1 Warum Spiritualität einbeziehen?
Warum sollte man Spiritualität in die Patientenbetreuung einbeziehen? Warum sollten sich Gesundheitsfachleute die Zeit nehmen, sich mit spirituellen Bedürfnissen zu befassen oder die religiösen Überzeugungen eines Patienten zu unterstützen? Gesundheitsfachleute müssen solche Fragen klar und eindeutig beantworten können, bevor sie spirituelle Anliegen von Patienten aufgreifen. Ich sehe sechs Gründe, warum sie das tun sollten:
- Vielen Patienten ist Religion bzw. Spiritualität wichtig, und sie möchten, dass im Rahmen ihrer Behandlung darauf eingegangen wird.
- Religion beeinflusst die Fähigkeit des Patienten, mit einer Krank heit zurechtzukommen.
- Patienten sind oft von ihrer religiösen Gemeinschaft abgeschnitten, besonders wenn sie ins Krankenhaus eintreten müssen.
- Religiöse Überzeugungen beeinflussen medizinische Entscheidungen und können medizinischen Maßnahmen entgegenstehen.
- Aktiv gelebte Religiosität wird sowohl mit psychischer als auch körperlicher Gesundheit in Verbindung gebracht und wirkt sich wahrscheinlich auf den Heilungsprozess auf die eine oder andere Weise günstig aus.
- Religion beeinflusst die medizinische Versorgung in der Wohngemeinde.
Viele Patienten sind religiös
Viele Patienten im amerikanischen Gesundheitswesen sind religiös und haben spirituelle Bedürfnisse. Gemäß einer Gallup-Umfrage von 1996 glauben 96 % der Amerikaner an Gott, über 90 % beten, fast 70 % sind Mitglieder einer Kirche, und über 40 % haben innerhalb der letzten 7 Tage eine Kirche, Synagoge, oder einen Tempel besucht (Princeton Religious Center 1996). Die gleiche Umfrage ergab, dass für 57 % der Amerikaner Religion wichtig ist. Diese Zahl steigt für Amerikaner über 65 Jahre alt auf 72 (Newport 2006). Auch wenn Patienten nicht religiös sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich einige von ihnen als spirituell beschreiben würden, denn einer von fünf Amerikanern betrachtet sich als „spirituell aber nicht religiös“ (Fuller 2005). Dies gilt weniger für ältere Erwachsene, die traditionellerweise eher religiös sind und Spiritualität mit Religion gleichsetzen. In einer Studie aus dem Jahre 2004 mit 838 medizinischen, stationären Patienten, im Alter von 60 Jahren oder älter, gaben 88 % der Befragten an, sie seien sowohl religiös wie auch spirituell, 7 % spirituell aber nicht religiös, und 3 % religiös aber nicht spirituell. Nur 3 % der Patienten sagten, sie seien weder religiös noch spirituell (Koenig et al. 2004).
Die Mehrheit der Patienten ist nicht nur religiös, sondern viele von ihnen haben spirituelle Bedürfnisse und möchten gerne, dass im Laufe ihrer Behandlung darauf eingegangen wird. Spirituell zu sein ist für viele Menschen ein fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit – es ist die Wurzel ihrer Identität und gibt ihrem Leben Bedeutung und Sinn. In Zeiten, in denen eine Krankheit das Leben oder die Lebensweise bedroht, werden spirituelle Bedürfnisse besonders drängend. In ihrer Untersuchung an 101 psychiatrischen und medizinisch-chirurgischen stationären Patienten an einem Krankenhaus in Chicago haben Forscher herausgefunden, dass die große Mehrheit der psychiatrischen (88 %) und medizinisch-chirurgischen Patienten (76 %) während ihres Krankenhausaufenthalts drei oder mehr religiöse Bedürfnisse anmeldeten (Fitchett et al. 1997). Die spirituelle Dimension zu vernachlässigen wäre genauso, wie wenn man das soziale Umfeld oder den psychologischen Zustand des Patienten ignorieren würde. Das aber würde ein Scheitern in der Behandlung der „ganzen Person“ darstellen.
Die Mehrheit der verfügbaren Daten über Ansichten von Patienten darüber, ob sich die Gesundheitsfachpersonen um spirituelle Bedürfnisse kümmern sollten, bezieht sich auf Ärzte; gegenwärtig existieren wenige Daten für andere Gesundheitsberufe; diese werden in den Kapiteln 8–10 zusammengefasst. In ihrer Untersuchung von 203 stationären Patienten aus allgemeinmedizinischen Abteilungen in zwei Spitälern im Osten der Vereinigten Staaten berichten King und Bushwick, ungefähr drei Viertel (77 %) hätten betont, die Ärzte sollten ihre spirituellen Bedürfnisse berücksichtigen; 37 % von ihnen wollten, dass ihre Ärzte ihre religiösen Überzeugungen mehr zum Thema machen (King und Bushwick 1994). Laut anderen Studien finden zwischen 33 % und 84 % der Patienten, dass Ärzte sich für ihre religiösen oder spirituellen Überzeugungen interessieren sollten, je nach 1) dem Umfeld und der Schwere der Krankheit (Routinebesuch in der Praxis gegenüber Akuteintritt gegenüber unheilbarer Krankheit), 2) der betreffenden Religion des Patienten, und 3) der Ausprägung der Religiosität des Patienten (MacLean et al. 2003; King und Bushwick 1994; Daaleman und Nease 1994; Maugans und Wadland 1991; Miller et al. 2003; Oyama und Koenig 1993, Hamilton und Levine 2006).
