Die Geburtshelferin
Eines Weibes Sinn
wird von den niedrigsten
Motiven beeinflußt.
Livius
Margarete ist das älteste von neun Kindern. Immer wenn sie ihre Tante, die Hebamme, holen mußte, sagte diese: »Was denn, schon wieder? Dein Vater is wohl dämlich?« Und Margarete protestierte regelmäßig: »Was du nur mit Vatern hast, der kann doch nichts dafür, daß der Storch so oft zu Muttern kommt.«
Sie war eine Frühgeburt. Und Frühchen, sagt man, seien Spätentwickler. In ihrem 15. Lebensjahr verliert Margarete innerhalb weniger Monate Vater und Mutter. Die jüngeren Geschwister werden an die Verwandtschaft verteilt. Margarete, bereits im arbeitsfähigen Alter nach damaligem Verständnis, wird nach Berlin geschickt. Sie kommt als Dienstmädchen in ein Lehrerinnenheim am Kurfürstendamm. Helene Lange, Vorsitzende der bürgerlichen Frauenbewegung, arbeitet im Vorstand dieses Heimes. Dessen Insassen: junge Lehrerinnen, Bildhauerinnen, Schauspielerinnen, Angehörige der bürgerlichen Gesellschaft. Sie öffnen dem aufgeschlossenen, sympathischen Mädchen eine neue Welt. Der einen ist sie Dialogpartnerin beim Textlernen für die Rolle des Gretchen im ›Faust‹, der anderen schaut sie beim Malen zu, lernt sehen, erkennen, begreifen, daß der Mensch Teil der Natur ist, seine Beschaffenheit also nicht schamhaft geleugnet werden muß. Sie liest, hört Musik, geht ins Theater, erlebt die Epoche der sozialen Dramen Gerhart Hauptmanns.
Margarete: Es war mein Traum, in Freiheit zu leben, einen Beruf zu haben, unabhängig zu sein. Wenn es sein mußte, auch lebenslänglich ledig. Denn es war Gesetz, daß Frauen im Schuldienst und im Schwesternberuf LEDIG sein mußten. Damals, als ich jung war, glaubte ich, es wäre ein leichtes, darauf zu verzichten, von einem tyrannischen Manne beherrscht zu werden. Ich dachte: Ich heirate nie, da kann der Herr noch so nett sein. Aber daß die Gesellschaft so herzlos war, uns berufstätigen Frauen auch das Recht auf Mutterschaft zu versagen, nur weil wir unser Leben nach eigenem Gutdünken gestalten wollten, diesen Umstand fand ich grausam. Denn für ein illegitimes Kind reichte unsere Courage damals noch nicht.
Empfindsam, voller praktischer Hilfsbereitschaft, will Margarete ihre Erlebnisse in wirksame Tätigkeit umsetzen. Sie beschließt, Krankenschwester zu werden. In der Charité bewirbt sie sich um die Lehrausbildung. Abgelehnt. Sie hat das zulässige Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht, und ihr fehlt auch das Geld für die Unterweisung, Lehrgeld für zwei Jahre. Geld für eine Aussteuer an Wäsche, Schürzen, Hauben, Schuhen und Strümpfen, alles das mußte von den Schwesternschülerinnen aufgebracht werden.
Margarete will nützlich sein. Zahle, wird sie aufgefordert. Kaufe dich ein bei uns, dann wirst du dazugehören. Sie muß sich den Bedingungen beugen, aufgeben wird sie nicht. Arbeitet in Haushaltungen wohlhabender Familien, legt Groschen auf Groschen, um sich eines Tages die Arbeit kaufen zu können, die für sie gleichbedeutend ist mit Glück, Zufriedenheit. Daran glaubt Margarete.
Dann lernt sie Franz kennen, einen »Schofför«.
