Verdrängung - was ist das?
Ist es nicht erstaunlich, dass die Finnen Finnisch sprechen? Dies ist kein Scherz, denn es ist in der Tat erstaunlich! Finnisch ist nämlich nicht mit anderen europäischen Sprachen (ausgenommen Ungarisch) verwandt. Selbst die Sprache der schwedischen Nachbarn ist beispielsweise mit Deutsch weit näher verwandt als mit Finnisch. Finnisch gehört zu einer zentralasiatischen Sprachengruppe und weist große Differenzen zu den sonst gesprochenen Sprachen Europas auf. Wie kommt das?
Die Erklärung ist einfach: Die Finnen wanderten aus ihrer zentralasiatischen Heimat aus dem Gebiet des Urals auf das Territorium des heutigen Finnland aus. Dort verbreiteten sie sich und definierten sich später als einheitliche Gruppierung: den heutigen Finnen. Diese Erklärung ist völlig einleuchtend und plausibel. Sie hat nur einen Haken: Sie ist nachweislich falsch!
Genetische Untersuchungen haben ergeben, dass die heutigen Finnen (bis auf Minderheiten) keine verwandtschaftliche Verbindung zu zentralasiatischen Völkern haben. Sie sind vielmehr europäischen Ursprungs und genetisch von den Einwohnern ihrer europäischen Nachbarländer nicht zu unterscheiden.
Es stellt sich daher unmittelbar die Frage, wie die Finnen dann zum Finnisch kamen. Letztlich bleibt für dieses Phänomen nur ein plausibles Szenario: Auf dem Gebiet des heutigen Finnland lebte tatsächlich ehemals ein Volk mit zentralasiatischer Sprache. Gleichzeitig hielt sich auf diesem Territorium eine europäisch stämmige Minderheit auf. Diese Minderheit muss klein gewesen sein – sehr wahrscheinlich im einstelligen Prozentbereich. Eine Übernahme der Sprache (oder große Teile davon) musste daher zwangsläufig erfolgen.
Sicher ist, und das ist erstaunlich, dass es zu keiner Vermischung beider Gruppierungen kam. Das lässt sich heute eindeutig nachweisen.
Noch erstaunlicher ist aber, dass es dieser sehr kleinen (aber in sich geschlossenen Minderheit) gelang, die asiatisch stämmige Mehrheit vom Großteil des Territoriums des heutigen Finnland komplett zu verdrängen. Was übrig blieb, ist nur eine für andere Europäer exotisch wirkende Sprache.
Das Beispiel der Finnen ist in vielerlei Hinsicht überaus interessant, denn es wirft viele Fragen auf und eine Vielzahl von Annahmen lassen sich daraus ableiten.
Es stellt sich zum Beispiel unmittelbar folgende Frage:
Wenn die ursprüngliche Bevölkerung Finnlands vom abgestammtem Territorium verdrängt worden ist und wenn sich dies nur durch diese ganz speziellen Rahmenbedingungen heute nachweisen lässt, könnte es dann nicht auch ebenso wahrscheinlich sein, dass Verdrängungsprozesse dieser Art auch bei vielen anderen Völkern stattgefunden haben? Wir wissen nur nichts davon, weil es sich eben nicht so eindeutig nachweisen lässt wie bei den Finnen.
Vielfach erscheinen die Gründe für das Verschwinden oder Kollabieren von Hochkulturen ein wenig konstruiert. Meist kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass irrelevante Ereignisse als Begründung herangezogen werden. Insbesondere bei antiken Kulturen ist es meist umgekehrt: Der Niedergang hat bereits lange vor dem finalen Ereignis begonnen. Beispielsweise kann man für den Niedergang Roms ein ganzes Sammelsurium von mehr oder weniger stichhaltigen Gründen finden. Die meisten dieser Gründe sind zwar nachweisbar, aber nur wenig überzeugend. Höchstwahrscheinlich haben bei dem Verschwinden aller Hochkulturen Verdrängungsmechanismen gewirkt. Genau hier liegt das Problem der Verdrängung.
Sie ist enorm effizient, aber eben kaum nachweisbar!
Nur in den beschriebenen Ausnahmefällen, wie eben bei den Finnen.
Wenn aber Verdrängung dort stattgefunden hat, muss es bei Kulturen, bei denen die Fluktuation der Bevölkerung aufgrund der Gegebenheiten und Möglichkeiten deutlich größer war, in einem noch stärkeren Ausmaß stattgefunden haben. Viele Umstände (welche natürlich keine Beweise sind) sprechen dafür, dass es so gewesen sein muss.
In vorindustrieller Zeit konnten Hochkulturen nicht auf Maschinen zur Erbringung von Produktionsleistungen zurückgreifen. Daher bedienten sich praktisch alle Hochkulturen menschlicher Arbeitskraft. Die eigene Bevölkerung reichte dazu keinesfalls aus. Daher wurden Menschen verschleppt und zur Arbeit gezwungen. In den meisten Zentren von Hochkulturen war die Anzahl der verschleppten Sklaven größer als die Anzahl der angestammten Bevölkerung, sodass Verdrängungsmechanismen wirken konnten. Dafür sprechen auch weitere Tatsachen: So wurden Sklaven gewöhnlich nicht zum Kriegsdienst verpflichtet. Das Risiko, bei einem kriegerischen Konflikt zu sterben, war für einen Sklaven so viel geringer als für ein Mitglied der Ursprungsbevölkerung. Weiterhin gab es für Sklaven auch keine Form des Wehrdienstes, welcher zu antiken Zeiten durchaus mehrere Jahre dauern konnte. Unfreie hatten schon aus reinen Zeitgründen viel mehr Möglichkeiten am Reproduktionsprozess teilzunehmen. Selbst eine feindliche Besetzung war für die besitzlosen Unfreien viel risikoärmer als für die angestammte Bevölkerung. Die Invasoren wussten, dass die Sklaven meist keinerlei Motivation hatten, ihnen feindlich gegenüberzustehen – die angestammte Bevölkerung schon. In nicht wenigen Fällen unterstützen die Unfreien feindliche Invasoren sogar.
