Der «öffentliche» Beethoven
Von vornherein Anerkennung als freischaffender Komponist zu finden – das ist vor Beethoven noch niemandem gelungen. Will ein Musiker von seiner Profession leben, so hat er zwischen einer festbesoldeten Stelle, privater Lehrtätigkeit oder einer Laufbahn als Virtuose zu wählen. Zwar haben sich schon Haydn und Mozart größere Freiheit erkämpft – Ersterer jedoch erst als Pensionär, Letzterer ohne durchschlagenden Erfolg. Beethoven ist schon in jungen Jahren anerkannt, und trotz der unruhigen Zeiten verbreitet sich sein Ruhm früh über ganz Mitteleuropa. Es will etwas besagen, wenn ein Rezensent in der Leipziger «Allgemeinen Musikalischen Zeitung» bereits 1803 sein «schon lange gefasstes Urtheil» ausspricht, «dass Beethoven mit der Zeit eben die Revolution in der Musik bewürken kann, wie Mozart»[48].
Zunächst ist es der Klavierkomponist, welcher in der von Hugo Riemann als «musikalisch hoch kultiviert»[49] bezeichneten Wiener Gesellschaft den Ton angibt. Ein kleines, von dem Schüler Ferdinand Ries überliefertes Alltagsdrama, das sich um das Jahr 1803 abgespielt haben muss, wirft ein charakteristisches Licht auf die Situation. Beethoven spielt den Freunden Ries und Wenzel Krumpholtz erste Versionen des späteren Andante Favori WoO 57 vor. Ries begibt sich alsbald voller Begeisterung zum Fürsten Lichnowsky, um diesem die eben gehörte Musik aus dem Kopf möglichst getreu zu rekonstruieren. Der seinerseits entzückte Lichnowsky lässt sich von Ries Bruchstücke des Andante beibringen, um sie Beethoven am nächsten Tag anlässlich eines Besuches mit dem scherzhaften Kommentar vorzuspielen, «auch er habe etwas componirt, welches gar nicht schlecht sei»[50]. Beethoven ist aufgebracht und spielt Ries danach nie mehr etwas vor.
Im Falle ihrer Authentizität könnte die Anekdote belegen, wie unmittelbar und intensiv man sich in Beethovens Umgebung mit seiner Klaviermusik auseinandergesetzt hat, zugleich freilich ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis des Künstlers werfen: Wo es um sein Werk geht, versteht er auch gegenüber Freunden und selbst in kleinen Dingen keinen Spaß; er allein bestimmt das Schicksal seiner Kompositionen, und niemand darf hinter seinem Rücken mit ihnen hantieren. Mozart, sich seiner Person allzeit sicher, hätte vielleicht nur gelächelt. Beethoven, seine Identität vor allem über sein Werk herstellend, muss sich dessen in jedem Augenblick rigoros vergewissern. Dem entspricht der gleichfalls von Ries überlieferte Ausspruch angesichts eines unaufmerksamen und störenden Zuhörers: Für solche Schweine spiele ich nicht.[51]
Als Ries in einer Aufführung des Dritten Klavierkonzerts in c-Moll eine riskante Kadenz spielt, die vorzutragen ihm der Lehrer untersagt hatte, soll dieser vor Empörung zunächst «einen gewaltigen Ruck mit dem Stuhle» gemacht, dann aber, als die Kadenz gelingt, laut bravo geschrien und damit das Publikum elektrisiert haben.[52] Man sieht und hört, wer hier den Ton angibt.
Das weiß auch der berühmte Geigenvirtuose George Polgreen Bridgetower, welcher im Mai 1803 ein Konzert zu seinen Gunsten veranstaltet. Der schöne Mulatte, einstmals gefeiertes Wunderkind, will sich bei den Wienern mit einer Violinkomposition Beethovens einführen, muss freilich auf deren Vollendung quälend lange warten. Als der Komponist das später «Kreutzer-Sonate» genannte Opus 47 endlich fertiggestellt hat, ist es zu spät, um noch Stimmen auszuschreiben. So muss Bridgetower nach der originalen Handschrift extemporieren, während Beethoven selbst zum Teil sogar nur die Kompositionsskizze vor sich liegen hat.
Wie selbstverständlich Beethoven sich im Wiener Musikleben bewegt, dokumentiert ein Bridgetower in diesen Tagen übersandtes Billett: Kommen sie, mein Lieber B. heute um 12 Uhr zu graf deym d.i. dahin, wo wir vorgestern zusammen waren, sie wünschen vieleicht etwas so von ihnen spielen zu hören, das werden sie schon sehen, ich kann nicht eher als gegen halb 2 uhr hinkommen, und bis dahin freue ich mich im bloßen angedenken auf sie, sie heute zu sehen – ihr Freund Beethowen.
Die Kunst des Streichquartetts, von Haydn und Mozart im Wiener Musikleben auf hohem Niveau etabliert, erfährt dort durch Beethoven noch einmal einen Prestigegewinn. Als im Jahr 1808 der russische Gesandte Graf André Rasumowsky ein neues Schuppanzigh-Quartett protegiert, wird Beethoven, wie sich Ignaz Seyfried erinnert, «so zu sagen Hahn im Korbe; Alles was er componirte, wurde dort brühwarm aus der Pfanne durchprobirt»[53]. Letzteres gilt nicht zuletzt für die drei sogenannten Rasumowsky-Quartette op. 59 aus den Jahren 1805/06, die in ihrer Verbindung von Abstraktion und Leidenschaft einen neuen Höhepunkt in einem Genre darstellen, welches Goethe zu der Assoziation anregte, dass «vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten»[54].
