Die Sache mit dem Essen
Viele Frauen haben in unserer schlankheitsbesessenen Zeit Probleme mit ihrer Figur. Von allen Seiten wird uns eingeredet, wir seien zu dick, wenn wir wie Frauen aussehen und nicht wie halbwüchsige Knaben. Also versuchen wir weniger zu essen. Vielleicht nehmen wir dann ab – oder aber der Körper schaltet auf Sparflamme und lernt mit weniger auszukommen. Irgendeine Instanz in uns hat nämlich genaue Vorstellungen von unserer «objektiven» Körperform und strebt langfristig das entsprechende Gewicht immer wieder an. Diese schmerzliche Erkenntnis muß fast jede Frau nach einer Diät machen.
Die meisten Frauen mit «Figurproblemen» bleiben unauffällig. Sie hungern sich das am Wochenende zugenommene Kilo im Verlauf der Woche wieder ab. Und damit ist die Sache erledigt. Daneben aber gibt es Frauen, die sich besonders intensiv mit ihrem Eßverhalten und mit ihrer Figur beschäftigen, deren Denken fast ununterbrochen um diese Themen kreist. Sie können nicht willentlich steuern, wieviel sie essen, sondern der Eßdrang kommt einfach über sie, sie sind ihm ausgeliefert.
Die Geschichte jeder eßgestörten Frau zeigt deutlich, daß die Figur nur das letzte Glied – das Endresultat sozusagen – einer langen Kette von Verhaltensweisen und Einstellungen darstellt, die sich untereinander wiederum beeinflussen. Oberflächlich betrachtet steht am Anfang dieser Kette ein erbarmungsloser Drang zu essen, der zum Eßanfall führt. Als Folge dieses «Versagens» kommen Scham und Schuldgefühle hoch und – je nachdem wie stark das Bedürfnis der Frau ist, die «Kontrolle über sich» wiederzugewinnen – wird sie das «Hinaus» der überschüssigen Kalorien beschleunigen oder auch nicht. Davon, wie gut ihr das «Hinaus» gelingt, hängt unter anderem ihre Figur ab. Aber wieweit ihre jeweilige Figur und ihre subjektive Zufriedenheit dem tatsächlich erreichten Gewicht entsprechen, ist noch eine ganz andere Frage.
Je nach Eßverhalten und Figur der Betroffenen unterteilt man die unterschiedlichen Eßstörungen in drei große Kategorien: Mager-Sucht, Eß-Sucht und Fett-Sucht. Tatsächlich haben diese Krankheitsbilder viele Kennzeichen einer Sucht: das gierige Verlangen nach dem «Stoff», die Heimlichkeit, den «Rausch» oder besser die Vernebelung des Denkens, auf die ein böses Erwachen folgt mit Schuld- und Schamgefühlen und der Beschluß, morgen ein ganz neues Leben anzufangen. Ein Beschluß, der ebensooft gebrochen wie gefaßt wird.
Magersucht ist gekennzeichnet durch eine psychisch bedingte Einschränkung der Nahrungsaufnahme, die u.U. bis zu einer lebensbedrohenden Abmagerung führen kann. Magersüchtige mit ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit, ihrer ausgemergelten, halbverhungerten Gestalt wecken teils Mitleid, teils Bewunderung und manchmal auch Abscheu. Immer aber lösen sie Staunen aus. Sich so unter Kontrolle zu haben, daß man es schafft, fast zu verhungern – das ist «Größe». Die Magersüchtige signalisiert: ‹Ich habe meinen Körper und seine Bedürfnisse unter Kontrolle, und ich verachte Euch, die Ihr so schwach seid und Euren Körperbedürfnissen nachgebt. Ich bin stärker als Ihr, und ich bin Euch überlegen›. Sie hat immer etwas Unnahbares an sich.
Von Eßsucht oder Bulimie spricht man bei psychisch bedingtem, krankhaften Heißhunger. In der Regel erbricht die Eßsüchtige im Anschluß an den Eßanfall den größten Teil der aufgenommenen Nahrung wieder und kann so ihr Gewicht halten. Eine Eßsüchtige wird als perfekt wahrgenommen, etwas streng, arrogant, kühl, über den Dingen stehend. Auch sie weckt Bewunderung, und auch an sie kommt man nicht so recht heran. Sie ist rational, vernünftig, «kopflastig», und man möchte nicht von ihr beurteilt werden. Niemand würde ihr – der Perfekten – zutrauen, daß sie sich vollißt und anschließend erbricht. Es ist ihr Geheimnis, und sie würde es um keinen Preis lüften. Dieses Geheimnis macht sie innerlich einsam, denn diesen Bereich kann sie mit niemandem teilen. Sie ist nach außen hin stark, doch wie es drinnen aussieht, geht niemand etwas an.
Zur Fettsucht führt psychisch bedingter Heißhunger in der Regel dann, wenn das viel zu hohe Nahrungsangebot im Körper verbleibt und nicht oder zu selten wieder erbrochen wird. Die Fettsüchtige ruft in einer Kultur mit schlankem Schönheitsideal Abscheu und Ablehnung hervor. Sie wird als Neutrum gesehen, und sie steht ständig unter dem Druck, abnehmen zu müssen. Sie hat ein dickes Fell, eine Isolierschicht, die sie zwischen sich und anderen aufgebaut hat.
Alle drei Eßstörungen erreichen dasselbe: sie schaffen Distanz: Die Magersüchtige erhebt sich geistig über die «schwachen Mitmenschen», die Eßsüchtige gibt sich anders als sie ist und zeigt nur eine unechte Fassade, und die Fettsüchtige baut einen undurchdringlichen körperlichen Schutzwall um sich auf.