Margarete: Ich hatte ihn gern, den Franz. Aber ich hatte nicht gerackert bis zu diesem Zeitpunkt, um nun alles wegzuwerfen für einen Mann und eine Stube voller Kinder. Die Plage kannte ich. Stücker acht habe ich mit großziehen helfen. Das hatte mir gereicht. Ich hatte die Krankenküche gelernt, dann lernte ich die Krankenpflege und wollte nun Schwester werden. Die brauchte man immer. Arme Leute, reiche Leute – wenn sie krank sind, brauchen sie die Schwester. Niemals mehr Notstand für mich. Das versuchte ich, Franz begreiflich zu machen. Ich wußte doch, wie es den Mädchen geht, die sich einlassen. Dann kommt ein Kind, und aus ist’s mit der Laufbahn. Von wegen: »Sein hoher Gang, seine edle Gestalt, seines Mundes Lächeln, seiner Augen Gewalt und seiner Rede Zauberfluß, sein Händedruck und ach, sein Kuß!« wie das bei Goethe heißt. Meine Laufbahn sollte anders sein, sagte ich dem Franz. Da paßte kein Mann ins Bild. Eine Schwester mußte ausscheiden aus dem Beruf, wenn sie heiratete. Ich wollte nicht ausscheiden, bevor ich richtig losgelegt hatte. Ich wollte selbständig sein, mein Leben nach meinem Willen ausrichten. Verliebt sein ist schön, aber dann? Dann kommt der Alltag. Eintopfdasein. Das wollte ich nicht. So nicht.
Im Juli 1914 heiraten Franz und Grete. Zuvor gibt ihr der Liebste schriftlich seine Einwilligung, daß sie den Beruf einer Hebamme erlernen darf. Ohne die Zustimmung des Familienoberhauptes kann eine Frau in dieser Zeit keinen Beruf ergreifen.
Eintausend Mark kostet diese Ausbildung. Ihr Franz hat sie gespart, ist bereit, diese Summe zu investieren, um Margarete, seiner Frau, für alle Zeit eine sichere Existenzgrundlage zu geben. Vier Wochen nach der Hochzeit bricht der Erste Weltkrieg aus. Der junge Mann wird eingezogen. Margarete ist schwanger. Als ihr Sohn geboren war, drängte der frischgebackene Vater seine junge Frau, unverzüglich die Berufsausbildung aufzunehmen. Die Möglichkeit, daß er arbeitsunfähig aus dem Krieg zurückkommen könnte oder gar nicht, bestimmte die Eltern, ihr Neugeborenes auf das Land in Pflege zu geben. So kann Grete intensiv ihrer Arbeit nachgehen.
Margarete: War das richtig? So fragte ich mich damals. Ich glaubte das Kind gut aufgehoben bei meiner Schwester. »Sentimental bist du nicht«, wurde mir vorgeworfen. Sentimentalität führte zu nichts, das hatte ich früh erfahren müssen. Dann kam 1918. Die Kapitulation. Der Kaiser ging, die Generale blieben. Mein Mann kam zurück, besuchte den Jungen, und da sah er, daß unser Sohn eine schwere Tuberkulose hatte. Was tun? Ich konnte nicht kranke Soldaten pflegen und mein eigenes Kind opfern. Es mußte sofort in eine Tuberkulosefürsorge. Als ich meinen Sohn holen wollte, war er schon tot. Meningitis.
Die künftige Hebamme, die im Laufe der Jahre Tausenden Kindern zum Leben verhelfen wird, hat nie wieder ein eigenes Kind.
Ein Jahr Krankenpflege lautet die Vorbedingung zur Aufnahme für den Hebammenlehrgang. In der Hasenheide pflegt Margarete gasvergiftete, verstümmelte, erblindete Soldaten. Mit ihnen durchlebt sie die Ereignisse der Novemberrevolution, das Kriegsende.
1920 besteht sie ihr Examen. Zwei Jahre ist sie Hebamme bei den Grauen Schwestern im Monikastift. »Zuflucht zur heiligen Monika« lautet die Adresse.
