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E-Book

Speisende soll man nicht aufhalten

Eine Deutschlandreise über den Tellerrand hinaus

AutorPatrik Stäbler
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783644494619
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Eine unterhaltsame Verbindung von Koch- und Reiseliteratur Was ist Dibbelabbes? Was verbirgt sich hinter Teichelmauke? Welche Zutaten gehören in Frankfurter Grüne Soße? Während er Indisches Curry im Schlaf zubereiten kann, ist die Küche Deutschlands für Patrik Stäbler ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb macht er sich per Anhalter auf, um in allen 16 Bundesländern traditionelle Gerichte zu finden. Von ihnen und den interessanten Menschen, denen er begegnet, erzählt er in diesem kulinarischen Reiseführer durch unsere Heimat.

Patrik Stäbler, geboren 1980, hat in München und Detroit Kommunikationswissenschaften studiert. Nach einer Reise um die Welt und einem Volontariat in der Provinz kehrte er zurück in die provinziellste aller Weltstädte - nach München. Dort lebt Stäbler heute als Journalist und Autor.

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Leseprobe

Thüringen

Im Reich des Mutzbratenkönigs


«Die acht Schätze des Shaolin». Verwundert kneife ich die Augen zusammen. Steht das tatsächlich dort an der Fassade? Oder ist es nur eine Halluzination kurz vor dem Nervenzusammenbruch? Überraschen würde es mich nicht, denn hinter mir liegen die grausamsten fünf Stunden meines Anhalterlebens.

«Jungbrunnen». «Wüstenblume». Was haben solche Wörter an einer Gebäudewand im oberfränkischen Niemandsland verloren? «Venezianische Rose». «Kirschenmichel». Ratlos stehe ich an der Autobahnauffahrt Scheßlitz unweit von Bamberg und starre auf den Fabrikbau auf der anderen Straßenseite – und die mysteriösen Begriffe. Da entdecke ich ein Logo, darunter die Aufschrift «Taste the Tea» – und plötzlich geht ein Licht auf in meinem sonnenverbrannten Kopf: Das Gebäude beherbergt eine Teefabrik, und die Kirschenmichels, Venedigrosen und Shaolinschätze sind Namen von Teesorten.

Ob es wohl einen Beruf für so etwas gibt? «Grüß Gott, ich bin Frank Huber, Teesortennamenerfinder.» Und wie Frank Huber in seinem Teesortennamenerfinderbüro auf solche Kreationen kommt? «Ich nenne ihn Grüntee», murmelt Frank Huber und lehnt sich im Schreibtischstuhl zurück. «Nein: Asiatischer Grüntee, er kommt schließlich aus China oder irgendwo da aus der Ecke. Stopp: Schatz aus Asien – das klingt edler und geheimnisvoller. Oder noch besser: Acht Schätze aus Asien. Wir wollen ja nicht knausrig sein.» Frank Huber nickt zufrieden, nippt an seiner Tasse und zuckt zusammen. «Halt! Stopp! Ich hab’s! Die acht Schätze des Shaolin! Klingt asiatisch, beruhigend und erhaben. Mit einem Hauch Exzentrik und einer Prise Verwegenheit. Perfekt!»

Vor meinem geistigen Auge tauchen weitere Teenamen auf – «Herkuleskraft des Minzblättchens», «Ritter des Rooibosstrauchs» oder «Ali Baba und die 40 Heilkräuter» –, da biegt plötzlich ein Auto um die Ecke. Geistesgegenwärtig reiße ich die Hand aus der Hosentasche, setze einen verzweifelten Gesichtsausdruck auf und recke den Daumen in die Luft. Vergeblich: Der Kombi prescht vorbei und biegt auf die Autobahn ein.

Enttäuscht lasse ich meinen Arm sinken und blicke auf die geschwungenen Buchstaben der «Venezianischen Rose». Ob an diesem trostlosen Ort jemals ein Auto hält? Mich aus der Teehölle befreit und nach Thüringen mitnimmt? Keine 20 Kilometer habe ich heute per Anhalter zurückgelegt. Und das, obwohl ich vor fünf Stunden in Bamberg aufgebrochen bin – ausgerechnet jener Stadt, die mir so viel Spaß gemacht hat.

