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E-Book

Giuseppe Verdi

AutorBarbara Meier
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl154 Seiten
ISBN9783644496910
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Giuseppe Verdis Opern überraschen immer wieder mit kühner Musik und ausführlichen Sterbeszenen. Dabei war ihr Schöpfer kein weltabgewandter Melancholiker, sondern ein hart arbeitender Komponist, der sich heftig an Zensoren, Opernimpresarios und Obrigkeiten rieb, aktiv am Freiheitskampf Italiens teilnahm und zum Gegenpol Richard Wagners wurde. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Barbara Meier, geb. 1938 in Magdeburg, Studium der Schulmusik in Köln, später der Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Münster, 1991 Promotion zum Dr. phil. Veröffentlichungen: «Geschichtliche Signaturen der Musik bei Mahler, Strauss und Schönberg» (1992), «Giuseppe Verdi» (rm 50593, 2000), «Franz Liszt» (rm 50633, 2008) und «Robert Schumann» (rm 50714, 2010).

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Leseprobe

Freiheitsträume


Vielleicht geschah es aus Selbstschutz, wenn Verdi Szenen seines Lebens erfand und sich hinter Masken verbarg. Manchmal aber schärft die zeitliche Distanz auch den Blick für das Vergangene, sodass die erfundene Existenz der Wahrheit näher ist als die korrekte Beschreibung. Wie aus dem Labyrinth der Erinnerungen spät noch einzelne deutliche Bilder auftauchten, lässt Verdis autobiographischer Bericht[12] erkennen. Er beschreibt darin eine Begegnung mit dem Impresario Merelli in der Galleria de Cristoforis, nach der sich sein Leben von Grund auf veränderte. Otto Nicolai hatte ein für ihn geschriebenes Libretto Soleras mit dem Titel «Nabucco» abgelehnt, weil er fand, dass «ein ewiges Wüten, Blutvergießen, Schimpfen, Schlagen und Morden kein Sujet» für ihn sei.[13] Wenngleich Merelli den verschmähten Text nun Verdi fast beiläufig in die Hand drückte, rührte er an das noch nicht überwundene Trauma. Auf der Straße überfiel mich eine unerklärliche Übelkeit, tiefste Niedergeschlagenheit, eine Beklemmung, die mir das Herz zusammenpresste. Ich ging nach Hause, und beinahe gewaltsam warf ich das Manuskript auf den Tisch, vor dem ich gerade stand. Im Fallen hatte sich das Buch von selbst geöffnet: Mein Blick heftete sich, ich weiß nicht, warum, auf die vor mir aufgeschlagene Seite, und jener Vers fiel mir ins Auge: «Va, pensiero, sull’ali dorate». (O64) «Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln» liest sich wie eine Metapher der Selbstbefreiung, die plötzlich möglich schien. Wenn Verdis Darstellung auch den Entstehungsprozess der Oper nicht wahrheitsgetreu wiedergibt, zeigt sie doch, dass der Eindruck dieser Verse entscheidend war. Als Verdi im Sujet, der Geschichte von der Unterdrückung eines ganzen Volks, seiner Gefangenschaft und endlich seiner Befreiung, die Erfahrung und die Träume seines eigenen Volkes wiederfand, wurde dieser Vers aus dem Sehnsuchtslied der Hebräer[14] Impuls für seine Oper Nabucco.[15]

