Babel – keine Bibel-Hure
Ein Podiumsgespräch mit Peter Sloterdijk, Jörg Widmann und Hans-Klaus Jungheinrich
Hans-Klaus Jungheinrich: In wenigen Wochen wird Jörg Widmanns neue große Oper Babylon in München uraufgeführt, ein Kompositionsauftrag der Bayerischen Staatsoper. Das Libretto zu Babylon, und das ist sicher eine Sensation, stammt von Peter Sloterdijk. Es entstand im Wesentlichen im Jahr 2010. Eine Oper namens Babylon weckt ja allerlei Assoziationen, und mir kam dabei auch ein Titel des späten Karl May in den Sinn: Babel und Bibel, seine einzige Schauspielarbeit, mit der er sich unendliche Mühe machte, die aber keinerlei Gegenliebe fand. Natürlich hat dieses vor gut hundert Jahren entstandene Projekt von May, in dem die ganz großen Menschheitsfragen abgehandelt werden, ein anderes Niveau der philologischen und archäologischen Informiertheit als dasjenige von Sloterdijk und Widmann. Aber gewiss gibt es auch Übereinstimmungen – die vorderasiatische Szenerie, ein imaginäres Kurdistan –, und es gibt, ganz schlicht gesagt, die gemeinsame Intention von Welttheater. Es ist also kein kleines Stück, sondern ein sehr großes Stück, was Peter Sloterdijk da für Jörg Widmann geschrieben hat. Um es vorweg zu sagen: In meinen Augen zeigt sich Sloterdijk, der aktuelle Philosoph, ein brillanter Schriftsteller sowieso, hier als ein wirklicher Dichter. Meine Frage an Peter Sloterdijk: Was hat Sie jetzt dazu bewogen, ein Libretto, ein Opernbüchel, zu schreiben – nach all dem, was Sie bisher geschrieben und veröffentlicht haben, und das ist ja sehr viel. Es ist ja kein Geheimnis, dass Sie 65 werden mussten, bis Ihr erster Operntext nun an die Öffentlichkeit tritt.
Peter Sloterdijk: Karl May hat teilgenommen an einer ungemeinen Vertiefung unseres – des europäischen – Bildes vom Vorderen Orient. Das begann mit der sensationellen Entzifferung der Keilschrift im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Da tauchte hinter der mittelmeerischen Antike – in unserer Wahrnehmung der griechischen, ägyptischen, altisraelischen – mit einem Mal ein untergegangener Kontinent auf. Für die Zeitgenossen des Jahres 1900 etwa bedeutete es eine ungeheure Faszination, aus der Bibliothek des Hammurabi, die in den Kellern des British Museum schlummerte, das Gilgamesch-Epos zu entdecken, das älteste uns heute überhaupt bekannte Epos. Es tauchten Bruchstücke weiterer Mythen einer bis dahin verschollenen Kultur auf. Aus dieser Tiefendimension einer uns neu geschenkten Kultur haben einige Künstler, Intellektuelle und besonders auch Theologen auf die Auferstehung Babylons aus dem Geist der Schriftentzifferung reagiert. An diese Bewegung wollte unsere Annäherung anknüpfen, und wir haben deshalb auch eine sehr mutige szenische Vergegenwärtigung des babylonischen Zentralereignisses, der Sintflut nämlich, gewagt. Ich habe da Jörg Widmann provoziert, indem ich einen fürchterlichen Text geschrieben habe, der ihn zu fürchterlichen Überreaktionen veranlasst hat, aber da es eine enge Beziehung zwischen Kunst und Überreaktion gibt, war es genau das Richtige.
Jungheinrich: Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Hatten Sie gleich die Babylon-Idee oder haben Sie zuerst mehrere Stoffe ventiliert?
Sloterdijk: Hinter so einem Vorgang steckt meistens eine primäre Infektion oder eine Botschaft. Sie wurde in diesem Fall überbracht von meinem Freund, dem Pianisten Siegfried Mauser. In Bezug auf ihn hat Wolfgang Rihm die Charakterisierung von Goethes Mephisto ein wenig deformiert und gesagt: Er ist der Geist, der stets vereint, und das hat sich so bewahrheitet, dass Mauser wie ein professioneller Kuppler Jörg Widmann und mich zusammengeführt hat. Er sagte, dass wir zusammengehörten, und zwar schon immer, und dass wir endlich etwas zusammen machen müssten, das sei einfach unsere Pflicht. Er suggerierte auch, dass das Thema «Babylon» feststehe, und wir brauchten nur noch zu reagieren.
Jungheinrich: Der Untertitel oder die Gattungsbezeichnung heißt ja: ein Maschinenmärchen für die moderne Oper. Eine sehr große und komplizierte Geschichte also. Es gibt nicht nur die Darstellung der Sintflut, sondern auch die Imagination eines babylonischen Karnevals. Es gibt noch viele andere Szenen, wo wirklich die Post abgeht. Dann bekam ich bei der Lektüre des Librettos immer mehr den Eindruck: Peter Sloterdijk ist ein Mensch mit einer sehr feinen und lebhaften musikalischen Sensibilität. Er scheint beim Dichten immer auch schon Musik zu hören; solche, die es noch gar nicht gibt. Seine Texte enthalten viele musikalische Hinweise. Jörg Widmann, haben Sie das als besonders inspirierend für die Komposition empfunden oder doch eher auch als eine Einengung, weil der Librettist für Musik eigentlich nicht zuständig sei …?