Margarete: Dort haben die Frauen der Reichen entbunden. Sie kamen aus Südende, Steglitz, Lichterfelde. Mit einem Teil des Geldes, das diese wohlhabenden Wöchnerinnen in die Kasse des Stiftes fließen ließen, wurden die Entbindungen der »gefallenen Mädchen« finanziert.
Ich erlebte Luxus und Elend in extremsten Formen.
Zwischen zwei Wehen, Atempause für Kindesmutter und Hebamme, steht Margarete am Fenster, sieht, wie ein Wagen vorfährt. Vierspännig. An den Türen der Droschke das Wappen der Familie. Der Kutscher in Livree in demütiger Erwartung seiner Herrschaft. Der Stammhalter im spitzenumfluteten Steckkissen, getragen von einer Amme, die Mutter, den Arm voller Blumen, gestützt von ihrem Gemahl, die Mutter Oberin folgt dem überschwenglichen Aufzug. So erlebt es Margarete tagein, tagaus.
Das tiefe Stöhnen einer Kreißenden ruft sie vom Fenster. Ihre ruhigen, freundlichen Anweisungen helfen dem erschöpften Mädchen über die Anstrengungen hinweg. Wenige Tage darauf steht es auf der Straße. Das Kind ist in einen langen Schal gewickelt, die junge Mutter weiß nicht wohin. Sie ist Dienstmädchen, war dem Sohn ihrer Herrschaft ausgeliefert, fristlos entlassen und der Lüge bezichtigt an dem Tag, da sie die UMSTÄNDE eingestehen mußte.
Margarete: So habe ich es erlebt. Immer wieder. Derselbe Anlaß, die Geburt eines Menschen, bringt der einen Mutter Glück, der anderen vertieft es ihr Elend. Ich habe begriffen, daß nicht menschliche Qualitäten einen Lebensverlauf so oder so bestimmen. Die Startplätze der Menschenkinder sind schon verteilt, bevor sie ihren ersten Schrei ausgestoßen haben. Das gab mir zu denken. Ich sprach mit den Müttern, den ledigen, den unglücklichen, denen der Kindersegen zum Fluch wurde. Ich fand heraus, daß neben der Armut die Unwissenheit die schlimmste Feindin dieser Frauen war.
Ich wollte ihnen helfen, ihre Lage zu verändern. Aber wie? Eines hatte ich kapiert: In diesem Hause, bei den Grauen Schwestern, konnte ich das nicht. Hier traf ich nur auf Ergebnisse der Verhältnisse, den Ursachen kam ich da nicht auf den Grund. Ich wollte den Frauen nicht nur Geburtshilfe leisten, sondern wollte Lebenshilfe geben. Also zog ich mit meinem Mann in den Wedding, den Berliner Bezirk mit der höchsten Bevölkerungsdichte, dem Arbeiterzentrum der Stadt.
Er verstellt ihr den Weg, als sie die Straße überqueren will. Jedermann in der Nachbarschaft kennt die Hebamme, ihre stets propere Tracht fällt auf in dieser Gegend, wo Grau die Farbe jeder Saison ist. Ungeduldig fordert der Mann, daß sie mit ihm kommen muß, mit seinem Mädchen ist was nicht in Ordnung. Margarete wehrt ab, ist auch nicht ausgerüstet für schnelle Hilfe. Er, hartnäckig, beharrt darauf, daß sie mit ihm geht.
Das Haus ist wie alle in dieser Gegend: ein Dach über Wohnlöchern. Zahllose Stufen, splittrig ihr Holz, führen vor seine Tür. In der Küche kein Feuer im Herd. Auf dem Tisch Dreifuß, Ahle, Rundnadeln, Zwirn, Wachsklumpen, honiggelb, die Ausrüstung eines Flickschusters. Mit einem Blick erkennt Margarete die Not. Er reißt die Tür auf zu einem Schlafgelaß, stumm weist er auf das Mädchen. Zerrauft, zerschlagen, aufgelöst von Angst und...