Va, pensiero, singen die gefangenen Juden am nächtlichen Ufer des Euphrat. Wie träumend ruft der verhaltene, einstimmige Gesang Bilder der verlorenen Heimat in die Erinnerung. Dann aber, zu Beginn der zweiten Stanze (Arpa d’or), scheint der Chorgesang, plötzlich fortissimo, sechsstimmig und in neuer Tonart, gleichsam zu explodieren, als bräche lange Verschüttetes auf. In weiten Melodiebögen und wechselnden Rhythmen bildet sich die innere Bewegtheit ab, schwingt nach in einem lange ausklingenden Pianissimo-Akkord. Wie aber aus der Vorstellung einer künftigen Befreiung Kraft und Zuversicht erwachsen, zeigt die abschließende Szene Prophezeiung, deren Stretta, ein kämpferischer Marsch mit kraftvollen Synkopen, noch den Rhythmus des Gefangenenchors bewahrt, jener Melodie, in der Verdis Zeitgenossen eine Stimme fanden für die Gefühle des eigenen Volks, sodass sie ihnen zur Hymne des erwachenden Vaterlandes wurde, zum säkularisierten Gebet. Die großen Chorszenen wie diejenige zu Beginn sind es, die dem Werk seine besondere Prägung und seine Geschlossenheit geben. Männer- und Frauenstimmen in wechselnder Kombination und unterschiedlichem Satz verleihen gemeinschaftlichen Gefühlen Ausdruck, oft in nachdrücklicher Einstimmigkeit: Panik und Todesangst, Trauer und Heimweh, Hoffnung, Kampfbereitschaft und Freude. Wie kollektive Aggressivität indes auch erbarmungslos den Abweichler ausstößt, zeigt der Chor der Leviten im zweiten Teil (Il maledetto non ha fratelli), ein frühes Beispiel der typischen Staccatochöre Verdis, sotto voce gesungen, in dessen pfeilartig hervorgestoßenen synkopischen Gipfeltönen die Musik geradezu gestisch wird. Über seine traditionelle Funktion hinaus, Akte einzuleiten und zu beschließen und die Wirkung von Ensembles zu verstärken, wird der Chor als das Gewalt erleidende Volk zur «dramatis persona». Dass die rettende Aktion eigentlich von ihm ausgeht[16], zeigt sich deutlich, wenn Nabucco im vierten Teil die Melodie des Chors aufnimmt (Z.14ff.).

Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben.

Heinrich Heine: Reisebilder. Sämtliche Werke, Bd. 2, München 1969, S. 199

Nabucco und Abigail, die beiden herausragenden Einzelfiguren, vertreten diejenigen, die Gewalt ausüben. Die Macht hat sie gezeichnet und entstellt. Nabucco, König von Babylonien, gewohnt zu siegen, empfindet unverhohlene Lust an der Gewalt, wie sein mit wilder Freude gesungenes Presto zu erkennen gibt, mit dem das Finalensemble des ersten Teils eingeleitet wird. Wenn gerade er im Quartett des zweiten Finales derjenige ist, der die Melodie des lähmenden Entsetzens anstimmt, das die Anwesenden bei seiner Ankunft überfällt, dann zeigt dies ein zynisches Vergnügen an der Ohnmacht der anderen. Erst nachdem im zweiten Finale sein Absturz vorgeführt worden ist, erst im Schmerz, ja im Wahnsinn erscheint er menschlich (Oh! mia figlia!).

Abigails Ansprüche und Machtphantasien, entstanden aus dem Verlangen der Sklavin nach Identität, führen zu einer Zerrissenheit und Maßlosigkeit, die sich in nervösen Rhythmen und Riesenintervallen abbilden.

Virtuose Koloraturen in extremer Höhe, große Sprünge sowie schnelle Läufe demonstrieren Kälte, Aggressivität und Macht. Zwischen welche Extreme diese Figur gespannt ist, zeigt der Schluss, die Bitte der Sterbenden um Vergebung, die durch die Schlichtheit der Melodie, auch durch ein ostinates Cellomotiv und das klagende Englischhorn besondere Expressivität gewinnt. Für die Drastik und die Überdeutlichkeit, mit der Verdi seine Figuren noch zuweilen zeichnete, ist die Szene zwischen Nabucco und Abigail im dritten Teil aufschlussreich, in der ein übermütiges, geradezu freches Holzbläsermotiv Abigails Vorfreude auf einen Triumph illustriert, während der König um Erbarmen fleht.

