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E-Book

Stalking - das Praxishandbuch

Opferhilfe, Täterintervention, Strafverfolgung

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783170302822
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,99 EUR
Das Phänomen Stalking erregt große mediale Aufmerksamkeit und stellt neue Herausforderungen an Justiz, Psychiatrie und die gesamte psychosoziale Beratungslandschaft: Wie kann den betroffenen Personen durch unsere Gesellschaft und durch professionelle Helfer Schutz geboten werden? Wie können Menschen, die stalken, zum Aufhören gebracht werden, damit für beide Seiten wieder ein selbstbestimmtes Leben möglich wird? Erfahrene Juristen, Praktiker und Wissenschaftler kommen im Buch genauso zu Wort wie ratsuchende Opfer und Täter selbst. Die Vorstellung wirkungsorientierter Beratungsmodule macht ein bewährtes Vorgehen in der Arbeit mit Menschen, die gestalkt werden und mit Menschen, die stalken, anschaulich. Die beteiligten Berufsgruppen (Rechts- und Staatsanwälte, Polizisten, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter) können diese Module mit ihrer eigenen Expertise verknüpfen und in ihr Praxisfeld integrieren. Von Berufseinsteigern bis hin zu erfahrenen Profis - sie alle profitieren von einem ausführlichen Glossar, in dem Fachbegriffe handlungsbezogen erläutert werden sowie der Dokumentation wichtiger Gesetzestexte - inklusive des neuen Nachstellungsgesetzes §238 StGB!

Wolf Ortiz-Müller, Leiter der Beratungsstelle Stop-Stalking in Berlin, ist psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Lehrbeauftragter und Dozent für Stalking, Krisenintervention und Suizidalität. Mit Beiträgen von: Christine Doering, Helene Hille, Gernot Hahn, Johannes Lenk, Olga Siepelmeyer, Marcin Jankowski, Guido Pliska, Silke Rabe, Jochen Gladow, Steffen Lau, Harald Dreßing, Frank Winter, Christina Clemm, Suzan van der Aa, Heidi Winterer, Andreas Heinz, Katrin Streich, Jens Hoffmann, Chantal Mörsen und Thorsten Niemann.

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Leseprobe

 

Grußwort


Dirk Kurbjuweit


 

 

Ein Mann kommt in eine Kneipe und ruft: »Freibier für alle, ich habe gerade meine Frau erschossen.« Alle freuen sich, guter Witz. Dann stellt sich heraus, dass es kein Witz ist. Der Mann hat seine Frau tatsächlich erschossen. Die Polizei wird gerufen.

Ich habe diese Geschichte nach einer Lesung gehört, von dem Buchhändler. Er kannte die Frau, sie war Teilhaberin der Buchhandlung und wohnte gegenüber. Ihr Ex-Mann hat sie nach der Trennung gestalkt und bedroht. Niemand half ihr.

Seitdem ich den Roman »Angst« geschrieben habe, wurden mir viele solcher Geschichten erzählt. Dies ist die krasseste. Opfer von Stalking schreiben mir oder kommen zu meinen Lesungen. Sie fragen mich, ob ich ihnen helfen könne. Aber ich kann ihnen nicht helfen. Ich gebe ihnen die Adresse einer Hilfsorganisation, eine Adresse, die sie schon haben. Wieder ist für sie eine kleine Hoffnung geplatzt.

Menschen, die gestalkt werden, leiden vor allem unter der Hilflosigkeit. Ich weiß das, seitdem meine Familie gestalkt wurde, vor dreizehn Jahren. Wir waren auch hilflos, jedenfalls lange Zeit, bis dann doch Hilfe kam. Wir haben Glück gehabt. Diese Erlebnisse habe ich in dem Roman »Angst« verarbeitet, aber erst zehn Jahre später, nachdem die Wunden verheilt waren. Ich musste nichts mehr verarbeiten, es war nur noch ein interessanter Stoff, auch wenn das vielleicht ein bisschen zynisch klingt. Schriftsteller denken so. Ihr Leben wird zum Erzählstoff.

