2 Was kann die Sportpädagogik leisten?
Merkmale und Aufgaben
1 Einleitung: Was ist von dieser Lektion zu erwarten?
Studierende der Sportwissenschaft treffen in vielen Lehrveranstaltungen (sowie in ihren späteren Berufsfeldern) immer wieder auf Fragen sportpädagogischer Relevanz. Schon deshalb kann man vermuten, dass die Sportpädagogik innerhalb der Sportwissenschaft einen gefestigten Platz haben muss: Wer sich mit wissenschaftlichen und anwendungsbezogenen Fragen der Vermittlung von Sport beschäftigt, kommt an der Sportpädagogik wohl nicht vorbei. Dabei unterscheidet sie sich von anderen Teildisziplinen wie der Sportmedizin, Trainingslehre oder Sportsoziologie und kann keineswegs einfach aus dem Kanon der Sportwissenschaft ersetzt oder entfernt werden.
Im Gegenteil: An den meisten sportwissenschaftlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht die Sportpädagogik sogar im Vordergrund. Das zeigt sich beispielsweise dort, wo die Lehrerausbildung nach wie vor zentral ist und viele Stellen mit sportpädagogisch ausgewiesenen Lehrkräften besetzt sind. Und gibt es an einem Standort nur eine oder wenige Professur(en), so ist Sportpädagogik fast immer dabei. Diese bereits äußerlich erkennbare dominierende Rolle in der Sportwissenschaft speist sich aus der Tradition einer „Theorie der Leibeserziehung“ (vgl. Lektion 3, Frage 2) und aus der integrativen Funktion einer ganzheitlichen Betrachtung (vgl. Frage 2 dieser Lektion). Offenbar stellt die Sportpädagogik eine etablierte und gewichtige Teildisziplin der Sportwissenschaft dar.
Mit dieser Lektion wird nun nach dem Selbstverständnis der Sportpädagogik gefragt: Was charakterisiert sie und was vermag sie zu leisten? Wer so nach Merkmalen und Aufgaben der Sportpädagogik fragt, geht davon aus, dass es sich lohnt, mehr über sie zu erfahren. Der potenzielle Gewinn besteht unserer Ansicht nach darin, größere Klarheit über die Eigenheiten und besonderen Möglichkeiten dieser Teildisziplin zu erzielen sowie die Chancen und Grenzen sportpädagogischer Arbeit besser einschätzen zu können. Das schützt übrigens auch vor überzogenen Erwartungen an eine umfassende Behandlung sportpädagogischer Probleme oder an eine unmittelbare Anleitung sportlicher Vermittlungspraxis: Weder können wir alles wissen und sämtliche Probleme lösen noch lässt sich die Praxis z. B. schulsportlicher Handlungen direkt beeinflussen (vgl. Frage 5). Eine tiefer gehende (wissenschaftstheoretische) Analyse der Sportpädagogik kann und soll an dieser Stelle allerdings nicht vorgenommen werden.
Im Folgenden geht es zunächst darum, sich einen vorläufigen Begriff von der Sportpädagogik zu machen und ihre wesentlichen Merkmale zu bestimmen (Frage 2). Vor diesem Hintergrund lässt sich sondieren, welche Aufgaben die Sportpädagogik im Einzelnen zu übernehmen vermag (Frage 3), wie sie sich damit in den Kontext wissenschaftlicher Disziplinen einordnet (Frage 4) und wo gewisse Grenzen sportpädagogischer Leistungsfähigkeit zu ziehen sind (Frage 5).
2 Was charakterisiert die Sportpädagogik?
Schaut man in einschlägige Lexika der Sportwissenschaft, so wird die Sportpädagogik dort als eine Wissenschaftsdisziplin begriffen, die sich mit Fragen, Problemen, Zusammenhängen von Sport und Erziehung (oder Bewegungskultur und Bildung) befasst. Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung beziehe sich insbesondere auf die praktische Ausübung und Vermittlung sportlicher Aktivität; Sportpädagogik sei daher – wie Sportwissenschaft insgesamt – eine primär anwendungsorientierte Disziplin, das heißt: In ihr sind vor allem solche Erkenntnisse zu gewinnen, die nicht nur theoretisch bleiben, sondern sich auch auf bestimmte Praxisfelder wie den Schulsport oder den Freizeitsport anwenden lassen (vgl. Lektion 1 und vor allem die Lektionen 9-14).
Diese Anwendungsorientierung der Sportwissenschaft kann jedoch unterschiedlichen Interessen folgen und darauf gerichtet sein, entweder eher die sportliche Leistungsfähigkeit von Menschen zu steigern („sportives Interesse“) oder aber die menschliche Entwicklung und Lebensgestaltung möglichst umfassend zu fördern („humanes Interesse“). Der Sportpädagogik liegt, sofern sie sich an Möglichkeiten der Entwicklungsförderung und Lebensbereicherung im und durch Sport orientiert (vgl. Lektion 5), ein humanes Interesse zu Grunde. Dieses humane Interesse ist lohnend auf alle Anwendungsfelder – also auch auf den Leistungssport – bezogen: Gefragt wird danach, auf welche Weise Sporttreiben den Menschen zu Gute kommen kann und wie ggf. der Sport den Menschen angepasst werden sollte (statt umgekehrt die Menschen dem Sport anzupassen).
