Wie über die Zukunft der Stadt nachdenken?
Stadt steht für Freiheit, Wohlstand, Wachstum und ist der Ursprungsort von Demokratie. Deshalb ist die Stadt Anziehungspunkt für viele Menschen. Zur Stadt gehören aber auch Kolonialisierung, Naturzerstörung und Ausbeutung. Die Stadt der Zukunft muss dieses Erbe überwinden, um Motor einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu sein.
Warum müssen wir über die Zukunft von Stadt nachdenken? Weil immer mehr Menschen in Städten leben und die Welt zunehmend verstädtert. Schon heute lebt weit über die Hälfte der Menschheit in Städten, Tendenz steigend. Und in den reichen westlichen Ländern ist der Urbanisierungsgrad bereits wesentlich höher: In Deutschland leben zum Beispiel 75 Prozent der Menschen in Städten.
Es ist also eine Zukunft vorstellbar, in der alle oder fast alle Menschen in Städten leben. Die Herausforderung besteht dabei nicht in der Frage, warum die Welt verstädtert, sondern wie sie verstädtert. Die Frage nach dem Wie ist eine der zentralen Stellschrauben für die Zukunftsgestaltung.
Gestaltung
Wie aber gestaltet man eine bessere Stadt? Was sind die relevanten Kriterien? Welche Chancen und Perspektiven gibt es, wie stellen wir uns ein glückliches, erfolgreiches oder gelungenes Leben in der Stadt vor? Die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, hängen von vielen Faktoren ab. Je nachdem, aus welcher Denktradition heraus wir die Wirklichkeit beschreiben und interpretieren, stehen andere Faktoren im Fokus: für Juristen zum Beispiel die politische Verfasstheit, für Volkswirtschaftler die ökonomische Ordnung, für Umweltwissenschaftler die ökologischen Rahmenbedingungen, für Kulturwissenschaftler der kulturelle Kontext – um nur eine Auswahl möglicher disziplinärer Perspektiven zu nennen.
Dieses Buch – geschrieben (und gezeichnet) von einem Architekten und einem Stadtplaner – beschreibt mögliche Ansätze zur Verbesserung von Stadt aus der Perspektive der gestalterischen Disziplinen. Unsere Annahme ist, dass der Raum und die Dinge, die uns umgeben, einen wesentlichen Einfluss auf unser Verhältnis zur Welt, auf unsere Lebenschancen und -perspektiven haben. Der Grund für diese Annahme ist, dass der Raum, in dem wir uns befinden, und die Gegenstände, mit denen wir uns und den Raum ausstatten, ganz wesentlich dazu beitragen, wie wir uns zueinander verhalten. Sie sind also in grundlegendem Sinne politisch und gesellschaftlich wirksam. Während eine Verfassung das menschliche Miteinander auf abstrakter Ebene organisiert, ordnet die Lebenswelt das menschliche Miteinander ganz unmittelbar. Wenn immer mehr Menschen in Städten wohnen, lautet die Kernfrage, welche Formen von Zusammenleben die Stadt der Zukunft zulässt oder ermöglicht. Also: Wie gestalten wir Stadt so, dass wir in ihr sinnvoll, friedlich und glücklich zusammenleben?
Überall auf der Welt ziehen Menschen in Städte, weil sie hoffen, in der Stadt ihr Glück zu finden, zu Wohlstand zu kommen, ihre Existenz zu sichern oder zumindest ihre Überlebenschancen zu verbessern. Gleichzeitig erleben viele Menschen Stadt als etwas Bedrohliches, Gefährliches. Stadt, wie sie heute gebaut, organisiert und gelebt wird, verursacht viele soziale Konflikte. Sie ist – noch nicht – der optimale Lebensraum für Menschen.
Neben der sozialen Dimension ist für die Zukunft der Menschheit aber auch die ökologische Perspektive auf Stadt von zentraler Bedeutung. Heute werden in Städten etwa 75 Prozent der global erzeugten Energie verbraucht und rund 80 Prozent der CO2-Emissionen ausgestoßen. Stadt ist also auch ein Ort, an dem große ökologische Probleme verursacht werden. Somit stellt sich die Frage, wie Stadt so gestaltet werden kann, dass sie klimaneutral ist, in ihr kein Müll produziert und keine Ressourcen verschwendet werden. Viele interessante Konzepte und Pilotprojekte versuchen das herauszufinden, zum Beispiel indem sie energiesparende Architektur entwickeln und neue Mobilitätssysteme erproben. Wir werden einige von ihnen in diesem Buch vorstellen.
Doch auch wenn solche Ansätze wichtig sind, sind wir der Überzeugung, dass technische Optimierungen von Stadt zu kurz greifen. Wir vertreten eine These, die an einem viel grundsätzlicheren Punkt ansetzt. Die These besagt, dass das räumliche, soziale und kulturelle Konstrukt »Stadt« selbst der Ursprung und Verursacher einer Vielzahl der Probleme ist, vor denen wir heute stehen. Wenn die Gestaltung von Stadt diese Probleme lösen soll, müssen wir nicht das bestehende Konstrukt technisch optimieren, sondern die Funktionsweisen und das Selbstverständnis von Stadt grundlegend in Frage stellen. Erst dann können wir Handlungsfelder identifizieren, damit wir schon heute an einer besseren Stadt für morgen arbeiten können.