Weil ich Journalist und Schriftsteller bin, hatte ich viele Stalker. Sie lesen meine Geschichten, finden darin etwas, das sie in besonderer Weise anspricht und wollen mich kennenlernen. Sie schreiben mir, sie rufen mich an. Manchmal ist das harmlos, ein kurzer Versuch, manchmal wird es zum Stalking. Sie rufen täglich an, sie rufen zwölfmal am Tag an, sie reden mir stundenlang auf die Mobilbox, sie warten an der Tür meines Büros, sie schreiben lange, lange Briefe, die Seiten ohne Rand, ohne Abstand zwischen den Zeilen, kleine Buchstaben. Das sind ausnahmslos Frauen.

Es ist nie etwas Schlimmes passiert. Es hat genervt, und nun ist es schon eine Weile her, dass es zuletzt geschah. Ich würde mich in diesen Fällen nicht ein Stalkingopfer nennen. Meine Kollegen erzählen ähnliche Geschichten, es gehört wohl zum Beruf.

Aber einmal war es anders, da war es ein Mann.

Die Kinder waren klein, wir kauften uns im Berliner Südwesten eine Wohnung mit Garten. Ein hübsches Haus, früher ein Einfamilienhaus, jetzt in vier Wohnungen unterteilt, vom Souterrain bis zum Dachgeschoss. Wir kauften die Wohnung im Hochparterre. Vorher trafen wir die anderen Bewohner, und da war auch ein Mann aus dem Souterrain, ein alter Mann. Nette Leute. Wir erwarteten eine gute Nachbarschaft. Was wir nicht erfuhren: Im Souterrain lebte auch ein jüngerer Mann.

Als ich ihn, nach dem Einzug, zum ersten Mal sah, war ich schockiert. Er sah irgendwie seltsam aus, klein, dick, aber das war es nicht. Da war etwas Gehetztes, Unruhiges in seinem Blick. Ich schämte mich ein bisschen für diesen Gedanken. Man soll doch Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen.

Bald lag Kuchen auf unserer Fußmatte, selbst gebacken. Ein Zettel: auf gute Nachbarschaft. So hat es begonnen.

Er backte Kekse. Er backte Kuchen. Er backte Pizza. Dann wieder Kekse. Kuchen. Pizza. Wir redeten mit ihm. Das sei doch nicht nötig, wir waren nett, verständnisvoll. Wenn meine damalige Frau Bettina vom Einkaufen zurückkehrte, drückte er den Summer für die Gartenpforte, damit sie bequem hereinkam. Er hatte die ganze Zeit gewartet. Zu Sylvester stieg er aus seinem Souterrain und schoss mit einer scharfen Pistole in die Luft. Er hatte eine Pistole, das wusste ich nun.

Er machte unverschämte Anspielungen gegenüber Bettina, er wurde frech. Wir redeten mit ihm, bestimmt, scharf. Er zog sich zurück. Wir dachten, dass wir es geschafft hätten.

Nach ein paar Monaten musste ich verreisen. In einer der Nächte, als Bettina allein mit den beiden Kindern zu Hause war, versuchte er, in unsere Wohnung einzudringen. Sie rief die Polizei, er wurde ermahnt. Ich flog am nächsten Tag zurück. Im Gebüsch unter unserem Schlafzimmer fand ich eine Leiter.

Von da an schrieb er Briefe. Er schrieb, dass er uns die ganze Zeit beobachtet habe, weil wir unsere Kinder sexuell missbrauchen würden. Er würde Anzeige erstatten. Ich will nicht noch einmal die ganze Geschichte erzählen. Es war die Hölle. Wir haben alles versucht, ihn loszuwerden, mit einer Anwältin, über die Polizei, Ämter, seinen Vermieter. Wir hatten Angst um die Kinder, ich hatte Angst um Bettina, wir wollten ausziehen, aber wir waren auch trotzig. Wir hatten ihm nichts getan, seine Anschuldigungen waren der reine Blödsinn, und wir wollten nicht vor dem Unrecht weichen. Wenn er bis Weihnachten nicht verschwunden ist, sagten wir, ziehen wir aus, verkaufen mit Verlust. Raus aus der Hölle. Es waren noch fünf Monate bis Weihnachten.

Ich hatte Mordphantasien. Freunde empfahlen mir tschetschenische Türsteher und deutsche Rocker. Die würden das Problem schon lösen. Man ist da plötzlich in einer anderen Welt. Der Firniss der Zivilisation ist wahrlich dünn. Aber wir waren im Recht und wollten uns nicht ins Unrecht setzen.

