Einleitung
0.1 und 0.2 Filmstills aus dem Fox Newsreal 1927
Im Sommer 1927, drei Jahre vor seinem Tod, tritt Sir Arthur Conan Doyle für »Fox Newsreal« vor die Kamera und spricht einzig über zwei Dinge, nach denen man ihn nach eigener Aussage auch ansonsten fortwährend befragt: die Erfindung von Sherlock Holmes und sein Engagement für den Spiritismus.[1] Das ist heute durchaus überraschend: Als Autor der Sherlock-Holmes-Texte kennt man ihn, aber als Verfechter des Geisterglaubens? Schließen sich nicht, so würde man denken, detektivischer Scharfsinn und spiritistischer Unsinn aus? Nicht für Conan Doyle, muß die Antwort lauten. Diese zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, und einige andere ebenso merkwürdige noch dazu. Die Verwunderung über diese befremdliche Koexistenz von etwas, was offenkundig nicht zusammenzugehören scheint, stand auch am Anfang dieses Buches. Sie wurde nicht kleiner, als immer neue Bereiche hinzukamen: der Glaube an die Authentizität von Elfenphotos, aber auch Conan Doyles Engagement für die Aufklärung der Kongo-Greuel, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Kolonialpolitik des belgischen Königs Leopold II., und der Abenteuer-Roman The Lost World mit photographischen Illustrationen einer Reise in die Welt der Dinosaurier. Detektivische wie politische Aufklärungsarbeit und jahrelanges Predigen für die vermeintlich frohe Botschaft des Spiritismus stehen nebeneinander. Ihre eigentümliche Logik zu erkunden und zu erklären ist Aufgabe dieses Buchs. Hat vielleicht nicht, so wäre zu fragen, Sherlock Holmes doch etwas mit dem Spiritismus zu tun, und umgekehrt dieser etwas mit dem Meisterdetektiv? Und was bedeutet es, wenn wir bis heute seine Wohnung in der Baker Street 221B, die es niemals gab, besuchen oder mit der neuen Serie »Sherlock« staunend den Wundern der Aufklärung dunkler Fälle folgen? Hat das nicht auch etwas Magisches? Conan Doyle machte sich über den durchaus verbreiteten Glauben, Sherlock Holmes sei eine real existierende Gestalt, lustig und ist doch stolz, die besondere Gestalt, die wir bis heute alle kennen, erfunden zu haben.
Hören wir noch ein wenig zu, was er seinen Lesern vor fast einem Jahrhundert zu sagen hatte, denn dieses einzige von ihm erhaltene Filmdokument ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Conan Doyle inszeniert sich mit seinem schottischen Dialekt und seinem Walroß-Bart als verläßlicher Zeuge seiner eigenen Geschichte ohne jede Starallüren. Er verläßt sein Haus mit einem Buch in der Hand und in Begleitung seines Hundes. Das Buch legt er mitsamt seinem Hut, den er, als er zu reden beginnt, abnimmt, auf einen Gartentisch, und weist dem Hund daneben seinen Platz zu, um ihn dann während seines zehnminütigen Monologs hin und wieder zu streicheln. Am Ende verabschiedet er sich, nimmt das Buch wieder in die Hand und geht mit dem Hund zurück ins Haus. Nach ihm das Nachleben. Jenes nach dem Tode sei gewiß. Und das Verschwinden Sherlock Holmes’ ebenso. Das ist seine Botschaft.
In dem kurzen Film gibt es keine Fragen, sondern nur Auskunft. Diese nimmt für beide Themen in etwa die gleiche Zeit in Anspruch. Das bedeutet jedoch nicht, daß Conan Doyle Sherlock Holmes ebenso wichtig wäre wie seine spiritistische Botschaft. Letztere liegt ihm nach eigener Auskunft weit mehr am Herzen und soll ihn auch in Zukunft beschäftigen, während die Tage des Detektivs vorüber sind, denn auf neue Sherlock-Holmes-Geschichten werden die Zuschauer vergeblich warten müssen. Für diese finde er angesichts der besonderen Bedeutung der »Neuen Offenbarung«, so der Titel eines seiner Bücher, keine Zeit mehr.[2] Sie habe er zu verkünden. Sherlock-Holmes und der Spiritismus – und das ist das eigentlich Befremdliche seiner Botschaft – werden von Conan Doyle nacheinander und zugleich als miteinander korrespondierend vorgestellt. Allerdings ist es keineswegs so, daß Sherlock Holmes etwas mit dem Spiritismus zu tun hätte; er ist hier vor allem Mittel der rhetorischen Überzeugungsarbeit, der Spiritismus ist ihm gänzlich fremd. Dieser erscheint im »Kanon«, so nennen die Anhänger voller Verehrung das Ensemble der Sherlock-Holmes-Romane und Erzählungen, allenfalls als zu bekämpfender und auszuschließender Fremdkörper. Sherlock Holmes konnte, bemerkenswert genug, mit der Spiritismusbegeisterung seines Schöpfers wenig anfangen und distanziert sich explizit von übernatürlichen Erscheinungen. Hier gibt es keine Geister, nur den scharfsinnigen des Detektivs. So heißt es etwa in »Der Vampir von Sussex«: »Die Agentur hier steht mit beiden Füßen fest auf der Erde, und da muß sie auch bleiben. Uns reicht die Welt schon so, wie sie ist; für Geister haben wir keine Verwendung.