Grenzüberschreiter
Grenzüberschreiter konfrontieren Sie mit Übergriffen. Sie regieren in Ihre Entscheidungen hinein, verfügen über Ihre Arbeitsmittel und Ihr Eigentum. Manchmal dringen sie sogar in Ihre Privatsphäre vor. Das geschieht mitunter so liebenswürdig und selbstverständlich, dass man Grenzüberschreiter gewähren lässt. Wer seine Grenzen verteidigen will, wird unversehens in einen zähen Stellungskrieg verwickelt.
Die Probleme mit Grenzüberschreitern entstehen meist in einem schleichenden Prozess, wie die beiden folgenden Fallbeispiele zeigen.
Alfons ist mit seiner Familie in das benachbarte Reihenhaus eingezogen. Schon kurz darauf fragt er, ob er sich den Rasenmäher ausleihen darf. Später bittet er die Nachbarn, für zwei Tage seine Katzen zu füttern. Alfons ist seinerseits großzügig. Er reicht Grillwürstchen über den Zaun und stellt die Mülltonne von Vera und Mark gleich mit auf die Straße. Das Ehepaar ist unangenehm berührt, kann aber nicht richtig greifen, was sie stört. Ist das nicht ganz normale Hilfsbereitschaft unter Nachbarn? Als Alfons aber um ihr Auto bittet – seines sei in der Werkstatt und die Tochter müsse dringend zum Arzt – wird es Mark zu viel. „Ich habe heute einen wichtigen Termin“, behauptet Mark und schämt sich im gleichen Moment für die Notlüge. Warum kann er Alfons nicht einfach offen sagen, dass er jemandem, den er kaum kennt, sein Auto nicht leihen will? Die Antwort findet Mark, als Alfons seine Hecken schneidet und das Buchsbäumchen im Vorgarten seiner Nachbarn schnell mitschneiden will. „Nein, danke, das mache ich selbst“, entfährt es Mark in einem ärgerlichen Tonfall. „Schon gut, schon gut“, beschwichtigt Alfons. „Jeder hat ja so seine eigene Philosophie, wie er seine Büsche schneidet.“ Zwei Tage lang grüßt Alfons nicht und Mark überlegt sich, ob er sich entschuldigen muss. Vera und Mark bemühen sich, wenigstens zu Alfons’ Frau nett zu sein und bald entspannt sich das Verhältnis wieder. Es vergeht aber keine Woche ohne eine weitere unangenehme Situation: Einmal steht Alfons fast nackt in der Tür, nur ein Handtuch um die Hüften, als Vera samstags ein Paket abholen will, das Alfons entgegengenommen hat. Ein anderes Mal drückt er sein Beileid zum Tod der Großtante aus – eine Tatsache, die Alfons eigentlich nicht wissen kann – vermutlich hat er eines der Kinder ausgefragt. „Ich kriege die Paranoia“, sagt Vera, als sie mit Mark schon wieder über Alfons spricht. „So geht das nicht weiter.“
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Edelgards Einstieg als Leiterin eines Kindergartens wirkt vielversprechend. Sie bietet allen im Team gleich das Du an und sorgt für Tee und Gebäck in den Sitzungen. Doch bald verändern die Besprechungen ihren Charakter. Sie ziehen sich in die Länge und drehen sich fast nur noch um Edelgards Anliegen. Wenn die ausführlich besprochen sind, bleibt für die Themen der Kollegen keine Zeit mehr. Deshalb schlägt Dorothee vor, eine Tagesordnung einzuführen und zu Beginn die Besprechungspunkte zu sammeln. Darauf lässt sich Edelgard ein, versteht es aber, ihre Punkte nach vorne zu ziehen: „Darauf muss ich leider bestehen, weil die Zeit drängt.“ Oft geben die Kollegen schon deshalb nach, weil sie nicht wieder zu spät in ihre Gruppen kommen wollen. Viele Entscheidungen, die die Erzieherinnen bisher selbstständig getroffen haben, zieht Edelgard an sich und findet fast immer eine Vorschrift, mit der sie dies begründen kann. Edelgard belehrt die Kolleginnen, wie sie sich im Herbst vor Infekten schützen können und welchen Einfluss es auf die Kinder hat, wenn Erzieherinnen Markenkleidung tragen. Einmal verliert Dorothee die Selbstbeherrschung: „Jetzt hör doch auf, mich zu erziehen. Ich bin ein erwachsener Mensch und eine ausgebildete Fachkraft.“
„Wie redest du denn mit mir?“, kontert Edelgard ruhig, aber streng. „Unsere Zusammenarbeit beruht auf gegenseitigem Respekt. Ich erziehe keinen, ich achte nur auf einige wichtige Dinge, die es braucht, damit es hier gut läuft.“ Dorothee bringt eine entschuldigende Erklärung hervor und räumt das Feld. Es kommt ihr vor, als ob Edelgard nun in ihrer Gruppe besonders häufig nach dem Rechten schaut.
Grenzüberschreiter leben in einer Welt ohne Zäune und Türen. Deshalb verfügen sie über die Zeit, die Mittel und Möglichkeiten anderer, als wären es die eigenen. Sie erleben es als Ablehnung, wenn sich andere abgrenzen, statt sich gegenseitiger Hilfe, persönlichem Austausch und positiver Beeinflussung zu öffnen.