Dabei stand Bamberg ursprünglich gar nicht auf meinem Speiseplan. Doch zum einen erschien mir der Weg von Nürnberg bis nach Thüringen, dem nächsten Bundesland meiner Reise, etwas lang für einen noch ungeübten Anhalter. Und zum anderen hatte mir mein Couchsurfing-Gastgeber Markus eine Bamberger Spezialität empfohlen: das Rauchbier.

«Nach dem dritten schmeckt’s», pflegen Einheimische über ihr berühmtes Getränk zu sagen. Eine freundliche Umschreibung für: «Unser Rauchbier ist äußerst gewöhnungsbedürftig.» Tatsächlich fällt mir beim ersten Schluck im Bamberger Traditionswirtshaus Schlenkerla fast der Krug aus der Hand. Denn dieses dunkelbraune Gebräu hat mit Bier, so wie ich es kenne, wenig gemein. Vielmehr erinnert der Geschmack an flüssigen Schinken, was an dem Malz liegt, das vor dem Brauen über Holz geräuchert wird.

Nun mag das Bamberger Rauchbier wirklich nach dem dritten munden – allerdings nur, wenn man die drei Gläser binnen einer halben Stunde runterschüttet und so seine Geschmacksnerven betäubt. Trinkt man das Rauchbier aber in halbwegs vernünftigen Maßen, schmeckt es meines Erachtens kaum besser als Bananenweizen oder Berliner Weiße. Kurz gesagt: Vergessen wir’s.

Anders verhält es sich da mit einem Gericht, von dem ich bis dato noch nie gehört habe, das mir meine Bamberger Couchsurfing-Gastgeberin aber ans Herz legt: die Bamberger Zwiebel. Sie gilt als Traditionsgericht der fränkischen Stadt, deren Bewohner scherzhaft Zwiebeltreter genannt werden. Dennoch muss ich lange suchen, ehe ich das Gericht auf einer Speisekarte in der Innenstadt entdecke.

Fündig werde ich erst im Scheiners am Dom, wo ich eine tennisballgroße Gemüsezwiebel vorgesetzt bekomme. Sie ist gefüllt mit Hackfleisch, wird im Backofen geschmort und in einem See aus Biersoße mit Kartoffelpüree und gebratenem Speck serviert. Nun harmonieren Hackfleisch und Zwiebeln meinen Geschmacksnerven zufolge ohnehin so gut wie Bud Spencer und Terence Hill. Doch diese Bamberger Variante übertrifft meine Erwartungen sogar noch: Durch das lange Backen bleibt das Zwiebelaroma angenehm dezent und passt hervorragend zu dem deftig gewürzten Hackfleisch und der schweren Soße. Und auch wenn gebratener Speck auf den ersten Blick als Beilage irritiert: Seine salzige Note ist die ideale Ergänzung zu der Zwiebel, die ich binnen einer Viertelstunde restlos verputze. Erst danach widme ich mich meinem Getränk, einem ebenso dunklen wie köstlichen Bamberger Bier – rauchfrei, wie ich dankbar feststelle.

Auch jenseits der Zwiebel erweist sich Bamberg als fast schon schmerzhaft hübsche Stadt: Auf sieben Hügeln erbaut, verfügt das «fränkische Rom» über eine im Krieg nahezu unversehrt gebliebene Altstadt, in der sich mehr als 1200 Baudenkmäler drängen. Staunend wandere ich vom glanzvollen Dom hinunter zum Alten Rathaus, das auf einer künstlichen Insel inmitten des Flusses Regnitz thront – angeblich, weil der Bamberger Bischof den Bürgern kein Land für den Bau abtreten wollte.

Doch die Stadt bietet nicht nur Architekturfans, sondern auch Bierenthusiasten reichlich Stoff. Denn in Bamberg gibt es nicht weniger als acht Brauereien – mit teils vorzüglichen Kreationen. Und so wabert am nächsten Morgen, als ich in aller Frühe zur Weiterreise aufbreche, eine Bier-Zwiebel-Wolke hinter mir her. Am Stadtrand nahe der Auffahrt zur A70 beziehe ich meinen Posten an einer Bushaltestelle. Mein heutiges Ziel ist das 200 Kilometer entfernte Altenburg in Thüringen, das ich im besten Fall zur Mittagszeit erreichen könnte. Denke ich – und lag selten so daneben.