Identität
Folgt man gängigen neoliberalen Modellen, so stehen Städte miteinander in Konkurrenz. Sie werben um die besten Arbeitskräfte und um solvente Investoren. Sie müssen, laut Entwicklungsnarrativ, immer attraktiver für eine zahlungskräftige Klientel werden. Dies erreichen sie, indem sie zum Beispiel Bauland für Großunternehmen billig zur Verfügung stellen, niedrige Steuersätze und geringe Umweltauflagen festlegen oder indem sie eine interessante Markenidentität entwickeln. Eine solche Identität setzt sich zusammen aus kulturellem Angebot (zum Beispiel Kunstgalerien, Museen, Theater-, Konzert- und Opernhäusern oder außergewöhnlicher Architektur), alltäglicher Lebensqualität (Sportmöglichkeiten, Grün-, Frei- und Wasserflächen, Bars, Clubs und Restaurants) und Zugang zu guten Bildungsmöglichkeiten (Kindergärten, Schulen, Universitäten).
Diese Strategie mag für eine auf Wachstum und ökonomische Wertsteigerung ausgelegte Stadtentwicklungspolitik erfolgsversprechend sein – aber nur für Städte, die seit dem explosiven Stadtwachstum Ende des 19. Jahrhunderts hochentwickelt sind, sich derartige Angebote, Infrastrukturen und Investitionen leisten können und über eine entsprechend liquide Bewohnerschaft verfügen. Also: Wenn man sich über die Zukunft der Städte in den reichen, westlichen Ländern Gedanken macht, sind solche Strategien erstrebenswert, die die Lebensqualität erhöhen und gleichzeitig zur Anpassung an und Vermeidung von Klimawandel beitragen. Aber diese Strategien lassen sich nicht so einfach auf die Millionenstädte in den ärmeren Regionen der Welt übertragen. Wenn wir über eine nachhaltige Zukunft im globalen Kontext nachdenken wollen, geht es um etwas anderes als um das ökologische Sahnehäubchen auf einer bereits bestehenden und gut funktionierenden technischen und sozialen Infrastruktur. Wenn wir über Identität von Stadt im globalen Kontext nachdenken wollen, müssen wir grundlegender ansetzen.
Schauen wir dazu in die Entstehungsgeschichte von Stadt. Vor 10–15000 Jahren begannen nomadisch lebende Jäger und Sammler sesshaft zu werden, um gezielt Lebensmittel anzubauen. Sie bewirtschafteten ihr Land so intensiv, dass sie bald nicht mehr ihre gesamte Arbeitskraft dazu aufwenden mussten, Nahrung zu finden. Und sie hatten sogar so viele Nahrungsmittel, dass mehr Menschen großgezogen werden konnten als starben. Die Bevölkerung wuchs, die bestehenden Siedlungen wurden zu klein, sie schlossen sich zu Dörfern zusammen, und erste Städte entstanden, in denen die Menschen dicht an dicht wohnten. Menschen, die sich vorher nicht kannten, trafen aufeinander. Austausch und Arbeitsteilung beflügelten die Entwicklung, Kunst und Handwerk blühten auf. Die entstandenen Städte vernetzten sich untereinander. Es formierte sich das, was wir heute »Zivilisation« nennen. Das urbane Phänomen »Zivilisation« umfasst nicht nur wirtschaftliches Wachstum, technische Innovationen und die Herausbildung einer Kultur mit spezifischen Vorstellungen über Religion und Kunst, sondern auch das, was wir heute Politik nennen – ein Begriff, der vom griechischen Wort für Stadt, »polis«, abstammt. Menschen im alten Griechenland dachten darüber nach, wie sie das Leben auf engstem Raum am besten organisieren konnten, und so wurde schließlich die Idee der Demokratie geboren. Stadt steht für Freiheit – wie der aus dem Mittelalter stammende Satz »Stadtluft macht frei« noch immer verspricht.
Doch Stadt, und auch das zählt zu ihrer Identität, war keineswegs immer ein friedlicher Raum. Stadt war – und ist – ein expansiver Raum. Bei aller kulturellen Pracht, die Städte entfalten, bei aller Energie und Innovation, die von Städten ausgehen – Städte waren immer darauf angewiesen, dass ihnen von außen Energie, Nahrungsmittel und Menschen zuströmten. Man kann sich Städte in allen Zeiten und Kulturen ansehen – die aztekischen Städtebünde, Babylon, das in Vorderasien Kolonien gründete, Athen, das den ganzen Mittelmeerraum dominierte, das alte Rom, das von einer Stadt aus ein Weltreich begründete, oder die italienischen Städte der Renaissance, von Städten gehen immer auch Herrschaftsansprüche, Kriege und Kolonialisierung aus. Es ist ihr Quellcode, Teil der Identität von Stadt.
Wenn wir also heute über die Zukunft der Stadt nachdenken und dabei ihre Identität ins Zentrum stellen, gilt es, den Quellcode von Stadt zu überwinden. Es soll nicht länger um Konkurrenz gehen, sondern um Kooperation, es geht nicht um Expansion, sondern um Vernetzung, nicht um Ausbeutung der umgebenden Umwelt (was in Zeiten der Globalisierung ja immer die...