2. Kapitel Bedürfnisse und Ziele
1. Was ist ein menschliches Wesen?
Ein Mensch ist ein interessantes Energiesystem, voll dynamischer Strebungen. Wie jedes Energiesystem versucht er ständig, einen Zustand der Ruhe herbeizuführen. Er tut es zwangsläufig. Dazu ist die Energie da; ihre geheimnisvolle Funktion besteht darin, das eigene Gleichgewicht wiederherzustellen.
Wird das machtvolle Gemisch von Luft und Benzin im Zylinder eines Autos durch einen Funken zur Explosion gebracht, dann dehnt es sich zwangsläufig aus, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, das durch die Verdichtung und die elektrische Entflammung gestört worden ist. Wenn es sich ausdehnt, drückt es kräftig gegen den Kolben, der sich zwangsläufig bewegt, so wie sich ein Mensch zwangsläufig bewegt, wenn sein Gleichgewicht durch einen heftigen Stoß gestört worden ist. Stößt der Kolben nach unten, so stört er das Gleichgewicht des gesamten Motors, der sich nun zwangsläufig dreht, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Wenn an dem Auto alles in Ordnung und ein Gang eingelegt ist, wenn der Motor sich zu drehen beginnt, dann setzt sich der Wagen zwangsläufig in Bewegung. So ist er konstruiert.
Auch die Menschen sind so «konstruiert»: wenn gewisse Dinge in ihnen oder in der Außenwelt vorgehen, spielen sich früher oder später zwangsläufig auch bestimmte andere Dinge ab, mit deren Hilfe der Versuch unternommen wird, das verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen.
Beim Menschen macht sich eine aus dem Gleichgewicht geratene Energie oder Spannung sowohl physisch als auch psychisch bemerkbar. Psychisch manifestiert sie sich in einem Gefühl der Ruhelosigkeit und der Angst. Dies Gefühl entsteht aus dem Verlangen heraus, etwas zu suchen, das in der Lage wäre, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen und die Spannung zu lösen. Ein Verlangen dieser Art bezeichnet man als Bedürfnis. Nur lebende Wesen können Bedürfnisse äußern, und sie leben von der Befriedigung dieser Bedürfnisse. Sexualtrieb, Ehrgeiz und das Streben nach Anerkennung sind einige der komplizierteren menschlichen Bedürfnisse, denen wir bestimmte Namen gegeben haben. Es gibt daneben noch zahlreiche andere Bedürfnisse, sowohl bewußte als auch unbewußte; manchen haben wir einen Namen gegeben, anderen nicht. Eine der interessantesten Aufgaben der Psychologie besteht heute darin, Bedürfnisse zu erkennen und ihre Zusammenhänge untereinander zu studieren.
Bei einem intakten Automobil verursacht die Lösung der vorhandenen Spannungen nicht die geringsten Schwierigkeiten, denn in seinem Innern ist bewußt alles so arrangiert, daß die Spannungen sich jeweils nur in einer einzigen Richtung auswirken können. Beim Menschen dagegen tauchen gleichzeitig verschiedene Bedürfnisse auf, die ihn in verschiedene Richtungen zerren; das kann dann dazu führen, daß ihm unbehaglich zumute ist. Ein einfaches Beispiel dafür: ein Mädchen, das kurz vor seinem ersten Tanzstundenball einen Nesselausschlag bekommt, hat das Bedürfnis, sich zu kratzen, und zugleich den Wunsch, sich nicht zu kratzen; bei einem solchen Konflikt zwischen dem Wunsch, die guten Manieren zu wahren, und dem Drang, sich zu kratzen, wird auch die wohlerzogenste junge Dame nervös, noch dazu, wenn sie gerade mit ihrem Partner einen Walzer tanzt.
Das Problem beim Menschen besteht darin, daß es manchmal erforderlich ist, die Lösung von Spannungen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, um neue und unter Umständen noch quälendere Spannungen wie etwa peinliche Verlegenheit zu vermeiden. Damit hängt zusammen, warum manche Menschen in bestimmten Situationen heftige Kopfschmerzen oder stechende Bauchschmerzen bekommen, andere dagegen nicht. Wir werden noch sehen, daß die sich für das menschliche Energiesystem ergebende Notwendigkeit, die Lösung von Spannungen gelegentlich zu verschieben, die Ursache für eine Reihe interessanter Phänomene ist.
Der Mensch ist ein lebendiges Energiesystem, dessen Spannungen bestimmte Bedürfnisse auslösen. Seine Aufgabe ist es, diese Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei in Konflikt mit sich selbst, mit anderen Menschen oder mit der Umwelt zu geraten.
2. Wonach die Menschen suchen
Ohne Einwirkung von außen her wäre der Mensch stets bestrebt, die stärkste der in ihm herrschenden Spannungen dadurch zu lösen, daß er versucht, das ihm am meisten am Herzen liegende Bedürfnis zu befriedigen. Jede Wunscherfüllung bringt ihn seinem Ziel näher: dem Gefühl des inneren Friedens und der Sicherheit beziehungsweise der Freiheit von Angst. Angst ist ein Zeichen innerer Spannungen und läßt sich dadurch reduzieren, daß das Energiegleichgewicht wiederhergestellt wird. Dieses Ziel wird freilich nie ganz erreicht, denn ständig tauchen neue Bedürfnisse auf, und allzu viele Bedürfnisse drängen gleichzeitig nach Befriedigung, so daß häufig schon allein die Möglichkeit, einem einzigen Bedürfnis zu entsprechen, die anderen Bedürfnisspannungen erhöht. Selbst im Schlaf tritt kein Frieden ein – der röchelnde Schnarcher wälzt sich die ganze Nacht hindurch in regelmäßigen Abständen unruhig hin und her.