Dass die Oper nicht mehr bloß für gebildete Hörer geschrieben wurde, erklärt solche gelegentliche Überdeutlichkeit, manches Plakative, auch den unbedenklichen Gebrauch von Theatereffekten. Der allgemeinen Verständlichkeit dienten zudem wiederkehrende Motive, Instrumentalfarben und Klangfolgen, die leicht erkannt und gedeutet werden konnten. Zu Verdis musikalischen Formeln gehören so konventionelle Gestaltungselemente wie der Schrecken signalisierende verminderte Septakkord, der gleich zu Beginn den Ruf Abigail markiert, chromatische Skalen zur Kennzeichnung des Schmerzes, punktierte Marcato-Rhythmen in kriegerischen Passagen, die Deklamation auf einer Tonstufe als Ausdruck der Drohung, weiterhin Erinnerungsmotive, wie sie in Nabuccos Träumen auftauchen, und arpeggierende Flöten als Klänge schon aus einer anderen Welt, die Nabuccos Gebet und den Gesang der sterbenden Abigail begleiten. Dass dem Komponisten trotz mancher Parallelen zu Rossinis «Moïse» die Befreiung von seinen Vorbildern gelang, deutet sich auch in der musikalischen Architektur an, die nicht mehr einzelne Nummern aneinanderreiht, in der die vier Teile vielmehr große, geschlossene Tableaus bilden. Patriotische Chöre und kämpferische Marschrhythmen kannte das Publikum natürlich aus Opern von Rossini, und Bellinis wilder Kriegerchor «Guerra, guerra» aus «Norma», dieses Hasslied gegen die römischen Besatzer, wurde überall nachgesungen, aber Chorszenen in derart vergrößerten Dimensionen wie in Nabucco feierte man enthusiastisch als etwas Neues. Mit welcher Vehemenz Verdi nach der Fertigstellung des Manuskripts im Herbst 1841 Merelli drängte, das Werk in der kommenden Karnevalssaison aufzuführen, obwohl der Spielplan der Scala bereits mit drei neuen Opern besetzt war, das lässt ahnen, wie viel für ihn von Nabucco abhing.

Dem Vergleich mit dem berühmten Bariton Giorgio Ronconi als Nabucco konnte Giuseppina Strepponi in der hochvirtuosen Rolle der Abigail nicht standhalten. Sie war damals sechsundzwanzig Jahre alt, hatte indes den Höhepunkt ihrer Karriere längst überschritten. Die erste Begegnung mit Verdi, nach der sie sich für die Aufführung des Oberto eingesetzt hatte, lag drei Jahre zurück. Um ihre Mutter und ihre Geschwister zu unterstützen, übernahm sie sogleich nach ihrem Studium am Mailänder Konservatorium ein Engagement nach dem anderen. Da sie über einen schönen, hohen Sopran verfügte, außerdem hübsch, intelligent und schauspielerisch begabt war, stellten sich frühe Erfolge ein. Trotz der stimmlichen Überstrapazierung, trotz ihrer angegriffenen Gesundheit und mehrerer Schwangerschaften war sie ständig aufgetreten, ohne sich Pausen zu gönnen, manchmal von Hustenanfällen attackiert, sodass ihre Stimme bald ruiniert war, was die Kritiker zuletzt ohne Schonung vermerkten. Entgegen allen Befürchtungen Verdis brachte sie es in Nabucco noch einmal fertig, obwohl Atembeschwerden sie plagten, acht Abende durchzustehen, für die 57 Aufführungen der folgenden Spielzeit hingegen musste die Rolle neu besetzt werden.

Nach der Premiere am 9. März 1842 war Verdi ein Star.[17] Plötzlich stand der scheue, junge Musiker aus der Provinz, der noch immer mit Giovanni Barezzi eine Wohnung teilte und nur bei ein paar Mailänder Musikern, bei Giuseppina Strepponi sowie bei Temistocle Solera, dem erfahrenen Librettisten und Komponisten, Unterstützung gefunden hatte, im Licht der Öffentlichkeit. Man verlangte Porträts von ihm, schwärmte für Hüte und Schals à la Verdi, auf den Straßen spielten die Drehorgeln seine...

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