Um sich als der Komponist des neuen Jahrhunderts zu etablieren und in diesem Sinne die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, bedarf es freilich vor allem sinfonischer Ehren. Vor diesem Erwartungshorizont gibt Beethoven am 2. April des Jahres 1800 «eine große Musikalische Akademie zu seinem Vortheile»; dass man ihm aus diesem Anlass das Burgtheater öffnet, darf als besonderer Gunstbeweis gewertet werden. Der Komponist gestaltet sein erstes öffentliches und allein verantwortetes Konzert in Wien symbolträchtig: Während das Publikum in solchen Veranstaltungen in der Regel mit buntgemischten Programmen und vielen Virtuosennummern umworben wird, beschränkt sich der noch nicht Dreißigjährige auf die drei Namen Haydn, Mozart und Beethoven. Im selben Augenblick, in dem die Mitwelt sich anschickt, die Wiener Komponisten-Trias zu Klassikern schlechthin zu adeln, stellt Beethoven sich gleichsam selbst an die Spitze einer solchen Initiative.
Immerhin darf der vor acht Jahren verstorbene, fast schon legendäre Mozart den Abend mit einer großen Sinfonie eröffnen; doch Lehrmeister Haydn, damals auf der Höhe seines Ruhms und von den Wienern hoch geehrt, ist nur mit zwei Gesangsnummern aus seiner «Schöpfung» vertreten, die der Öffentlichkeit freilich erst seit einem Jahr bekannt und deshalb von großer Aktualität ist. Im Mittelpunkt steht der veranstaltende Künstler selbst: Er fantasiert auf dem Klavier, führt das Septett op. 20 sowie sein Erstes Klavierkonzert auf und lässt zum krönenden Abschluss die Erste Sinfonie in C-Dur erklingen, deren Tonart wohl nicht von ungefähr diejenige von Mozarts letzter, der «Jupiter-Sinfonie» aufnimmt.
Der ersten eigenen Akademie lässt Beethoven im April 1803 eine weitere im Theater an der Wien folgen; diesmal steht neben dem Dritten Klavierkonzert in c-Moll und dem Oratorium Christus am Ölberge die Zweite Sinfonie auf dem Programm. Für die Erstaufführung der ein Jahr später abgeschlossenen Dritten Sinfonie, der Eroica, ist der traditionelle Rahmen einer Akademie nicht länger geeignet: Musikern, die für einen Abend ad hoc engagiert und bezahlt werden müssen, ist weder zuzumuten noch zuzutrauen, dass sie ein so schwieriges und aufwendiges Werk mit der notwendigen Konzentration proben, auch die Hörer dürften sich vermutlich überfordert fühlen.
Leichten Herzens überlässt Beethoven Proben und erste Aufführungen der durch Aushilfen verstärkten Privatkapelle des Fürsten Lobkowitz. Der preußische Prinz Louis Ferdinand, der sich das Werk im Herbst 1804 auf des Fürsten Sommersitz im böhmischen Raudnitz vortragen lässt, soll zwei Wiederholungen erbeten haben. Just solche Verhältnisse wünscht sich Beethoven: ein nimmermüdes Orchester sowie enthusiastische und zugleich sachverständige Zuhörer. Auch die ersten Wiener Aufführungen finden im halbprivaten Hauskonzert des Bankiers Würth beziehungsweise im Palais Lobkowitz statt; erst nachdem der Boden auf diese Weise bereitet ist, wagt Beethoven im April 1805 eine erste öffentliche Aufführung unter eigener Leitung im Theater an der Wien.
Das leichter eingängige Violinkonzert op. 61 erklingt im Dezember 1806 von vornherein in einer öffentlichen Akademie des Geigers Franz Clement, für den es auch komponiert ist. Indessen kann Beethoven auch weiterhin die Hilfe des Fürsten Lobkowitz in Anspruch nehmen. Im März 1807 organisiert dieser an Engagement für Beethoven kaum zu übertreffende Gönner in seinem Palais zwei Subskriptionskonzerte, in denen unter anderem das von Beethoven selbst vorgetragene Vierte Klavierkonzert, die Vierte Sinfonie und die Ouvertüre zum Trauerspiel Coriolan zum ersten Mal aufgeführt werden.
Eine eigene Akademie veranstaltet Beethoven wieder am 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien. Die Liste der an diesem vierstündigen Konzertabend erstmals vor einem öffentlichen Publikum aufgeführten Werke ist mehr als imponierend: Außer der schon über ein Jahrzehnt alten Szene und Arie Ah perfido! op. 65 erklingen die Fünfte Sinfonie, die Pastorale, das Vierte Klavierkonzert, die Chorfantasie op. 80 und Teile der C-Dur-Messe op. 86. Man vernimmt nicht ohne Bewegung, dass dem Komponisten das notwendige Geschick...