In einer Erhebung von ambulanten Patienten haben die Untersucher 380 Patienten von Hausarztkliniken in Zentral-Texas und im mittleren Süden von North Carolina befragt (Oyama und Koenig 1998). 73 % von ihnen meinten, Patienten sollten ihre religiösen Ansichten den Ärzten mitteilen. In einer Studie von 90 HIV-positiven stationären Patienten auf der HIV/AIDS-Abteilung des Yale-New Haven Hospitals in Connecticut fand die Mehrheit (53 %), es sei für Patienten wichtig, spirituelle Bedürfnisse mit ihren Ärzten zu besprechen (Kaldjian et al. 1998). Die Zeitschrift USA Weekend hat eine landesweite Umfrage bei 1000 Erwachsenen durchgeführt, und diese stellt die einzige bisherige Untersuchung mit einer Zufallsauswahl von Amerikanern dar (McNichol 1996). Gefragt wurde, ob die Ärzte mit Patienten über deren Glauben sprechen sollten. Fast zwei Drittel (63 %) gaben eine positive Antwort; bei älteren Personen zwischen 55 bis 64 stieg die Zustimmung auf 67 %.
Interessanterweise sagen 66 % bis 81 % der Patienten aus, sie hätten größeres Vertrauen in ihren Arzt, wenn sie von ihm nach dem Glauben gefragt würden (Ehman et al. 1999), und andere Untersuchungen weisen eine signifikante Verbesserung der Arzt-Patienten-Beziehung nach, wenn der Arzt dies tut (Kristeller et al. 2005). Solche Umfragen fußen teilweise auf der Tatsache, dass ein signifikanter Anteil von Patienten (45–73 %) glaubt, religiöse Überzeugungen beeinflussten wahrscheinlich ihre medizinischen Entscheidungen, wenn sie ernsthaft erkrankt sind (siehe unten) (Ehman et al. 1999).
Die Ansichten der Patienten zum Thema Beten mit ihren Ärzten zeigen eine breite Streuung: zwischen 19 % und 78 % befürworten Gebet, je nach Situation, Schweregrad der Krankheit, und Religiosität des Patienten (MacLean et al. 2003). Zum Beispiel haben in der Yale-Studie mit HIV/AIDS-Patienten 46 % von ihnen angegeben, es wäre hilfreich, wenn sie Gelegenheit hätten, mit ihren Ärzten zu beten (Kaldjian et al. 1998). Meist möchten Patienten, die schwerer krank und stärker religiös sind, dass ihre Gesundheitsfachpersonen mit ihnen beten. Aber nur 10–20 % der Patienten berichten, dass ihre Ärzte sie je wegen spirituellen Fragen angesprochen oder mit ihnen gebetet haben (McNichol 1996).
Obwohl sich viele Patienten wünschen, dass Gesundheitsfachleute etwas über ihre religiösen oder spirituellen Ansichten wissen, möchte ein bedeutender Anteil von Patienten – zirka ein Viertel bis die Hälfte von ihnen – nicht mit ihren Ärzten über diese Themen sprechen. Als gesunde Personen, in einer Studie danach gefragt wurden, gaben mehr als zwei Drittel an, sie würden ihre spirituellen Anliegen mit jemandem besprechen wollen, wenn sie ernsthaft erkranken würden (Mansfield et al. 2002) – die meisten aber mit ihren Pfarrern, nicht mit den Ärzten. Unglücklicherweise sind Pfarrer in medizinischen Situationen aber nicht immer verfügbar, in denen Patienten über diese Themen sprechen wollen. Zudem ist das „besprechen“ von religiösen Ansichten mit Ärzten nicht dasselbe, wie wenn der Arzt oder eine andere Gesundheitsfachperson sich nach Glaubensüberzeugungen erkundigt, wofür, wie andere Umfragen zeigen, viel mehr Patienten empfänglich sind. Natürlich möchten die meisten Patienten nicht, dass Gesundheitsfachpersonen sie auf ihre Spiritualität ansprechen, bevor sie zuerst die medizinischen Fragen kompetent behandelt haben (MacLean et al. 2003).
Vielen Patienten hilft die Religion, um mit ihrer Krankheit zurechtzukommen
Religion ist nicht nur ein wichtiger Teil der Identität vieler Menschen, sondern sie dient auch oft dazu, beunruhigende Lebensumstände zu bewältigen. Gemäß einer nationalen Gallup-Umfrage stimmen fast 80 % der Amerikaner ganz oder fast ganz der folgenden Aussage zu: „Ich ziehe sehr viel Trost und Unterstützung aus meinen religiösen Überzeugungen“. Das gilt besonders für Personen über 65 Jahre, von denen 87 % zustimmten (Princeton Religious Center 1996). Eine stichprobenartige Umfrage bei der U.S.-Bevölkerung eine Woche nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, ergab, dass 90 % von ihnen auf die Religion zurückgriffen, um mit dem Stress fertig zu werden, den diese Ereignisse verursacht hatten (Schuster et al. 2001). In ähnlicher Weise haben in einigen Teilen der Vereinigten Staaten mehr als 90 % der Patienten berichtet, religiöser Glaube und religiöse Praktiken seien Mittel, mit denen sie eine körperliche Krankheit bewältigen und ihr einen Sinn abgewinnen könnten. Über 40 % von ihnen gaben an, Religion sei der wichtigste...