Prolog Die Geschichte Roms
Das antike Rom ist wichtig. Die alten Römer zu ignorieren hieße, die Augen nicht nur vor der fernen Vergangenheit zu verschließen, denn unsere Weltsicht und unser Selbstverständnis sind bis heute wesentlich von Rom mitgeprägt, von der abgehobenen Theorie bis hin zur anspruchslosen Unterhaltung. Auch nach zweitausend Jahren bildet es die Grundlage westlicher Kultur und Politik, der Texte, die wir schreiben, sowie der Art, wie wir die Welt begreifen und unseren Platz darin verorten.
Die Ermordung Julius Caesars im Jahr 44 v. Chr. an den Iden des März, wie das Datum bei den Römern hieß, diente seither als Vorlage und zuweilen auch als heikle Rechtfertigung für Tyrannenmorde. Die politische Geographie des modernen Europa und angrenzender Gebiete ist aus der Raumordnung des Römischen Reiches hervorgegangen. So ist London in erster Linie die Hauptstadt Großbritanniens, weil die Römer es zur Hauptstadt ihrer Provinz Britannia machten – einer gefährlichen Region, die ihrer Ansicht nach jenseits des großen Ozeans lag, der die zivilisierte Welt umgab. Roms Vermächtnis an uns umfasst nicht nur die Idee der Freiheit und der Staatsbürgerschaft, sondern auch die der imperialen Ausbeutung und ein Vokabular moderner Politik, das von »Senatoren« bis zu »Diktatoren« reicht. Es hat uns seine Schlagworte hinterlassen: von »Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen«, bis hin zu »Brot und Spiele«, »Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut« und »Wo Leben ist, ist Hoffnung«. Rom hat mehr oder weniger in gleichem Maße Gelächter, Ehrfurcht und Schrecken ausgelöst. Wie eh und je sind auch heute Gladiatoren große Kassenschlager. Vergils großes Epos über die Gründung Roms, die Aeneis, fand im 20. Jahrhundert nahezu mit Sicherheit mehr Leser als im 1. Jahrhundert n. Chr.
Die Geschichtsschreibung zum alten Rom hat sich jedoch in den vergangenen fünfzig Jahren dramatisch verändert und noch stärker im Laufe der 250 Jahre, seit Edward Gibbon The History of the Decline and Fall of the Roman Empire schrieb, sein eigenwilliges historisches Experiment, das die moderne Erforschung der römischen Geschichte in der englischsprachigen Welt einleitete.[1] Zum Teil liegt das an neuen Betrachtungsweisen und Fragestellungen, unter denen wir alte Zeugnisse untersuchen. Es ist ein gefährlicher Mythos, dass wir bessere Historiker seien als unsere Vorgänger. Das stimmt nicht. Aber wir gehen mit anderen Prioritäten an die römische Geschichte heran – von Gender-Identität bis zur Nahrungsversorgung –, die diese antike Vergangenheit in einer neuen Ausdrucksweise zum Sprechen bringen.
Zudem hat es eine ungeheure Fülle neuer Entdeckungen – im Boden, unter Wasser und sogar in Bibliotheken vergraben – gegeben, die uns mehr Neues über die Antike verraten, als irgendein moderner Historiker je zuvor wissen konnte. So tauchte erst 2005 in einem griechischen Kloster ein Manuskript mit dem ergreifenden Text eines römischen Arztes auf, dessen kostbarster Besitz gerade in Flammen aufgegangen war.[2] Im Mittelmeer wurden Wracks von Frachtschiffen gefunden, die es nicht bis Rom geschafft hatten; ihre Ladung bestand aus Skulpturen, Möbeln und Glas aus anderen Ländern für die Häuser der Reichen und aus Wein und Oliven, die als Grundnahrungsmittel für alle dienten. Während ich dies schreibe, untersuchen Archäologen sorgsam Bohrkerne aus dem grönländischen Eisschild und finden selbst dort Spuren der Umweltverschmutzung durch die römische Industrie.[3] Andere erforschen unter dem Mikroskop menschliche Exkremente aus einer Jauchegrube in Herculaneum in Süditalien, um aufzuschlüsseln, welche Nahrungsmittel in den Verdauungstrakt gewöhnlicher Römer – und wieder hinaus – gelangten. Dazu gehörten unter anderem viele Eier und Seeigel.[4]
Die römische Geschichte wurde und wird ständig umgeschrieben. In mancherlei Hinsicht wissen wir heute mehr über das antike Rom als die Römer selbst. Mit anderen Worten, die römische Geschichte ist eine fortwährende Baustelle. Das vorliegende Buch ist mein Beitrag zu diesem umfassenden Projekt und legt meine Sicht dar, warum sie wichtig ist. Der Titel SPQR greift eine weitere berühmte römische Wendung auf: Senatus PopulusQue Romanus, »Senat und Volk von Rom«. Mein Antrieb zu diesem Buch erwächst aus persönlicher Neugier in Bezug auf die römische Geschichte, aus der Überzeugung, dass ein Dialog mit dem alten Rom nach wie vor lohnend ist, sowie aus der Frage, wie aus einem winzigen, wenig bemerkenswerten Dorf in Mittelitalien eine dominante Großmacht werden konnte, die große Territorien auf drei Kontinenten beherrschte.
