ELISABETH GRUBER – ANDREAS WEIGL
Stadt und Gewalt
Am 2. Jänner 1404 traf der Stadtrat einer österreichischen Kleinstadt in seiner Funktion als Gerichtsinstanz niederer Gerichtsbarkeit eine Entscheidung in einem Konflikt zwischen Ehepartnern. Dabei bekannte sich der Bürger Hans Marbek schuldig, seine Gattin Katharina ungebührlich behandelt zu haben. Er gelobte, weder bey nacht, noch bey tag, weder messer noch schwert über sey zuekhen [...] noch khain anndere unbeschaidener zucht mit ier nicht treiben, inn meinem hauß noch inn meinem pedt, denn das ainem piderman mit seiner hausfrauen woll unnd frümbcleich anstet.1 Darüber hinaus wies ihn der Rat jedoch darauf hin, dass es ihm selbstverständlich erlaubt sei, seine Ehefrau bei Tag angemessen zu strafen, falls etwas vorfallen sollte, was zucht unnd pesserung verlangt.
Die häusliche Gewalt eines Hausvaters umfasste Kompetenzen und Verpflichtungen gegenüber den verschiedenen Mitgliedern des Haushaltes, und jedenfalls besaß der Hausvater das Recht auf Gehorsam und Arbeitsleistung, das er mit Züchtigungen durchsetzen konnte. Seine potestas (engl. power oder franz. pouvoir) – so die mittelalterliche Auffassung von Gewalt – bezieht sich auf die Vorstellung von einer institutionalisierten, rechtmäßigen Herrschaft über Sachen, Personen und ihre Organisationsformen. In diesem Sinne ist Gewalt positiv konnotiert und unter Bezug auf das mittelalterliche Verständnis von Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung legitimiert.2 So vertritt etwa der Theologe Irenäus von Lyon im 13. Jahrhundert erstmals die Auffassung, die Einführung der Herrschaft sei ein Akt der Fürsorge Gottes, um die selbstzerstörerischen Kräfte des Bösen in der menschlichen Natur zu bannen.3 Dieses Verständnis von Gewalt findet sich auch noch im 19. Jahrhundert, etwa im Kirchenlexikon der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, wo das Thema Gewalt ausführlich diskutiert wird.4 Neben der väterlichen, häuslichen und staatlichen Gewalt wird dort auch die kirchliche Gewalt als Gewalt über Leben und Tod der Seelen definiert und legitimiert.
Die Herstellung von Ordnung ist eng mit der Ausübung von und der Abwehr illegitimer Gewalt verbunden. Für die spätmittelalterliche Stadt als „räumliche Verdichtungszone“5 des Zusammenlebens vieler Menschen unterschiedlicher sozialer und geografischer Herkunft nimmt die Herstellung von Ordnung eine wichtige Stellung ein. Abseits höfischer und klösterlicher Lebensformen boten Städte die Möglichkeit, sich in eine – oftmals wirtschaftlich begründete – Gemeinschaft zu integrieren, die bestimmten Regeln folgte: Der Bürgereid vereinte Gleichgestellte und verpflichtete sie aufeinander. Dieser Eid unter Gleichrangigen zielte auf eine langfristig angelegte, innere Friedens- und Rechtsgemeinschaft ab, um nach außen hin die Durchsetzung gemeinsamer Interessen zu erlangen. Stadtgemeinde und Rat stellten die äußere Repräsentation und die Formalisierung dieser Gemeinschaft dar. Diese Gemeinschaft musste geschützt werden – am besten mit einer starken Mauer. Die Mauer ist bis heute ein Symbol für den Schutz gegenüber Aggression von außen, sie grenzt die Stadt von ihrem Umland ab, erschwert den Zutritt, bleibt aber durchlässig für jene, die berechtigt sind.6 Die Wirkung der Abgrenzung zum (Um-)Land blieb freilich ambivalent. Bereits die zeitgenössische Wahrnehmung der Stadt sowohl als eigener Friedensbereich als auch als Ort von Gefahr und moralischer Anfechtungen lässt Stadt als Modell gesellschaftlicher Ordnung und Unordnung erscheinen. Unter dem Eindruck von Konflikten und innerstädtischen Auseinandersetzungen um Mitgestaltungsrechte, etwa in Form von Zunftaufständen oder beispielsweise im Versuch der Handwerker Wiens zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ihre Vertreter in den Stadtrat zu entsenden, erschien die Systematisierung und Formalisierung von Rechten und Pflichten umso notwendiger. Die Herstellung und Sicherstellung von Ordnung durch Ausübung der ihr zuerkannten ordnenden Gewalt erscheint daher vordringliche Aufgabe der städtischen Obrigkeiten. Diese bemerkenswerte Regelungsleistung basierte weniger auf obrigkeitlichen Vorgaben von außen, sondern entstand in einem intensiven Kommunikationsprozess zwischen den städtischen Akteuren und deren Fähigkeit, etablierte städtische Grundwerte, wie etwa Friede, Einigkeit, Freiheit sowohl in Form von Privilegierungen als auch persönlicher Freiheitsrechte und Rechtssicherheit zu bündeln und zu einer allgemein anerkannten