnisse zur Gesundheits- und Sozialpolitik, die wir in diesem Buch darlegen, sind von anderen Experten ausführlich überprüft und bestätigt worden. Erstklassige unabhängige Ökonomen, Epidemiologen, Ärzte und Statistiker haben unsere Daten, unsere Methoden und deren Darstellung kontrolliert. Neben zahlreichen eigenen Studien stützen wir uns auf neueste Forschungsergebnisse von Kollegen. Unsere eigenen Arbeiten wurden von angesehenen medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet, dem British Medical Journal und PLOS Medicine sowie von diversen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht.
Derlei Fachbeiträge sind für den Laien mitunter jedoch schwer nachvollziehbar. Daher haben wir in diesem Buch den Versuch unternommen, unsere Forschungsergebnisse möglichst allgemeinverständlich darzulegen. Unser Ziel ist, alle nötigen Informationen zur Verfügung zu stellen, damit in wirtschafts- und gesundheitspolitischen Fragen fundierte, demokratische Entscheidungen gefällt werden können. Außerdem möchten wir mit harten Fakten die Debatte über Sparprogramme voranbringen – eine Debatte, die bisher allzuoft von ideologischen Positionen bestimmt ist.
Die jüngste Finanzkrise hat heftige politische Debatten ausgelöst. Für die Verfechter von freien Märkten und Sparprogrammen hat der Schuldenabbau oberste Priorität – koste es, was es wolle. Viele Gegner sind dagegen der Ansicht, dass ein starkes soziales Sicherungsnetz aufrechterhalten werden muss, selbst wenn dadurch das Wirtschaftswachstum behindert werden könnte. Aus der Uneinigkeit über diese Grundprinzipien hat sich eine wahre Kakophonie lautstark und kämpferisch vorgetragener Standpunkte entwickelt. Was beiden Seiten entgangen ist: Der Widerspruch, der diese Debatte befeuert, ist nur ein scheinbarer.
Denn mit einer klugen politischen Strategie kann man das Wachstum ankurbeln, ohne Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Eine solche Strategie erfordert häufig, zunächst in Gesundheitsprogramme zu investieren. Richtig umgesetzt können diese Programme zusätzlich zu ihrem langfristigen Nutzen kurzfristig auch eine wachstumsfördernde Wirkung entfalten. Aus unseren Daten geht mit anderen Worten hervor, dass sich Gesundheitsförderung und Schuldenabbau nicht ausschließen. Um beides zu erreichen, muss man allerdings in die richtigen staatlichen Programme investieren.
Wenn sie herausfinden wollen, mit welchen Medikamenten und Behandlungsmethoden man den größten Erfolg...