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Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

Vollständige Ausgabe

AutorJohann Gottfried Seume
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl537 Seiten
ISBN9783849636203
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Der Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 beschreibt in neuer Weise die Eindrücke des Schriftstellers als Reiseerlebnis: subjektiv, eigenwillig, politisch, kritisch, alltagsnah.

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Leseprobe

Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802


 

 

Lieber Leser!

 

Voriges Jahr machte ich den Gang, den ich hier erzähle; und ich tue das, weil einige Männer von Beurteilung glaubten, es werde vielleicht vielen nicht unangenehm und manchen sogar nützlich sein. Vielleicht waren diese Männer der Meinung, ich würde es anders und besser machen; darüber kann ich, in der Sache, nur an meine eigene individuelle Überzeugung appellieren, so gern ich auch eingestehen will, daß sie hier und da Recht haben mögen, was die Form betrifft. Ich hoffe, Du bist mein Freund oder wirst es werden; und ist nicht das eine und wird nicht das andere, so bin ich so eigensinnig zu glauben, daß die Schuld nicht an mir liegt. Vielleicht erfährst Du hier wenig oder nichts Neues. Die Vernünftigen wissen das alles längst. Aber es wird meistens entweder gar nicht oder nur sehr leise gesagt und mir täuscht, es ist doch notwendig, daß es nun nach und nach laut und fest und deutlich gesagt werde, wenn wir nicht in Ewigkeit Milch trinken wollen. Bei dieser Kindernahrung möchte man uns gar zu gern beständig erhalten. Ohne starke Speise wird aber kein Mann im Einzelnen, werden keine Männer im Allgemeinen: das hält im Moralischen wie im Physischen. Es tut mir leid, wenn ich in den Ton der Anmaßlichkeit gefallen sein sollte. Aber es ist schwer, es ist sogar ohne Verrat der Sache unmöglich, bei gewissen Gegenständen die schöne Bescheidenheit zu halten. Ich überlasse das Gesagte der Prüfung und seiner Wirkung und bin zufrieden, daß ich das Wahre und Gute wollte.

 

Es ist eine sehr alte Bemerkung, daß fast jeder Schriftsteller in seinen Büchern nur sein Ich schreibt. Das kann nicht anders sein und soll wohl nicht anders sein, wenn sich nur jeder vorher in gutes Licht und reine Stimmung setzt. Ich bin mir bewußt, daß ich lieber das Gute sehe und mich darüber freue, als das Böse finde und darüber zürne aber die Freude bleibt still, und der Zorn wird laut.

 

In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geleugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausendmal wiederholt. Ich tadle dieses nicht, es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise für Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden und beginnen, die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurteil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bei den Tatsachen als Belege sein, damit alles soviel als möglich aktenmäßig würde. Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen.

 

Die Sache hat allerdings ihre Schwierigkeit. Wagt man sich an ein altes Vorurteil des Kultus, so ist man noch jetzt ein Gottloser; sondiert man etwas näher ein politisches und spricht über Malversation, so wird man stracks unter die unruhigen Köpfe gesetzt! und beides weiß man sodann sehr leicht mit Bösewicht synonym zu machen. Wer den Stempel hat, schlägt die Münze. Wer für sich noch etwas hofft und fürchtet, darf die Fühlhörner nicht aus seiner Schale hervorbringen. Man sollte nie sagen, die Fürsten oder ihre Minister sind schlecht, wie man es oft hört und liest; sondern hier handelt dieser Fürst ungerecht, widersprechend, grausam, und hier handelt dieser Minister als isolierter Plusmacher und Volkspeiniger. Dergleichen Personalitäten sind notwendige heilsame Wagstücke für die Menschheit, und wenn sie von allen Regierungen als Pasquill gebrandmarkt würden. Das Ganze besteht nur aus Personalitäten, guten und schlechten. Die Sklaven haben Tyrannen gemacht, der Blödsinn und der Eigennutz haben die Privilegien erschaffen, und Schwachheit und Leidenschaft verewigen beides. Sobald die Könige den Mut haben werden, sich zur allgemeinen Gerechtigkeit zu erheben, werden sie ihre eigene Sicherheit gründen und das Glück ihrer Völker durch Freiheit notwendig machen. Aber dazu gehört mehr, als Schlachten gewinnen. Bis dahin wird und muß es jedem rechtschaffenen Manne von Sinn und Entschlossenheit erlaubt sein, zu glauben und zu sagen, daß alter Sauerteig alter Sauerteig sei.

 

Man findet es vielleicht sonderbar, daß ein Mann, der zweimal gegen die Freiheit zu Felde zog, einen solchen Ton führt. Die Enträtselung wäre nicht schwer. Das Schicksal hat mich gestoßen. Ich bin nicht hartnäckig genug, meine eigene Meinung stürmisch gegen Millionen durchsetzen zu wollen, aber ich habe Selbständigkeit genug, sie vor Millionen und ihren Ersten und Letzten nicht zu verleugnen.