Leitlinie für politisches und soziales Handeln zu integrieren. Diese Ordnungsleistung war umso notwendiger, als besonders städtische Gesellschaften mit sehr ausgeprägten, differenzierten, sich überschneidenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zurechtkommen mussten. So übernahmen die Stadtverwaltungen und Bürger der Stadteliten nach und nach Einrichtungen der Fürsorge, die zuvor von geistlichen Institutionen getragen wurden. Verarmte und erkrankte Stadtbewohner wurden in überall entstehenden Bürgerspitälern versorgt, „würdige“ Bettler erhielten Almosen, „unwürdigen“ drohte jedoch die Vertreibung. Für die städtische Ordnungs- und Strafpolitik spielten Vermittlerfiguren aus dem religiösen Kontext wie etwa Stadtheilige und deren Verehrung eine wichtige Rolle.7 Damit wird die religiöse Erinnerungs- und Heilsgemeinschaft in periodischen Abständen durch Formen „sanfter Gewalt“ aktiviert, um ihre Mitglieder an die geteilten und für unhintergehbar erachteten Normen zu erinnern.8
In der frühen Neuzeit und der Verdichtung von Territorialherrschaft trat zu diesem stadtbürgerlichen Ordnungsmodell das (vor-)staatliche in Konkurrenz, wenn sich auch die Intentionen der landesfürstlichen „Polizey“ nicht grundlegend von jenen der Bürgergemeinde unterschieden und inkludierende und exkludierende Strategien der Inhaber staatlicher Gewalt häufig jenen städtischer Obrigkeiten ähnelten. Für städtische Autonomie blieb allerdings dabei immer weniger Platz.
Für die bürgerliche Elite des 19. Jahrhunderts übte daher das Modell der mittelalterlichen Stadt große Faszination aus, sahen sie doch darin die Grundlage ihrer Freiheitsbestrebungen begründet. Unter dem Eindruck der im Laufe des 19. Jahrhunderts expandierenden Städte setzte eine intensive länderübergreifende Auseinandersetzung über den adäquaten Umgang mit Stadtwachstum, sanitärer Not, Pauperisierung und Proletarisierung der städtischen Bevölkerungen ein. Im Zuge dieses Prozesses erlangte die kommunale Autonomie eine gewisse Aufwertung, allerdings in ständiger Konkurrenz mit dem staatlichen Gewaltmonopol, besonders akzentuiert in den administrativen Zentren, den Hauptstädten. Dynamischer Städtebau, Zuwanderung und Modernisierung machten wie manche andere urbane Zentren auch Wien, die Hauptstadt der Habsburgermonarchie, zur Metropole.9 Ihre Bedeutung als regionales Wirtschaftszentrum und ihre politische Funktion als Hauptstadt bedingte eine hohe Dichte von Interaktion(en), die im Raum der Stadt stattfanden.10
Die Bedeutung der Stadt als Ordnungsraum gewann im Industriezeitalter eine neue Qualität. Symbolische wie physische Besetzung städtischer Teilräume, durch Herrschaftsarchitektur und Denkmäler ebenso wie durch Aufmärsche und Demonstrationen wurden zum kontroversiellen politischen Thema.11 Kollektive Gewalt äußerte sich in blutigen Straßenkämpfen zwischen urbanen Teilpopulationen, in ethnischen Vertreibungen und Pogromen und im Widerstand gegen staatliche und städtische Obrigkeit. Angesichts zunehmender Komplexität und angesichts der Einbindung in größere politische, wirtschaftliche und technologische Systeme verschob sich der Ort der Regelung hin zur staatlichen Ebene.
Kriegerische Gewalt hatte schon seit den mittelalterlichen Anfängen das städtische Ordnungsmodell bedroht. Die Befestigungsanlagen der Stadt boten Schutz, aber waren sie im Zuge oft langwieriger Belagerungen einmal überwunden, dann drohte von den stürmenden Angreifern ein grenzenloses Massaker bis hin zur völligen Zerstörung der Stadt, eine „Magdeburgisierung“, um ein spektakuläres Beispiel aus dem „Dreißigjährigen Krieg“ zu zitieren.12 Im 18. und 19. Jahrhundert verloren die Verteidigungsanlagen der Städte, sieht man von Festungsstädten einmal ab, zwar in vielen Fällen ihre militärische Bedeutung. Strategisch blieben Großstädte jedoch weiterhin wichtige Ziele militärischer Gewalt: als Kommandozentralen, als Standorte von Kriegsindustrien und nicht zuletzt als Machtsymbole des Gegners. Moderne Kriegsführung erschöpfte sich keineswegs nur in Bombardements und Sturmangriffen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, des ersten modernen Krieges, richteten sich Hungerblockaden gegen die Bevölkerung der feindlichen Macht an der „Heimatfront“. Gleichzeitig waren die großen Metropolen Orte diffiziler Propagandaschlachten. Ob Soldat, Arbeiter und Arbeiterin in der Kriegsindustrie, Hausfrauen oder Kinder. Der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts konnte sich gerade in den Großstädten niemand...