Teil B: Spiritualität zwischen säkularisierter Beliebigkeit und kirchlicher Normierung
Spiritualität – esoterisches Gegenphänomen zu traditionell kirchlicher Frömmigkeit?
Konrad Hilpert7
Spirituality – An esoteric phenomenon in comparison to Christian piety
Nowadays, the term „spirituality“ is used in many different ways: On the one hand as a synonym for a religious way-of-life within a church, on the other hand as a synonym for inner experiences without close ties to a specific religious community. This text compares these types of spiritual quests. Coming from Christian tradition, the text asks how health care professionals deal with different spiritualities.
keywords
religiosity – spirituality – mystic – church – spiritual care – esoteric – biography
Das mit „Spiritualität“ bezeichnete Phänomen kann nie eindeutig festgelegt und abgegrenzt werden, sondern ist stattdessen durch die notorische Offenheit für neue Erfahrungen und durch die Notwendigkeit, sich subjektiv immer erst zu bewähren, gekennzeichnet. Das macht den Begriff Spiritualität ungeachtet seiner geschichtlichen Herkunft aus der Reflexion christlicher Lebenspraxis dafür geeignet, für unterschiedliche Wirklichkeitsdeutungen und Lebenshaltungen zu stehen. Die Realisierung von überlieferten religiösen Formen, Glaubenserfahrungen zu machen und aus ihnen orientierende Kraft zu beziehen, gehört ebenso dazu wie das durch persönliche Erlebnisse oder biografische Brüche erst erzwungene oder wiederzugelassene Suchen nach einem sinnstiftenden und Geborgenheit gewährenden Größeren, in dem auch die inneren Bedürfnisse und die pathischen Anteile unseres Lebens Platz haben; schließlich auch das Ausprobieren, ob neue oder kulturell fremden Traditionen entliehene Formen vielleicht authentischere Erfahrungen vermitteln könnten als die herkömmlich bekannten oder vertrauten.
Wenn das Verständnis von „Spiritualität“ in dieser Weise vielschichtig und zum Teil heterogen ist, gleichzeitig aber verschiedenste Lebenslehren an diesem Begriff als Bezeichnung für eine unverzichtbare und sogar wegweisende Erfahrungsdimension festhalten, dann ist das wohl dahingehend zu interpretieren, dass sich im Verständnis des Begriffs, das uneinheitlich und in manchem widersprüchlich ist, die derzeitige religiöse Szenerie abbildet und es doch gleichzeitig ein starkes gemeinsames Interesse an der „Sache“ gibt. Das ist auch das Anliegen von Willigis Jäger, der sich um ein integrales Verständnis von Spiritualität bemüht (Jäger 2007).
1 Die religiöse Szene: unübersichtlich
Auf der Suche nach einer Beschreibung der religiösen Szenerie der Gegenwart trifft man gemeinhin auf zwei widersprüchliche Auskünfte: Klagen über den Niedergang des Glaubens und des kulturell verfestigten kirchlichen Christentums auf der einen Seite und – durch Thomas Luckmann (1991) – wissenschaftlich untermauerte Anzeichen einer „Wiederkehr“ von Religiosität (Hilpert 2001, Hochschild 2001, Polak 2002, Polak 2006, Zulehner 2003, Graf 2004, Höhn 2007) und einer vermehrten Bedeutung, die viele Einzelne der religiösen Orientierung für die eigene Lebensführung zumessen würden (Bertelsmann Stiftung 2007), auf der anderen Seite. Trotz des Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder hierzulande und trotz aller unübersehbaren Traditionsum- und -abbrüche haben gleichzeitig viele Menschen den Wunsch, sich an einer religiösen Sinn- und Lebensdeutung zu orientieren. Aber sie verfolgen diesen Wunsch zu einem gewissen Teil in einer sehr individuellen Ausprägung und setzen sich dabei leichter als früher über konfessionelle Grenzen und amtliche Vorgaben hinweg. Der Weltjugendtag wird zum Großereignis für Hunderttausende, medial sogar für Millionen; alte Frömmigkeitsformen wie Wallfahrten werden zur Mode, teilweise umbenannt in „spiritueller Tourismus“; der Dalai Lama füllt bei seinen Ansprachen ganze Stadien und Kongresshallen; und selbst in der Werbung tauchen religiöse und spirituelle Symbole auf. Religion verschwindet nicht, wie es lange Zeit vermutet und häufig mit dem Theorem der „Säkularisierung“ beschrieben wurde (Dux 2001), sondern sie verändert sich, wird individueller, privater und ihre Bedeutung für die Lebensführung und die Gestaltung des öffentlichen Lebens in manchen Bereichen marginaler, in einigen wenigen anderen hingegen politisch virulent.