Dann kam Hilfe. Wir hatten die ganze Zeit Kontakt zu einer Kriminalpsychologin. Wir brachten ihr die Briefe, wir erzählten von unserem Leid, unseren inneren Kämpfen. Sie sagte, dass sie uns nicht helfen könne, solange der Stalker nicht gegen Gesetze verstoße. Das tat er nicht, er war schlau. Wenn er aber freiwillig käme, sagte sie, könne sie etwas tun.

Eines Tages, als er wieder infame Anschuldigungen ausgesprochen hatte, rannte ich ins Souterrain und schrie ihm durch die Tür einige unfreundliche Sätze zu. Aber auch diese Worte: Sie sind krank, Sie müssen sich helfen lassen.

Am nächsten Tag rief er mich an. Er hatte meine Handynummer von den frühen, den freundlichen Tagen. Er hatte immer dunkle und helle Phasen. Den einen Tag hängte er einen Zettel in den Hausflur, auf dem er beschrieb, was wir vor einer Stunde angeblich mit unseren Kindern gemacht hätten. Am nächsten Tag hing dort ein Zettel, auf dem stand, dass er das alles nur erfunden habe, dass es ihm leid täte und er nie wieder einen solchen Scheiß behaupten würde. Am folgenden Tag ...

Offenkundig hatte er wieder eine helle Phase. Er sagte, er habe über meinen Satz nachgedacht, dass er krank sei und Hilfe brauche. Er habe manchmal auch diesen Eindruck. Ob ich ihm helfen könne? Ich musste fast lachen. Ich kann Ihnen nicht helfen, sagte ich, aber ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann. Ich gab ihm die Nummer der Kriminalpsychologin. Zwei Tage später sah ich ihn mit einem Köfferchen durch die Gartenpforte gehen. Er kam nicht mehr wieder.

Die Kriminalpsychologin durfte uns nicht sagen, wo er war. Aber sie sagte, dass er dort nicht weg könne, wir müssten uns keine Sorgen machen. Nach einem halben Jahr kam ein Brief, in dem er sich für alles entschuldigte, für die üblen Behauptungen, die Nachstellungen. Wir haben natürlich nicht geantwortet. Nach zwei Jahren erfuhren wir, dass er gestorben war, Herzinfarkt.

Für mich ist diese Geschichte heute fast mehr Literatur als Leben. Ich habe das Buch geschrieben, in dem Randolph Tiefenthaler die Dinge so ähnlich erlebt, wie ich sie erlebt habe und doch anders. Es gibt ein Theaterstück, ein Hörspiel, bald gibt es einen Film. Wir haben das gut überstanden, er spielt keine Rolle für uns. Manchmal mache ich mit den Kindern einen Witz über Herrn Tiberius. Das ist sein Name im Roman, nicht sein echter.

Wenn ich das vergleiche mit den Geschichten, die ich inzwischen gehört und gelesen habe, hatten wir Glück. Wir wurden unseren Stalker nach relativ kurzer Zeit los, andere müssen Jahre damit leben.

Bei den Lesungen, wie gesagt, habe ich viel schlimmere Geschichten gehört. Nachdem ich gelesen habe, kann das Publikum Fragen stellen, und manchmal stand jemand auf und erzählte seine Geschichte. Die anderen Leute waren bald genervt, weil sie zu einer Lesung gekommen waren und über Literatur reden wollten. Mir taten diese Stalkingopfer unendlich leid. Sie wollten, dass ihnen jemand zuhört.

Ich bin kein Experte für diese Sache. Ich kann nur meine Geschichte erzählen. Manchmal regen sich Leute auf, weil Tiefenthaler so passiv war, weil er den Tiberius nicht einfach zusammengeschlagen hat. Oder sie fordern scharfe Gesetze. Ich sage dann, dass ich das schwierig finde. Stalking entsteht oft aus Liebeskummer und Einsamkeit, und in diesen Zuständen macht man schon mal dumme Sachen. Es ist schwer, eine Grenze zu ziehen, ab wann das Gesetz seine Krallen zeigt, aber es muss Krallen haben, falls sich die dummen Sachen zur Hölle addieren und zu Verbrechen werden.

Ich kann nicht beurteilen, ob das neue Anti-Stalking-Gesetz die Lage der Opfer verbessert. Ich hoffe es sehr. Damals gab es kein Gesetz, das uns helfen konnte, und es wäre ein großer Fortschritt, wenn es das jetzt gäbe. Man muss wohl abwarten,...

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