«[3] Conan Doyle respektiert diese selbstgesetzten Vorgaben und nimmt dabei sogar in Kauf, daß seine Schriften Bereiche mit unterschiedlichen Regeln haben, die sich wechselseitig ausschließen. Der »Kanon« und die Publikationen zum Spiritismus sind dabei nur zwei von zahlreichen weiteren Feldern. Bereits Conan Doyles erster mehr als nur spiritismusaffiner Biograph John Lamond konstatiert: »Es waren mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Wesen in Arthur Conan Doyle verkörpert.«[4] Sein Werk ist eine eigene Welt, in der in eigentümlicher Weise höchst unterschiedliche und höchst heterogene Diskurs-Kontinente mit eigenen Klimaten und Biotopen koexistieren: Der »Kanon« steht neben zahlreichen historischen Romanen, die Conan Doyle ohnehin für literarisch bedeutsamer als seine Sherlock-Holmes-Texte hielt, und spiritistische Manifeste, wie eine umfangreiche Geschichte des Spiritismus, finden sich neben politischen Interventionen, historische Schriften neben einer Verteidigung der Existenz von Elfen und literarische Essays neben Aufsätzen zur Amateurphotographie und Abenteuerromanen. Das alles und noch viel mehr ist zu erkunden. Und das ist merkwürdig genug, zumal sich die Felder nicht trennscharf in unterschiedliche Phasen seines Werks einteilen lassen.[5] Den Widerstreit, den wir hier ausmachen, scheint es für ihn nicht gegeben zu haben. Es scheint sich vielmehr um harmonische Paralleluniversen zu handeln. Im postmodernen Jargon der 1970er Jahre wurde die Pluralität des Ich als Entdeckung verkündet. »Wir sind viele«, heißt es programmatisch in Rhizom von Deleuze und Guattari, wo diese rhizomatische Vielheit zugleich als eine neue Art des Denkens ausgegeben wird.[6] Doch bereits bei Conan Doyle, der in Habitus und ästhetischer Gestalt eher ein Autor des 19. Jahrhunderts ist und mit den Avantgarden schlicht nichts zu tun hat, ist diese Pluralität Programm. Conan Doyle, der »letzte britische Nationalschriftsteller«,[7] ist gerade in seiner für ihn typischen Existenz als Inkarnation des grundsoliden gesunden Menschenverstands, des common sense, ein Abbild der Widersprüchlichkeiten seiner Zeit. Seine offenkundig absurde und abwegige Begeisterung für die spiritistische Photographie und die Elfenbilder wirkt daher wie eine Provokation. Doch auch wenn uns heute Conan Doyle in seiner Verteidigung des Spiritismus gelinde gesagt merkwürdig vorkommt, teilte er seine Überzeugungen mit mehr als 10 Millionen Amerikanern und erreichte bei seinen Vorträgen, die ihn um die ganze Welt führten, etwa eine halbe Million Zuhörer, die zumeist für den Eintritt bezahlt hatten. Selbst dann, wenn er aus heutigen Augen Extrempositionen einzunehmen scheint, ist Conan Doyle recht gewöhnlich. Wenn wir daher über Conan Doyle sprechen, so sprechen wir eben auch über die Zeit zwischen 1880 und 1930 im allgemeinen, über ein halbes Jahrhundert, das zwischen Indizienparadigma und Spiritismusbegeisterung, der Zeichendeutung im Diesseits und im Jenseits pendelt. Conan Doyle ist wie ein Seismograph dieser Ausschläge; sein Werk zeichnet sie wie eine Fieberkurve nach. Wenn wir seine Texte lesen, so durchstreifen wir das Imaginarium dieser Zeit, das hier üppig wuchert: Darwin, Dinosaurier und Detektive bevölkern es ebenso wie Phantome, Photographien und Phantasien des »schwarzen Kontinents«. Diese wuchernde Vielfalt zeichnet sein Werk wie auch seine Zeit aus.
Im Fox-Film aus dem Sommer 1927 beschränkt sich Conan Doyle hingegen einzig auf Sherlock Holmes und den Spiritismus und beschreibt damit nur einen Teil seines Œuvres. Gleichwohl legt er die Matrix offen, die es gestattet, die konfligierende Heterogenität der Felder in eine friedliche Koexistenz zu überführen. Wie charakterisiert nun Conan Doyle diese beiden Bereiche? Sherlock Holmes verschreibt sich einzig und allein der wissenschaftlich genauen Beobachtung, den Fakten und setzt sich dezidiert vom Spiritismus ab. Dieser wiederum ist, so Conan Doyle über seine eigenen »übersinnlichen Erfahrungen«, ebenfalls auf Fakten gegründet – auch wenn wir heute diese Überzeugung nicht mehr teilen. Hier geht es nicht um Glauben, sondern um Wissen. Das ist Conan Doyles Strategie der Gegenüberstellung: Auf der einen Seite ein fiktiver Detektiv, der auf Fakten setzt, auf der anderen eine auf Fakten gegründete Bewegung, die nicht selten für reine Fiktion gehalten wird. In Conan Doyles Filminterview regiert daher eine inverse Logik: der »Kanon« der Sherlock-Holmes-Texte auf der einen Seite und der noch zu kanonisierende Spiritismus auf der anderen. Beide sind, so Conan Doyle vor der Kamera, in seinem Leben gleich ursprünglich. Erste spiritistische Erfahrungen habe er bereits...