Die Bandbreite der Phänomene, für die die Begriffe „Spiritualität“ und „spirituell“ herbeigezogen werden, umfasst längst nicht mehr nur die persönliche Beteiligung an vorgegebenen alten (und neuen) Frömmigkeitsübungen, Lebensformen und Leitideen, sondern wird auf schier alles bezogen, auch auf Getränke, Düfte, Öle, Schmuck, Steine, Stoffe und Farben, denen eine besondere Wirkkraft zugesprochen wird bzw. die als Medium präsentiert werden, um die Wirklichkeit, die „dahinter“ steckt bzw. in die sie eingebunden sind, erfahren zu können. Zu diesem Bild gehört ebenso die erstaunliche Tatsache, dass mitunter auf Figuren und Requisiten aus der Christentums- bzw. Religionsgeschichte zurückgegriffen wird, die als längst erledigt galten. Der Bedarf an spiritueller Anleitung und Beratung – sei es in Form von Einzelgesprächen, in Form von Gruppenkursen oder von Bildungsveranstaltungen – ist groß. Neue Bewusstseinsräume werden gesucht, Transformationen angestrebt oder wenigstens Wellness für „body and mind“ angeboten. Riten und Rituale erfahren neue Wertschätzung, werden allerdings häufig nach Belieben nach- oder umgeschaffen. In der Religionssoziologie verwendet man dafür mitunter die Metaphern vom „Basteln“ und vom „Patchwork“, aber auch die vom „Wandern“ zwischen den Spiritualitäten.
Alles in allem gibt es also so etwas wie eine neue Religiosität und vielfache spirituelle Praktiken, häufig inhaltlich wenig eindeutig und mit einer auffallend starken Ausrichtung auf Therapie, Erlebnis, Selbsterfahrung und Sichgutfühlen. Einen umfassenden Überblick bietet das von Reinhard Hempelmann herausgegebene „Panorama der neuen Religiosität“ (Hempelmann et al. 2005). Erscheinungsformen esoterischer Spiritualität finden sich nicht nur außerhalb und in Konkurrenz mit der Praxis kirchengebundener Frömmigkeit, sondern auch in Verbindung mit und neben ihr. Zwischen den Polen Nichtgläubige und Christen „finden sich in Europa Menschen, die sich weder gottlos verstehen noch christlich (46 Prozent). Sie sind insofern modern, als sie die Regie über die Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens und der Welt in ihre eigenen Hände genommen haben. Sie bewohnen also nicht ein gut eingerichtetes Glaubenshaus einer der christlichen Kirchen oder sind aus diesem ausgezogen, um nunmehr religiös unbehaust zu leben. Vielmehr schaffen sie sich eine Art religiöses Eigenheim. Nicht selten wohnen sie jahrelang auf einer Art Religionsbaustelle, bauen an, ab und um. Diese modernen Menschen sind so etwas wie dilletierende Religionsarchitekten, Religionsliebhaber [...] Sie sind der harte Kern der Rennaissance der Religion im Gewand der Spiritualität“ (Hochschild 2001: 44f).
2 Spirituelle Suchbewegungen des Subjekts
Die Motivationen, die die vielen Einzelnen zur Suche nach spiritueller Verinnerlichung und Vergewisserung jeweils antreiben, haben einen gemeinsamen Fokus: das Bedürfnis nach Erweiterung des Raums des Wirklichen hinter und jenseits des (nur) rational Begreifbaren, die Suche nach andersartiger („mystischer“) Erfahrung, die die Welt unter Einschluss des eigenen Daseins im Rahmen eines größeren Ganzen interpretiert und als Einheit erleben lässt. Ein häufig dafür gewähltes Bild ist das des „Himmels in uns“ – ein uraltes Bild übrigens, das in etwas anderer Bedeutung schon bei Angelus Silesius vorkommt. Dabei wird dieser erweiterte Raum als dasjenige vermutet und gesucht, was als Potential in einem selbst verborgen liegt. Spiritualität wird insofern auch als persönliche Entwicklung („Wachsen“) begriffen.
Diese Entwicklung steht u. U. in deutlicher Spannung zu dem, was im alltäglichen Bewusstsein dominiert und was verdrängt, diszipliniert oder unter Verdacht gestellt ist: Gefühle, Phantasie, Entfernung von jeder dinglichen Konkretion.
Als „esoterisch“ wird solches Suchen charakterisiert wegen der Stoßrichtung, die ihm eigen ist: Das Eigentliche wird auf dem Weg der Hinwendung „nach innen“ vermutet und gesucht, nicht durch das Vollziehen äußerlicher Formen in Richtung Öffentlichkeit (das wäre „Exoterik“). Es interessiert, was vom einzelnen Subjekt jenseits oder hinter bzw. im Vorfindlichen durch eigenen Vollzug erfahren werden kann und was sich nur denen, die sich darauf einlassen, erschließt. Spiritualität hat sowohl Züge von Eigenaktivität wie auch von deren Gegenteil, also des Einstellens aller Aktivität, Sichzurücknehmens, des Leermachens und Sich-ansprechen- bzw. -betroffen-machen-Lassens.
Achtet man auf die Inhalte dieser Suchbewegungen, dann ist aufschlussreich, was Ariane Martin in einer kulturanthropologischen Analyse des derzeitigen „spirituellen Feldes“ als Richtungen dieses Suchens herausgefunden und beschrieben hat: Reise zu sich selbst, Heilung, Festigkeit, Gemeinschaft, Verzauberung, Reise in die Weite, Weltverhältnis (das meint: Sehnsucht nach einer anderen, neuen Welt mit einem neuen Menschen) (Martin 2005, Zulehner 2008). Das sind Suchbewegungen, die es der Struktur nach im spirituellen Erbe des kirchlichen Christentums auch gibt, mit denen aber eine wachsende Zahl von Menschen heute zum ersten...