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E-Book

Richard Wagner

AutorMartin Geck
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783644497115
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Richard Wagner und seinem Werk widerfahren bis heute unkritische Verehrung und schroffe Ablehnung. Einem Leben voller Brüche und verwirrender Episoden mit Frauen, Künstlern und Königen entspricht die Phantasmagorie eines Gesamtkunstwerks, das zwischen Maßlosigkeit und Askese, Sinnlichkeit und Gedankentiefe, Revolution und Regression changiert. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Martin Geck, 1936-2019, studierte Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie in Münster, Berlin und Kiel. 1962 Dr. phil., 1966 Gründungsredakteur der Richard-Wagner-Gesamtausgabe, 1970 Lektor in einem Schulbuchverlag, nachfolgend Autor zahlreicher Musiklehrwerke, 1974 Privatdozent, 1976 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der deutschen Musik im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Autor der Rowohlt-Monographien über Bach, Beethoven, Brahms, Mendelssohn Bartholdy, Wagner und die Bach-Söhne.

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Leseprobe

Von Paris nach Dresden: 1839–1849


Nicht nur als Schöpfer seiner musikalischen Dramen ist Wagner ein großer Illusionskünstler, sondern auch in der Inszenierung seiner Lebensbeschreibung. Süffisant heißt es in «Grove’s Dictionary of Music und Musicians», das Paris-Kapitel aus Mein Leben sei «einer der intelligentesten, leider jedoch auch einer der am stärksten verzerrten autobiographischen Bühneneffekte»[49].

In der Tat werden die Fakten in Mein Leben so lange wie in einem Kaleidoskop geschüttelt, bis das Bild eines aufrechten deutschen Künstlers erscheint, der den Trug des Pariser Musikbetriebs schnell durchschaut und lieber den Leidensweg eines verkannten Genies geht, als in ihm mitzumischen. Da gewinnen die deutschen Musikheiligen Bach, Mozart und Beethoven an ideeller Bedeutung, während die praktische Hilfe von Meyerbeer kleingeredet wird. Doch Wagner will möglichst vergessen machen, dass er in Paris nicht nur den zukunftsweisenden Holländer komponiert, sondern sich zugleich beim Establishment angebiedert hat.

Lässt sich dieses Beispiel verallgemeinern? Weder ist in Mein Leben alles Lug und Trug, noch kann man Wagner unterstellen, er wolle sich dort unbedingt von der besten Seite zeigen: Über die Jahre hinweg schildert er viele bedenkliche oder für ihn beschämende Szenen. Gleichwohl hat er den Roman seines Lebens geschrieben und – wie Goethe in «Dichtung und Wahrheit» – seine Entwicklung in das Bild einer Pyramide gefasst: dem Licht entgegen. So sollte es König Ludwig II. sehen, der sich Mein Leben gewünscht hatte, aber auch Cosima, der er diese bis 1864 reichenden Erinnerungen zwischen 1865 und 1880 diktiert hat.

Mein Leben hat seine Fortsetzung in stichwortartigen Annalen, die bis zum Jahr 1868 reichen, und danach in den Tagebüchern Cosimas, die ab 1869 über Wagners Reden, Tun und Lassen in größter Ausführlichkeit berichtet. Da diese Aufzeichnungen, die man heute auf 2596 engbedruckten Seiten studieren kann, vor allem für ihre Kinder aus der Verbindung mit Richard und in zweiter Linie für spätere Generationen bestimmt sind, darf man sie allerdings nicht wie ein beglaubigtes Protokoll lesen. Gleichwohl enthalten sie unersetzliche Informationen vor allem zu Wagners Anschauungen über Kunst und Gesellschaft.

Neben «Mein Leben» stellt Wagners Korrespondenz die wichtigste biographische Quelle dar. Das 1998 erschienene «Chronologische Verzeichnis der Briefe von Richard Wagner» zählt 8995 Nummern. Die Brief-Gesamtausgabe ist inzwischen bei Band 15 und im Jahr 1863 angelangt; insgesamt wird sie wenigstens 35 Bände umfassen. Höhepunkt der Korrespondenztätigkeit ist das Jahr 1872 mit 379 erhaltenen Briefen. Wagners Schrift zu lesen ist gottlob kein Problem, denn wer schrieb schöner als er? Doch Vorsicht: Vielleicht stammen manche späten Briefe von der Hand Cosimas.

Seriöse Forscher wollen heute eine Wagner-Biographie kaum mehr schreiben: Es gibt unendlich viel Material und zugleich wenig absolut verlässliches. Bei Licht betrachtet, ist das Material, das den Biographien von Beethoven, Brahms oder Bruckner zugrunde liegt, freilich nicht besser. Generell gilt: Wer über sich oder andere spricht, wählt aus, biegt gerade, deutet. Natürlich muss die Forschung von den zweifelsfrei überlieferten Dokumenten ausgehen; doch nicht von ungefähr wird die Geschichtsschreibung nach alter Tradition von Klio – einer Muse – verkörpert.