In diesem Buch geht es also um die Frage, wie Rom so wachsen und seine Stellung so lange halten konnte, und nicht um den Verfall und Untergang des Römischen Reiches, falls es ihn denn je in dem Sinne gab, wie Gibbon es sich vorstellte. Es gibt viele Möglichkeiten, einen sinnvollen Schlusspunkt für die Geschichte des antiken Rom festzusetzen: Manche haben den Übertritt Kaiser Konstantins zum Christentum auf seinem Sterbebett 337 n. Chr. gewählt oder die Plünderung Roms durch Alarich und die Westgoten 410 n. Chr. Meine Geschichte Roms endet 212 n. Chr. mit dem krönenden Moment, als Kaiser Caracalla jeden freien Einwohner des Römischen Reiches zum vollgültigen römischen Bürger erklärte, damit den Unterschied zwischen Eroberern und Unterworfenen aufweichte und die nahezu tausend Jahre zuvor begonnene Ausdehnung der Rechte und Privilegien römischer Bürger auf andere Einwohner des Reiches zum Abschluss brachte.
Dieses Buch ist jedoch kein schlichter Ausdruck von Bewunderung. In der – römischen wie auch griechischen – Antike gibt es vieles, was unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit verdient. Unsere Welt wäre unermesslich ärmer, wenn wir uns nicht weiterhin mit der Antike auseinandersetzen würden. Aber Bewunderung ist etwas völlig anderes. Da ich gern ein Kind unserer Zeit bin, sträuben sich mir die Haare, wenn ich Leute von »großen« römischen Eroberern oder gar vom »großartigen« Römischen Reich reden höre. Ich habe mich zu lernen bemüht, Dinge von zwei Seiten zu betrachten.
Tatsächlich befasst sich dieses Buch mit einigen der Mythen und Halbwahrheiten über Rom, mit denen ich wie viele andere aufgewachsen bin. Die Römer verfolgten nicht von Anfang an einen großartigen Plan, die Welt zu erobern. Auch wenn sie ihr Imperium letztlich als Ausdruck eines manifesten Schicksals hinstellten, sind die Motive, die sie ursprünglich zu ihrer militärischen Expansion im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus trieben, nach wie vor eines der größten Rätsel der Geschichte. Bei der Errichtung ihres Reiches trampelten die Römer keineswegs harmlose Völker brutal nieder, die sich friedfertig und harmonisch um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, bis die Legionen am Horizont auftauchten. Ein römischer Sieg war zweifellos grausam, und nicht zu Unrecht wurde Julius Caesars Eroberung Galliens mit Völkermord verglichen und auch von zeitgenössischen Römern ganz ähnlich kritisiert. Aber die Welt, in die Rom expandierte, war nicht geprägt von Völkern, die friedlich zusammenlebten, sondern von Gewalt, von rivalisierenden Machtbasen, die sich auf Militärgewalt stützten (eine echte Alternative dazu gab es nicht), und von Kleinreichen. Die meisten Feinde der Römer waren ebenso militaristisch wie sie, siegten aber nicht – und die Gründe dafür will ich zu klären versuchen.
Rom war nicht einfach der zu Gewalt neigende kleine Bruder des antiken Griechenland, der sich technischen Meisterleistungen, militärischer Effizienz und Absolutismus verschrieben hatte, während die Griechen Denken, Theater und Demokratie bevorzugten. Manche Römer stellten es gern so dar, und vielen modernen Historikern kommt es gelegen, die antike Welt als simplen Gegensatz zweier äußerst unterschiedlicher Kulturen zu präsentieren. Das ist jedoch irreführend, und zwar in Hinblick auf beide Seiten. Die griechischen Stadtstaaten waren ebenso wild entschlossen, Schlachten zu gewinnen, wie die Römer, und die meisten hatten nicht viel mit dem kurzen Experiment der Athener Demokratie zu tun. Einige römische Schriftsteller waren alles andere als blinde Verfechter imperialer Macht, sondern gehörten zu den vehementesten Kritikern des Imperialismus, die es je gab. »Stehlen, Morden, Rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft und Frieden, wo sie eine Wüste schaffen«, mit diesem Schlagwort wurden die Folgen militärischer Eroberungen häufig zusammengefasst. Geschrieben hat es der römische Historiker Tacitus im 2. Jahrhundert n. Chr. über die römische Herrschaft in Britannien.[5]
Die Geschichte Roms ist eine große Herausforderung, da es nicht nur eine einzige Erzählung gibt, besonders nicht, nachdem die römische Welt sich weit über Italien hinaus ausgedehnt hatte. Die Geschichte Roms ist nicht gleich der Geschichte des römischen Britannien oder des römischen Afrika. Mein Hauptaugenmerk wird sich auf die Stadt Rom und das Italien der Römerzeit richten, ich werde mich aber auch bemühen, Rom von außen zu betrachten, also aus Sicht derjenigen, die als Soldaten, Rebellen oder ehrgeizige Kollaborateure in den weiter entfernten Regionen des Römischen Reiches lebten. Zudem muss die...