Jörg Widmann: Wenn man so argumentieren würde, wäre eine solche Zusammenarbeit gar nicht möglich. Das Schöne bei uns war, dass wir – nicht anmaßend, aber im Bedürfnis, dass etwas Gemeinsames entsteht – jeweils in das Metier des anderen eingegriffen und Vorschläge gemacht haben. Peter Sloterdijk hat ja schon die Sintflutszene erwähnt. Das war in der Tat ein «Mördermonolog» für den Euphrat. Der Fluss tritt als Figur auf und will Zeugnis ablegen, warum er über die Ufer getreten ist, und ruft dann den schönen Satz aus: «Bei wem soll ich schwören?». Normalerweise delegiert man das nach oben und ruft den Himmel an, aber wenn aus diesem Himmel sieben Tage ununterbrochen Grässliches niederprasselt, kann ich nicht mal mehr beim Himmel schwören. Wir haben dann die dramaturgische und singtechnische Problematik der Textmassen für diesen «Riesen-Monolog» so gelöst, dass wir das zwischen der Sängerin und dem Chor aufgeteilt haben. Jetzt ist es also sozusagen ein Dialog zwischen dem personifizierten Euphrat und dem Chor, und da war es die musikalische Strukturierung, die das Libretto beeinflusst hat, und umgekehrt die sehr schöne Idee eines Klarinettensolos zu Beginn dieses zweiten Teils: Peter Sloterdijk erzählte mir eines Morgens, dass er einen Wachtraum gehabt und Klarinettenmusik gehört habe. Wenn ich das schwarz auf weiß im Libretto lese, denke ich: Womöglich habe ich ja eine andere Assoziation. Aber jedes Mal, wenn ich an solche Stellen gekommen bin, hatte es etwas sehr Suggestives. Manchmal «übersetze» ich es natürlich in andere Musik, aber aus dem Libretto weht mich immer etwas Musikalisches an, und ich muss auch sagen, dass Peter Sloterdijk in diesem Stück ein wahrer Dichter ist. Mir hat es noch nie so eine Freude gemacht, Texte zu vertonen, mit Texten umzugehen wie bei Babylon.
Jungheinrich: Es gibt in dieser Oper eine bemerkenswerte Anzahl von Vokalseptetten. Das ist ja eine eher ungewöhnliche Ensemble-Konstellation, auf der Grenze zwischen Solistenformation und kammerchorisch-kollektiver Gestalt. Es gibt das Septett der Wochentage und der ihnen zugehörigen Planeten, das Septett der Phalloi und der Vulven, und es gibt das Septett der Affen. Waren diese Septette für Sie eine besondere kompositorische Herausforderung?
Widmann: Die Septette sind wirklich etwas Besonderes in dieser Oper. Die Siebenzahl kommt aus Babylon – unsere Wochentage und die zugehörigen Planeten sind von den Babyloniern übernommen – und insofern wurde die Sieben für uns ganz zentral. In der Tat tauchte die Frage auf, ob die Septette von Solisten oder Choristen zu übernehmen seien. Die sieben Phalloi und Vulven zum Beispiel: Der Chor wollte sie sich nicht nehmen lassen, er wollte diese Figuren unbedingt gerne singen. Das sieht dann auf den Probenplänen immer sehr lustig aus: «Um 14 Uhr sieben Phalloi».
Jungheinrich: Ein beladenes, ein vielleicht sogar überladenes Stück. Im Laufe der Zusammenarbeit wurde das Libretto wohl auch gekürzt, sodass es doch kein so überladenes Stück mehr ist. Aber es gibt sozusagen auch quasi separate «Stücke» in diesem Stück. Es gibt zum Beispiel ein «Orpheus»-Stück.
Sloterdijk: Noch ein Wort zur Siebenzahl. Die Woche ist dieses zerbrechliche Zeitkunstwerk aus sieben Tagen, das weder eine Grundlage in der Kosmologie noch in solaren Phänomenen hat – der Tag ist natürlich, der Monat ist natürlich, das Jahr ist natürlich, aber die Woche ist eine freie Zeitstiftung aus dem Geist der astralen Theologie. Damit wird nach der Sintflut der Sieg einer rationalen, von Menschen gemachten Ordnung ausgerufen.
Jungheinrich: Und dennoch bedarf es in der Oper eines Menschenopfers, das dann im sechsten Bild revidiert wird. Inanna holt ihren Geliebten Tammu aus der Unterwelt heraus. Der Orpheus-Mythos wird also umgedreht: Es ist die Frau, die den Mann ins Leben zurückbringt. Und die Rettung gelingt. Im Schlussbild kommt es fast zu einer Richard-Strauss-Apotheose, wenn Inanna und Tammu als Sternbilder an den Himmel versetzt werden.
Sloterdijk: In der babylonischen Mythologie gibt es...