Warum und wozu braucht eine eßgestörte Frau diese Distanz? Nach Thorwald Dethlefsen hängen körperliche Symptome und Psyche in der Form zusammen, daß man im Symptom etwas «hat», was einem im Bewußtsein «fehlt».
Auf die geschaffene Distanz bezogen heißt dies etwas vereinfacht:
Die magersüchtige Frau ist stolz darauf, daß sie ihren Körper so gut im «Griff» hat und ebenso seine Bedürfnisse. Auf der psychischen Ebene dagegen fehlt ihr diese Autonomie. Sie ist nicht selbständig, nicht selbstbestimmt, und sie hat Angst, die mühsam erworbene Kontrolle zu verlieren.
Die eßsüchtige Frau kann nur ihr perfektes Image akzeptieren, ihr eigentliches Wesen, das sie kaum kennt, lehnt sie ab und fürchtet seinen Durchbruch. In ihren Eßanfällen kommt mit Macht dieses Andere, Unbekannte durch, das ihren Perfektionsansprüchen nicht standhält und unschädlich gemacht werden muß. Sie räumt ihrem wahren Selbst psychisch zuwenig Platz ein, so daß es sich auf der körperlichen Ebene einen Durchbruch verschaffen muß. Ihr fehlt im Bewußtsein die Selbstakzeptierung und der Platz für ihr Wesen, so wie es ist.
Die dicke, fettsüchtige Frau grenzt sich körperlich durch ihren Schutzwall ab, weil sie sich psychisch nicht abgrenzen kann. Durch ihre «Häßlichkeit» hält sie sich die Leute buchstäblich vom Leib. Ich habe dicke Frauen erlebt, die – nachdem sie 40 Pfund abgenommen hatten – schleunigst wieder zunahmen, weil sie die Attraktivität ihres neuen Aussehens nicht verkraften konnten. Männer und Frauen verhielten sich plötzlich völlig anders ihnen gegenüber, und sie gerieten in Panik, weil ihr Schutz nicht mehr da war.
Die Kategorien Mager-, Eß- und Fettsucht weisen untereinander mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf, und die Arbeit mit Klientinnen aus allen drei Kategorien hat mir immer deutlicher gezeigt, daß alle Eßstörungen mit Suchtcharakter gemeinsame Wurzeln haben.
Diese Wurzeln, um bei der Analogie zur Pflanze zu bleiben, sind unter der Erde verborgen, unbewußt. Über der Erde und damit sichtbar sind die Äste und Zweige, die den verschiedenen Spielarten der Eßstörungen, einschließlich aller Zwischenformen entsprechen. Natürlich ist es kein Zufall, wenn die eine Frau eine Magersucht und die andere eine Fettsucht entwickelt. Diese Ausprägungsgrade sind Ergebnisse ihrer Lerngeschichten, die genauso unterschiedlich sind wie die Wachstumsbedingungen verschieden geformter Zweige einer Pflanze.
In diesem Buche möchte ich vor allem die allen Eßstörungen gemeinsamen Wurzeln beleuchten. Diese liegen – allgemein gesagt – im ganz frühen Genährtwerden, in der Bedürfnisbefriedigung des Säuglings. Was kann ein Säugling tun, dessen Bedürfnisse nach Nahrung, Schutz, Wärme und Geborgenheit nicht adäquat befriedigt werden? Er kann versuchen, die Mutter «herbeizulocken». Wenn ihm dies jedoch nicht gelingt, dann resigniert er und versucht, seine Bedürfnisse einzuschränken. Das Gefühl, das aus einer solchen Resignation erwächst und bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt, ist das Gefühl, nicht genug bekommen zu haben, zu kurz gekommen zu sein.
Eßgestörte haben aber nicht nur zuwenig bekommen. Häufig haben sie Nahrung, Schutz, Angenommenwerden auch nicht zu dem Zeitpunkt erhalten, zu dem sie Zuwendung gebraucht hätten, sondern dann, wenn die Pflegeperson es für richtig hielt, ihnen etwas zu geben. Was kann ein Säugling unter solchen Bedingungen lernen? Er lernt, zuzugreifen und unerbittlich festzuhalten, wenn er tatsächlich etwas bekommt. Da er noch keinen Zeitbegriff hat, handelt er nach der Devise jetzt oder nie. Dieses Verhaltensmuster läßt sich bei Eßgestörten auch im Erwachsenenalter gut beobachten: Geringe Frustrationstoleranz, Gier, Unersättlichkeit, Anklammern in Freundes- und Partnerbeziehungen sind typisch für Menschen mit Eßstörungen. Das Vertrauen, daß sie genug bekommen werden, und zwar auch in dem Augenblick, in dem sie es wollen, fehlt völlig. Durch ihre Gier und ihr Zugreifen/ Anklammern bewirken sie aber, daß sich Freunde und Partner vor ihnen «schützen» müssen, um nicht «ausgesaugt» zu werden. Dieses «Aussaugen» findet allerdings nur bei den engsten Freunden oder Familienangehörigen statt. Nach außen hin wirken Eßgestörte dagegen meist stark, souverän und kompetent.
Ganz allgemein kann man sagen, daß eßgestörte Frauen (und Männer wahrscheinlich auch) nicht so autonom und selbständig sind, wie ihre Umwelt glaubt. Sie lieben ihr «wahres Selbst» nicht und können weder Forderungen stellen noch Ablehnungen formulieren aus Angst, dann gar nicht mehr gemocht zu werden. Durch ihre Distanz schützen sie sich davor, daß andere ihnen zu nahe kommen. Sie haben Berührungsängste in jeder Hinsicht. Jemanden berühren heißt auch jemanden anrühren,...