Das Leben ist voller großer und kleiner Ärgernisse: innere und äußere Frustrationen drohen die Menschen ständig an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu hindern und verstärken auf diese Weise die inneren Spannungen und Angstzustände. Nicht die Ereignisse selbst sind entscheidend, sondern ihre Auswirkung auf die mögliche Wunscherfüllung. Es kann geschehen, daß zwei Menschen zur gleichen Zeit das gleiche Erlebnis haben und daß der eine mit Angst reagiert, während es dem anderen gar nichts ausmacht – es hängt von ihren auf die Zukunft gerichteten Wünschen ab. Es mag so aussehen, als seien die Angstvorstellungen auf das Ereignis zurückzuführen, in Wirklichkeit entstehen sie jedoch nur deshalb, weil dieses Ereignis die Möglichkeiten zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse beeinträchtigt. Nehmen wir an, zwei Autos haben im gleichen Augenblick auf der gleichen Strecke einen Reifenschaden: wieweit die Panne bei den beiden Fahrern Angst auslöst, hängt ausschließlich von ihren Bedürfnissen für die unmittelbare und die weitere Zukunft ab, zum Beispiel davon, wie eilig sie es haben, von ihren finanziellen Verhältnissen, von ihren Begleitern usw. Zu Streichen aufgelegte Oberschüler mögen ein solches Ereignis überhaupt nicht als ernsthafte Panne, sondern als großen Spaß empfinden. Die Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, mag sich für einen Angestellten scheinbar aus der Situation auf dem Arbeitsmarkt ergeben, aber sie taucht nur auf, weil der Betreffende seine Möglichkeiten gefährdet sieht, sich satt zu essen, seinen Nachbarn zu imponieren und seinen Kindern ein glückliches Leben zu ermöglichen. Ein Mann, der nicht für eine Familie sorgen muß und auch nicht das Bedürfnis hat, regelmäßig zu essen oder seinen Nachbarn mit einem chromblitzenden Wagen zu imponieren, wird solchen Ängsten möglicherweise niemals ausgesetzt sein und ist vielleicht vollauf damit zufrieden, als Hippie oder als Philosoph in einer Tonne zu leben. Was die Ängste aufkommen läßt, sind nicht die äußeren Vorgänge, sondern die im Innern schlummernden Bedürfnisse. Wer keine Bedürfnisse hat, kennt keine Angst. Eine Leiche hat kein Lampenfieber, wie groß auch das Publikum ist, das sich ihretwegen versammelt hat.
Die Menschen glauben, sie streben nach Sicherheit, doch in Wirklichkeit streben sie nach einem Gefühl der Sicherheit; denn wirkliche Sicherheit gibt es natürlich gar nicht. Das Gefühl der Sicherheit wird dadurch gesteigert, daß Mittel zur Milderung von Spannungen und Ängsten und zur Befriedigung von Bedürfnissen zur Verfügung stehen; denn das trägt dazu bei, in dem Energiesystem, das der Mensch ist, das Gleichgewicht zu sichern. Wenn wir die Widersprüchlichkeit unserer hauptsächlichen Bedürfnisspannungen erkennen, können wir auch begreifen, warum «das Streben nach Freiheit von Furcht» nicht immer dem entspricht, was wir gemeinhin unter «Streben nach Sicherheit» verstehen.
Lavinia Eris ist ein Beispiel dafür, daß das Gefühl der Sicherheit oder der Unsicherheit nicht so sehr von den äußeren Ereignissen abhängt, sondern mehr von den inneren Vorgängen. Während ihrer College-Zeit bestand Lavinias Hobby darin, Insekten und Schlangen, darunter auch giftige Arten, für das Zoologische Museum zu sammeln. Anfangs gebärdete sie sich sehr ängstlich, wenn sie eine Klapperschlange einfangen sollte, aber nachdem sie sich an den Gedanken gewöhnt und gelernt hatte, mit solchen Tieren umzugehen, fühlte sie sich absolut sicher und kompetent. Einige Jahre später tauchten jedoch in ihren Albträumen häufig Klapperschlangen auf, und in diesem Fall konnte sie sich nicht daran gewöhnen; jeder Albtraum war so schreckenerregend wie der vorangegangene. Die durch starke widersprüchliche Spannungen hervorgerufenen Albträume blieben für sie furchterregend, und es gelang ihr in diesen Träumen niemals, ein Gefühl der Sicherheit zu finden, obwohl keinerlei äußere Gefahr bestand. Gegenüber den wirklichen Schlangen hatte sie dagegen schon bald ein Gefühl der Sicherheit gewonnen, obwohl die äußere Gefahr in keiner Weise geringer geworden war. Die durch die widersprüchlichen Bedürfnisse, die ihren Albträumen zugrunde lagen, hervorgerufene Angst war größer und dauerhafter als die durch den Umgang mit den gefährlichen Reptilien verursachte Furcht.
Die Menschen streben nach einem Gefühl der Sicherheit, indem sie nach vielversprechenden Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer dringendsten Bedürfnisse suchen, aber unglücklicherweise treten andere Bedürfnisse und äußere Faktoren dazwischen. Zwar...