Paradoxerweise waren die Chancen, dass Sklaven erfolgreicher am Reproduktionsprozess teilnehmen konnten als ihre Herren, ausgesprochen groß. Man kann also davon ausgehen, dass die Bevölkerung von Hochkulturen, von den eigenen verschleppten Unfreien im Laufe der Zeit verdrängt worden ist. Dies ist für sich genommen nicht weiter erwähnenswert, aber diese Aussage birgt eine gewisse Brisanz. Denn es bedeutet, dass die Bewohner eines Landes, welche auf dem gleichen Territorium leben wie einst die Bewohner einer Hochkultur, genetisch genauso viel mit den Schöpfern dieser Hochkultur zu tun haben wie die Bewohner eines beliebigen Nachbarlandes: nämlich annähernd nichts.
Auch diese Aussage ist für sich genommen nicht weiter dramatisch. Wen kümmert es schon, ob die Vorfahren vor langer Zeit Sklaven oder Adlige waren? Politisch brisant wird diese Aussage durch die Tatsache, dass die Regierungen und auch die Bewohner solcher Länder ihren Anspruch auf die Errungenschaften und Kulturgüter dieser Hochkulturen genau von dieser Tatsache ableiten.
Wenn aber die einzige Gemeinsamkeit zwischen den gegenwärtigen Bewohnern eines Landes und den ausgestorbenen Schöpfern von Kulturgüter ist, dass beide auf dem gleichen Territorium leben beziehungsweise lebten, dann besteht für die gegenwärtigen Bewohner auch kein Rechtsanspruch auf eben diese Kulturgüter. Daher sind Regierungen solcher Länder auch stets bemüht, einen möglichst ununterbrochenen Faden von der Hochblüte einer einstigen Hochkultur bis in die Jetzt-Zeit zu konstruieren. Wenn man solchen Beschreibungen folgt, wird man feststellen, dass in praktisch allen Fällen mehrere Jahrhunderte schlichtweg unterschlagen werden. Tatsache ist aber auch, dass genau diese Volksgruppen, welche heute sehr bemüht sind, Gemeinsamkeiten zwischen sich und einer einstigen Hochkultur zu finden, vor nicht allzu langer Zeit genau diese wenig schätzten, ja sogar verachteten.
Eine Vielzahl von Kulturgütern wurde zerstört, weil sich die Bewohner mitnichten als Nachfolger vergangener Kulturen sahen – was sie höchstwahrscheinlich auch nicht waren. Interessanterweise begannen die Bewohner von Territorien, auf denen einstige Hochkulturen beheimatet waren, sich erst dann mit diesen zu identifizieren, als sie bemerkten, dass gänzlich Andere (insbesondere Nordeuropäer) diese hoch einschätzten. Vorher war dies ganz und gar nicht der Fall und entsprechend freizügig wurde mit den Kulturgütern umgegangen.
Heute klagen die Regierungen solcher Länder andere des Kunstraubes an. Aber von Raub kann in den meisten Fällen keine Rede sein – oft müsste man eher von Kunstrettung sprechen. Viele Kulturgüter wären schlichtweg zerstört worden, hätten sich nicht Ausländer darum bemüht, diese Kunst- und Kulturgüter zu erhalten und zu bewahren. Heute wollen die Bewohner und Regierungen solcher Territorien nichts mehr davon wissen, dass sie diese Kulturgüter auf ihren Territorien im 19. Jahrhundert für annähernd wertlos hielten. Auch von Raub kann keine Rede sein. Diese Kunstrettungen waren zumeist völlig legal und hatten rein gar nichts mit „Nacht und Nebel-Aktionen“ zu tun. Für die Bewohner solcher Territorien waren diese Kulturgüter damals fremdartig und sie sahen mit den Erschaffern von diesen und sich selbst keinerlei Verbindung (was heute natürlich vehement bestritten wird). Die geistige Aneignung eines eigentlich fremden Kulturgutes ist vermutlich deutlich verwerflicher als deren materielle.
Obwohl Verdrängung überall wirkt, ist sie dennoch nur in wenigen Fällen überhaupt nachweisbar. Wenn sie aber nachgewiesen wird, liefert dieser Nachweis oft geradezu unglaubliche Ergebnisse. Dies liegt schlichtweg daran, dass Verdrängung einerseits höchst wirkungsvoll und andererseits für das einzelne Individuum nicht wahrnehmbar ist. Zum Beispiel haben genetische Untersuchungen an den Einwohnern der britischen Inseln Ergebnisse erbracht, welche demonstrieren, wie wirkungsvoll Verdrängung sein kann.
So kamen diese genetischen Untersuchungen zu dem verblüffenden Ergebnis, dass man relativ leicht zwischen Engländern und Walisern unterscheiden kann, nicht aber zwischen (Süd-)Engländern und norddeutschen Friesen. Dies ist überaus erstaunlich, denn es legt den Schluss nahe, dass die angestammte Bevölkerung der britischen Inseln in großen...