Betrachten wir die Welt noch einen Augenblick durch die Brille von Grenzüberschreitern. Sobald andere Grenzen setzen, fügen sie ihnen etwas ganz Ähnliches zu wie Mobber ihren Opfern. Sie grenzen die Betroffenen aus. Sie schließen sie von Entscheidungsprozessen aus, sie entziehen ihnen den Zugang zu Ressourcen. „Moment mal“, werden Sie vielleicht einwenden, wenn Sie im Kontakt mit einem Grenzüberschreiter stehen. „Aber es geht doch um meine Privatsphäre, meine Entscheidungen und mein Eigentum!“ Aber wer bestimmt denn, was Sie für sich allein beanspruchen dürfen und wo es nur recht und billig ist, andere zu beteiligen? Das ist Definitionssache. Grenzüberschreiter definieren den gemeinsamen Bereich sehr weit und erleben die Abgrenzung anderer daher als eine Art Mobbing. Diese Erfahrung haben sie häufig gemacht und gelernt, ihre vermeintlichen Rechte zu schützen – durch Beharrlichkeit, geschickte kommunikative Manöver und Kampfmittel, die es jedem ungemütlich machen, der sie vermeintlich ausgrenzt.
Mit Abstand betrachtet
Grenzüberschreiter sind beziehungsorientierte Persönlichkeiten mit Gemeinsinn. Sie leisten dort am meisten, wo Einmischung notwendig und erwünscht ist, zum Beispiel in der Kleinkinderziehung. Kinder von Grenzüberschreitern berichten oft von einer innigen, harmonischen Kindheit, bis in der Pubertät schwere Konflikte aufbrechen. Im beruflichen Bereich finden bedürftige Menschen, Praktikanten und Auszubildende in Grenzüberschreitern eine beherzte Führung. Schulgründungen, Bürgerinitiativen oder Hilfswerke sind nicht denkbar ohne die Energie von Grenzüberschreitern, die andere motivieren, ihre persönlichen Grenzen zugunsten einer guten Sache zu überschreiten.
Gleichzeitig setzen Grenzüberschreiter Machtkämpfe in Gang, wo immer sie auftauchen. Manchmal unterliegen sie und werden ausgegrenzt oder tatsächlich gemobbt. Kluge, kompetente Grenzüberschreiter halten das Feld aber so ausdauernd, dass andere aufgeben. Überfordert von den ständigen Kämpfen räumen andere schließlich das Feld. Viele Versetzungen, Kündigungen, Vereins- und Kirchenaustritte sind Grenzüberschreitern geschuldet. Die nahen Bezugspersonen von Grenzüberschreitern leiden oft unter psychosomatischen oder depressiven Beschwerden. Manche passen sich an und schrumpfen zu einer kindlich-abhängigen Persönlichkeit. Sie erleben dadurch eine harmonische Beziehung zu Grenzüberschreitern. Nach einer solchen Deformierung brauchen Betroffene aber oft professionelle Hilfe, um wieder zu sich selbst zu finden.
Verhängnisvollerweise bringen sich Grenzüberschreiter dort am liebsten ein, wo intensive Zusammenarbeit gefragt ist, zum Beispiel in Teams, größeren Unternehmen und Vereinen. Gleichzeitig schätzen sie den Einfluss, den Menschen in Führungspositionen oder als Ausbilder haben. Damit tauchen Grenzüberschreiter genau da auf, wo Konflikte und Machtkämpfe den größten Schaden anrichten.
Falsche Hoffnung, echte Chancen
Nach dem Zusammenstoß mit einem Grenzüberschreiter haben Betroffene vor allem zwei Wünsche. Sie wollen für die strittige Sache eine vernünftige, abschließende Lösung finden. Außerdem würden sie gerne verhindern, dass es zu weiteren Grenzüberschreitungen kommt. Darüber grübeln Betroffene lange, manchmal bis in die Nacht hinein. Sie malen sich die Reaktionen von Grenzüberschreitern aus und ahnen, dass diese einer einvernehmlichen Regelung nicht zustimmen werden. Deshalb lässt man solche Wünsche besser los. Auch wenn einem Konflikte zuwider sind: Solange man in der Nähe eines Grenz-
überschreiters lebt, gehören Auseinandersetzungen zum Leben dazu wie die Eindämmung des Meeres für Küstenbewohner.
Auseinandersetzungen mit Grenzüberschreiter laden sich schnell emotional auf. Dabei gerät das eigentliche Problem leicht aus dem Blickfeld. Bei Machtkämpfen geht es vor allem um eines: um Macht. Nichts ist also wichtiger als eine korrekte Einschätzung der Machtverhältnisse. Wenn es einen Menschen mit Einfluss gibt, der gelegentlich die Grenzen abgesteckt, kann man mit Grenzüberschreitern gut auskommen. Das kann ein Vorgesetzter sein, ein Vereinsvorsitzender oder zur Not auch ein Anwalt. Im Fall von Edelgard fanden die Erzieherinnen einen Rückhalt beim Träger des Kindergartens. Sie dokumentierten die Grenzüberschreitungen und trugen sie auf eine höhere Ebene. Der Träger nahm Gespräche mit Edelgard auf. Als sich dennoch nichts änderte, drängte dieser auf den Vorruhestand von Edelgard, in den sie schließlich einwilligte. In manchen Positionen sind Grenzüberschreiter nicht tragbar. Trotzdem braucht es günstige Bedingungen, um einen Machtkampf zu gewinnen: solidarische Kollegen, die eine Auseinandersetzung wagen, und Verantwortliche auf einer höheren Ebene, die Probleme ernst nehmen und angehen.
Leider sind diese Bedingungen nur selten gegeben und dann heißt es: loslassen. Ein moralisches, fachliches oder juristisches Recht hilft nur, wenn es sich auch durchsetzen lässt. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als zu akzeptieren: Im Leben geht es nicht...