 

Einige Männer, deren Namen die Nation mit Achtung nennt, haben mich aufgefordert, etwas öffentlich über mein Leben und meine sukzessive Bildung zu sagen; ich kann mich aber nicht dazu entschließen. In meiner Jugend war es der Kampf eines jungen Menschen mit seinen Umständen und seinen Inkonsequenzen; als ich Mann ward, waren meine Verflechtungen zuweilen so sonderbarer Art, daß ich nicht immer ihre Erinnerung mit Vergnügen zurückrufe. Wer sagt gern, ich war ein Tor, um durch ein Beispiel einige längst bekannte Wahrheiten vielleicht etwas eindringlicher zu machen? Da ich als junger Mensch von achtzehn Jahren, als theologischer Pflegling, von der Akademie in die Welt hineinlief, fand man bei Untersuchung, daß ich keinen Schulfreund erstochen, kein Mädchen in den Klagestand gesetzt und keine Schulden hinterlassen, daß ich sogar die wenigen Taler Schulden den Tag vor der Verschwindung bezahlt hatte; und man konnte nun den Grund der Entfernung durchaus nicht entdecken und hielt mich für melancholisch verirrt und ließ mich sogar in dieser Voraussetzung so schonend als möglich zur Nachsuchung in öffentliche Blätter setzen. Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns. Ich überlasse den Philanthropen die Betrachtung über diesen Schluß, der eine sehr schlimme Meinung von der Sittlichkeit unserer Jugend verrät. Dem Psychologen wird das Rätsel erklärt sein, wenn ich ihm sagte, daß die Gesinnungen, die ich seitdem hier und da und in folgender Erzählung geäußert habe, schon damals alle lebendig in meiner Seele lagen, als ich mit neun Talern und dem Tacitus in der Tasche auf und davon ging. Was sollte ein Dorfpfarrer mit diesen Gärungen? Bei einem Kosmopoliten können sie, auf einem festen Grunde von Moralität, wohl noch etwas Gutes wirken. Der Sturm wird bei mir nie so hoch, daß er mich von der Base, auf welcher ich als vernünftiger, rechtlicher Mann stehen muß, herunterwürfe. Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung.

 

Man hat mich getadelt, daß ich unstet und flüchtig sei; man tat mir Unrecht. Die Umstände trieben mich, und es hielt mich keine höhere Pflicht. Daß ich einige Jahre über dem Druck von Klopstocks Oden und der Messiade saß, ist wohl nicht eines Flüchtlings Sache. Man wirft mir vor, daß ich kein Amt suche. Zu vielen Ämtern fühle ich mich untauglich, und es gehört zu meinen Grundsätzen, die sich nicht auf lächerlichen Stolz gründen, daß ich glaube, der Staat müsse Männer suchen für seine Ämter. Es ist mir also lieb, daß ich Ursache habe zu denken, es müssen in meinem Vaterlande dreißigtausend Geschicktere und Bessere sein als ich. Wäre ich Minister, ich würde höchstwahrscheinlich selten einem Manne ein Amt geben, der es suchte. Das werden viele für Grille halten; ich nicht. Wenn ich Isolierter nicht strenge nach meinen Grundsätzen handeln will, wer soll es sonst?«

 

Man hat es mißbilligt, daß ich den russischen Dienst verlassen habe. Ich kam durch Zufall hin und durch Zufall weg. Ich bin schlecht belohnt worden; das ist wahrscheinlich auch Zufall; und ich bin noch zu gesund an Leib und Seele, um mir darüber eine Suppe verderben zu lassen. In der wichtigsten Periode, der Krise mit Polen, habe ich in Grodno und Warschau die deutsche und französische diplomatische Korrespondenz zwischen dem General Igelström, Pototzky, Möllendorf und den andern preußischen und russischen Generälen besorgt, weil eben kein anderer Offizier im Hauptquartier war, der so viel mit der Feder arbeiten konnte. – »Sie sind noch nicht verpflichtet«, sagte Igelström zu mir, als er mir den ersten Brief von Möllendorf gab. »Sie haben nicht geschworen.« – »Der ehrliche Mann«, antwortete ich, »kennt und tut seine Pflicht ohne Eid, und der Schurke wird dadurch nicht gehalten.« – Man hat den alten Stabsoffizieren Dinge von großer Bedeutung abgenommen und sie mir übergeben, als Möllendorf noch die Piliza zur Grenze forderte, und als man nachher russisch die Dietienen in Polen nach ganz eigenen Regeln ordnete und leitete. Igelström, Friesel und ich waren einige Zeit die einzigen, die von dem ganzen Plane unterrichtet waren. Ich habe gearbeitet Tag und Nacht, bis zur letzten Stunde, als der erste Kanonenschuß unter meinem Fenster fiel; und mir deucht, daß ich denn auch als Soldat meine Schuldigkeit nicht versäumte, wenn ich gleich während des langen Feuers kartätschensicher zuweilen in einer Mauernische neben den Grenadieren saß und in meinem Taschenhomer blätterte. Zu den russischen Arbeiten hatte der General Dutzende; zu den deutschen und französischen, die der Lage der Sachen nach nicht unwichtig sein konnten, niemand als mich; das wird Igelström selbst,...

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