*

Paris, das Wagner sich zehn Jahre später in schutt gebrannt wünscht[50], ist für den sechsundzwanzigjährigen Jungdeutschen noch der Ort der Verheißung – politisch wie künstlerisch. In der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, wie Walter Benjamin sie ebenso emphatisch wie kritisch nennt, grassiert der auch von Franz Liszt begeistert begrüßte Saint-Simonismus, in der Deutung des Freundes Laube «Beginn des Socialismus im ausgedehntesten Sinn»[51]. Was ehedem das Königsberg eines Kant oder das Berlin eines Hegel war, ist im Kontext der Revolutionen von 1830 und 1832 und des Aufstandes der Lyoner Seidenweber von 1831 das Paris eines Saint-Simon, Lamennais und Proudhon. Deutsche Vorposten des Fortschritts gibt es dort auch: Börne, Heine, Ruge und Marx. Da will Wagner nicht beiseitestehen: Seine von der «Gazette musicale» gedruckte Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven lässt sich durchaus als Werbung für den Saint-Simonismus lesen.[52]

Als Komponist fesselt ihn natürlich vor allem die Musikstadt mit ihren vielen Opernhäusern, Orchestern und Karrieren. Er selbst bringt zunächst sein Liebesverbot ins Spiel: Noch von Deutschland aus hat er Eugène Scribe die Partitur zugesandt und Meyerbeer gebeten, das Libretto von einem geschickten Mann französisch bearbeiten zu lassen[53]. Erst wirft er seine Hoffnung auf das Théâtre de la Renaissance, danach auf das große Opernhaus. Wichtig sind Kontakte zu einflussreichen Sängern. So schreibt Wagner für Luigi Lablache, den Sänger des Orovist in Bellinis «Norma», eine Einlage-Arie WWV 52, für die Soireen anderer Sängerinnen und Sänger die Romanzen WWV 5358. Doch nichts will auf Anhieb gelingen.

So konzentriert Wagner in verzweifelter Situation alle Kräfte auf die Faust-Ouvertüre WWV 59. Zwar dient dieses Bekenntniswerk nicht nur der Selbstvergewisserung, wie es Mein Leben nahelegt, nimmt vielmehr in der Instrumentation offensichtlich auf den Pariser Geschmack Rücksicht. Auch ist es nicht unter dem Eindruck einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie entstanden, wie Wagner dies später gern gesehen hätte, sondern unter dem Einfluss von Hector Berlioz’ dramatischer Sinfonie «Roméo et Juliette».[54] Doch unverkennbar gibt es einen autobiographischen Kontext, den zu verstehen es kaum der später gefundenen Überschrift Der einsame Faust bedarf.

Alle Hoffnungen auf äußeren Erfolg gelten inzwischen dem Rienzi: Drei Akte sind noch zu komponieren – eine Arbeit, die bereits Ende des Jahres 1840 getan ist. Doch auch Rienzi ist in Paris nicht unterzubringen: Der große Zuschnitt, die üppige Ausstattung, das heroische Ballet von ausschweifendster Dimension[55], all das, was Wagner in Deutschland eigens für Paris und die Grand opéra konzipiert hat, erweist sich in der Realität als zu aufwendig und riskant. Wer den Komponisten darob bedauert, darf nicht vergessen, dass wenig später eine Berühmtheit wie Meyerbeer seinen «Propheten» über Jahre hinweg vorsorglich zurückhält – so lange, bis in Paris jene Premiere der Superlative gewährleistet ist, die Millionengewinne nach sich zieht. Übrigens ist Wagner damals von einer Aufführung der Meyerbeer’schen «Hugenotten» zwar sehr geblendet, jedoch nicht wirklich gepackt. Überhaupt will er in der großen Oper nicht über viermal gewesen sein.[56]

Den Holländer konzipiert Wagner als ‹einsamer Faust›, der jedwede Pracht meidet und stattdessen einen kargen Einakter mit einer einzigen Urszene entwirft. Die spielt an zwei Orten: auf dem Meer, das sich vor allem von seiner wilden Seite zeigt, und in einer Spinnstube, die auch nicht eben heimelig ist. Denn dort breitet Senta ihre Vision vom bleichen Seemann aus, der ruhelos über die Meere zieht und auf Erlösung durch ein Weib wartet, das ihm bis in den Tod die Treue hält. Mit Liebe hat das nicht viel zu tun, mehr mit der Unmöglichkeit, dass diese beiden im Leben zusammenkommen: der gleichermaßen von Größenwahn und Nichtswürdigkeitsphantasien Getriebene und die vom Helfersyndrom Befallene. Dass Wagners Interesse weniger den Figuren als dieser Konstellation gilt, zeigt sein Verhältnis zur Ballade der Senta: Ausgerechnet das Zugstück der Oper ist ihm in späteren Jahren problematisch erschienen, da zu viel die Person, zu wenig die Sache exponierend.

Mit dem Holländer-Sujet will Wagner den Franzosen als ein deutscher Künstler in der Tradition der Romantik erscheinen. Nicht von ungefähr stützt sich die Handlung auf die «Memorien des Herren von Schnabelewopski» von Heinrich Heine, einem Mitglied der deutschen Kolonie in Paris. Binnen zehn Tagen schreibt Wagner die Dichtung im Mai 1841 nieder, später in der sagenhaft kurzen Zeit von sechs Wochen den Gesamtentwurf der Komposition. Dazwischen liegt eine andere, höchst bezeichnende Tätigkeit: Im Kontext der Pariser Erstaufführung des «Freischütz» verfasst Wagner für die «Gazette Musicale» den Essay Le Freischütz, der das Pariser Publikum mit dem von ihm so geliebten Werk vertraut machen soll. Viel Hoffnung hat er nicht: Und doch! Versucht es, durch diese sonderbare Dunstatmosphäre [eurer großen Oper] hindurch unsern frischen Wälderduft einzuatmen.[57] «… Versucht es», so möchte man ergänzen, «um demnächst die frische Seeluft meines Holländers einatmen zu können!»

Man mag die Arroganz registrieren, die aus solchen Sätzen und mehr noch aus dem höhnischen Bericht spricht, den Wagner nach missglückter Aufführung an die «Dresdner Abendzeitung» sendet. Doch man sollte dann auch mit dem Holländer ein...

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