Bei einer derartigen Betrachtung muss die Sportpädagogik bemüht sein, immer den „ganzen“ Menschen im Blick zu behalten. Wer Sport treibt, tut das nicht nur mit seinem Körper, sondern ist vollständig darin eingelassen. Gerade im Sport, der noch Spiel ist, können wir – frei nach Schiller – ganz Mensch sein. Für die Sportpädagogik erwächst daraus die besondere Chance und Verantwortung, eine ganzheitliche Betrachtung anzulegen. Was diese ganzheitliche Betrachtung ausmacht, lässt sich nur schwer bestimmen, auch wenn man weiß, dass das Ganze mehr als die Addition seiner Teile ist. Wichtig scheint uns vor allem, dass die klassische Herangehensweise der Pädagogik mit „Kopf, Herz und Hand“ im sportpädagogischen Denken und Handeln ihre Berücksichtigung findet. Das wiederum bedeutet, sämtliche Dimensionen in den Blick zu nehmen, auf denen sich für Menschen im Sport besondere Anforderungen und Wirkungen ergeben: in körperlicher, motorischer, sensorischer, kognitiver, motivationaler, emotionaler und sozialer Hinsicht (vgl. ausführlicher Lektion 6).
Eine solche ganzheitliche Betrachtung schützt vor einer reduzierten Auffassung vom Sport als Vollzug motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie vor einer anderweitig verkürzten oder einseitigen Förderung von Menschen im und durch Sport. Daher obliegt es der Sportpädagogik auch, verschiedene Erkenntnisse über sporttreibende Menschen (etwa aus der Trainingswissenschaft und der Sportpsychologie) in ihre Überlegungen und Empfehlungen zu integrieren. Aus einem humanen Interesse nimmt die Sportpädagogik den „ganzen“ Menschen in ihren Blick; sie versucht, ihre zentralen Fragen (z. B. nach der Möglichkeit koedukativen Sportunterrichts) unter Rückgriff auf sportpsychologische u. a. Wissensbestände einer Beantwortung und Bewertung näher zu bringen (vgl. Frage 5).
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Sportpädagogik nicht nur beschreibt, wie etwas (also z. B. der Schulsport) ist, sondern auch sagt, wie etwas sein soll. Typischerweise werden nämlich in der Sportpädagogik neben deskriptiven Aussagen zugleich normative Sätze, d. h. Sollensaussagen formuliert (vgl. Frage 3). Sie enthalten pädagogisch Wünschenswertes, das manchmal (noch) nicht „der“ Wirklichkeit entspricht. So werden beispielsweise viele normative Aussagen über eine angemessene Gestaltung des Schulsports getroffen, die sich auf leitende Ziele (wie die Gesundheitsförderung), zentrale Inhalte (wie das Turnen) und lohnende Methoden (wie innere Differenzierung) beziehen.
Damit werden Antworten auf Fragen nach dem Wozu (Ziele), nach dem Was (Inhalte) und nach dem Wie (Methoden) gegeben; solche Antworten können unterschiedlich ausfallen, aber niemals richtig oder falsch sein: Als normative Disziplin muss sich die Sportpädagogik bemühen, ihre Empfehlungen nachvollziehbar zu begründen und möglichst überzeugend darzustellen. Unzulässig ist in jedem Fall, einfach vom Sein auf das Sollen zu schlieflen, z. B. aus einem schlechten konditionellen Zustand der Schüler gleich die Forderung nach Trainingsprogrammen im Schulsport abzuleiten (auch als „naturalistischer Fehlschluss“ bezeichnet).
Normative Aussagen wie die Forderung nach Trainingsprogrammen bedürfen weiter reichender Begründungen. Solche Begründungen sind dort zu finden, wo es verlässliche Grundlagen z. B. hinsichtlich des Entwicklungsverlaufes oder der Trainierbarkeit gibt. Auf diese Weise lassen sich Sollensaussagen durch deskriptive Sätze zumindest stützen; darüber hinaus gehen in normative Entscheidungen immer auch Wertungen ein, die abzuwägen und offen zu legen sind: so etwa die Wertung, dass eine gute konditionelle Verfassung in sportlicher und gesundheitlicher Hinsicht wünschenswert sei. Für die Bestimmung normativer Aussagen lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sie insbesondere aus vier zentralen Entscheidungsgrundlagen gewonnen werden können; nach verbreiteter Auffassung, die sich auch in den Kapiteln des zweiten Teils unseres Lehrbuchs widerspiegelt (vgl. Lektionen 5–8), sind das:
- „Leitidee“: Die jeweilige pädagogische Leitidee bestimmt den Zielhorizont. Sie geht auf spezifische Menschenbilder zurück, wird von (humanen und demokratischen) Wertvorstellungen geleitet, umreißt ein Grundverständnis von Erziehung und Bildung (vgl. Lektion 5).
- „Individuum“: Die jeweiligen individuellen Voraussetzungen sind ein entscheidender Ansatzpunkt. Sie markieren verschiedene und veränderliche Merkmale, Fähigkeiten und Interessen (z. B. von Kindern und Jugendlichen), liefern Anknüpfungsmöglichkeiten für pädagogisches Handeln im Entwicklungsverlauf (vgl. Lektion 7).
- „Sache“: Die jeweilige Auslegung des Gegenstandes als Sport oder Bewegungskultur definiert, was Sache ist, welche Spiele und Sportarten, Bewegungsformen und körperlichen Aktivitäten thematisiert werden (können), welche typischen Anforderungen...