Denn obwohl mein Platz ideal zum Stoppen ist, obwohl ganze Wagenkolonnen vorbeiziehen und obwohl die Sonne strahlt, was die Autofahrerlaune heben sollte – trotz alldem warte ich lange vergeblich. Zwar hält ein halbes Dutzend Wagen, doch kein einziger ist in meine Richtung unterwegs. Wieder und wieder krame ich die Karte hervor, um mich zu überzeugen, dass es diese Autobahn wirklich gibt. Am Ende komme ich zu dem Schluss: Entweder halte ich einen Fehldruck in den Händen, oder jene A70 zwischen Bamberg und Bayreuth ist die am wenigsten befahrene Schnellstraße der Republik.

Nach 800 Autos und vier Stunden in der prallen Sonne reißt mein Geduldsfaden. Ohne nachzudenken, steige ich in den erstbesten Wagen, obwohl der Fahrer ankündigt, mich nur bis zur nächsten Ausfahrt mitnehmen zu wollen. Da kann es kaum schlimmer sein als hier, denke ich – mein zweiter grandioser Irrtum an diesem Tag. Denn dort erwartet mich die Anhalterhölle: eine kurze, enge Auffahrt, dahinter eine zweispurige Landstraße, auf der die Autos mit 70 Stundenkilometern dahinbrettern, rechts und links Leitplanken. Bedeutet: Für Tramper ist dieser Fleck so geeignet wie ein doppelter Espresso als Einschlafhilfe.

Nervös tigere ich die Landstraße hoch und runter – nirgendwo eine Einbuchtung, nirgendwo ein Parkplatz, ja nicht einmal eine Tankstelle gibt es, wo ich meine Laune mit Schokolade und irgendeinem Zuckerwasser aufhellen könnte. Und als wäre das nicht genug, brennt die Sonne vom Himmel. Unter dem Rucksack ist mein Hemd längst klitschnass.

In meiner Verzweiflung stapfe ich zurück zur Autobahnauffahrt, stelle mich auf den Grünstreifen vor die Ampel und spreche abbiegende Fahrer während der Rotphasen durchs Fenster an. Doch vergeblich: «Ich fahre nur bis zur nächsten Ausfahrt», «Das ist ein Firmenwagen», «Mein Mann hat mir verboten, Anhalter mitzunehmen», «Hau ab, du Penner!» – die Bandbreite an Ausflüchten ist erstaunlich. Krönender Höhepunkt ist eine Mutter, die mit dem Daumen über ihre Schulter zeigt: «Meine Tochter übergibt sich gerade. Wir müssen schnell weiter.» Und tatsächlich: Auf dem Rücksitz kauert ein bleiches Mädchen, das sich zitternd eine Plastiktüte vor den Mund hält.

Spätestens da ist auch mir zum Kotzen. Nach einer erniedrigenden halben Stunde verlasse ich den Grünstreifen und setze mich abgekämpft auf die Leitplanke. Immerhin könnte heute erstmals mein Zelt zum Einsatz kommen, das ich seit München mit mir herumschleppe, denke ich in einem Anflug von Sarkasmus.

Da höre ich plötzlich eine Stimme: «Steig ein. Ich habe dich schon vor einer Stunde hier stehen sehen. Ich fahre zwar nur bis zur nächsten Ausfahrt, aber vielleicht hast du da mehr Glück.»

Erstaunt blicke ich auf einen Lieferwagen, der unmittelbar neben mir angehalten hat, und den Fahrer, einen jungen Burschen im Blaumann mit schulterlangen Haaren. Im nächsten Moment sitze ich auf dem Beifahrersitz, und wir sind auf der Autobahn.

«Ich nehme Anhalter immer mit und trampe selbst viel», erzählt der Langhaarige in breitestem Fränkisch. «Aber leider werde ich nicht so oft mitgenommen.» Er dreht sich zu mir und lacht: «Ich sehe halt nicht so normal aus wie du.»

Etwas perplex suche ich nach einer Antwort, doch da wandert seine Hand auch schon zum Autoradio. Ich lehne mich dankbar zurück: lieber erholen statt...

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