Die Definition des Begriffs Kultur ist gleichzeitig Kern und Kernproblem der kulturvergleichenden Forschung. Je nach Forschungsdisziplin und -gegenstand werden bei der Definition und Operationalisierung des Begriffs verschiedene Aspekte ausgewählt und andere vernachlässigt (Jahoda, 2012, S. 300). Minkov (2013) setzte sich intensiv mit der Vielzahl existierender Kulturdefinitionen auseinander und gelangte letztlich zu einem sehr salomonischen, aber wenig praktikablen Urteil. „Culture can be pragmatically defined by the contents and boundaries of the interests of the scholars who study it“ (S. 11).
Geert Hofstede bezieht sich in seinem Kulturverständnis auf eine Definition von Kroeber und Kluckhohn (1952): „Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behavior acquired and transmitted by symbols, (. . .) including their embodiments in artifacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e. historically derived and selected) ideas and especially their attached values“ (S. 357). Kroeber und Kluckhohn integrieren in ihre Definition sowohl materielle Artefakte und Symbole als Manifestation von Kultur, als auch psychologische Aspekte, betonen jedoch explizit die Wichtigkeit von Werten (values) als Basis und Kernstück von Kultur. Hofstede (1984) greift dieses Verständnis von ideellen Werten als Grundlage kulturellen Verständnisses auf und basiert seine Forschung auf folgender Definition: „I treat culture as the collective programming of the mind distinguishing the members of one group or category of people from another“ (1984, S. 21). Der Begriff ‚mind’ im Sinne von Verstand steht bei Hofstede für Denken, Fühlen und Handeln, gesteuert von unterliegenden Werten, die zwar per se unsichtbar sind, sich jedoch in sichtbaren Elementen von Kultur, wie Symbolen oder menschlichem Handeln manifestieren können (Hofstede, 2001, S. 9f).
Auch das internationale Forschungsteam hinter dem GLOBE Projekt rund um Robert House nimmt bei seiner Definition des Konstrukts Kultur die psychologische Perspektive ein und spricht von Kultur als „shared motives, values, beliefs, identities, and interpretations or meanings of significant events that result from common experiences of members of collectives that are transmitted across generations“ (House, Hanges, Javidan, Dorfman & Gupta, 2004, S. 15). Beiden Definitionen ist also der Fokus auf Werte als Kern von Kultur gemein, die erlernt und innerhalb von Kollektiven (z.B. Nationen) weitergegeben werden.
Abbildung 4: Das Zwiebelmodell von Hofstede
Quelle: Hofstede, 2001, S. 11
Wie aus den vorgestellten Definitionen hervorgeht, stützen sich sowohl Hofstede als auch das GLOBE Projektteam bei der Operationalisierung von Kultur auf die Messung von Werten (values). Hofstede (1984, S. 18) definiert einen Wert als „a broad tendency to prefer certain states of affairs over others“ (S. 18). Werte sind per se unsichtbar und implizit, können sich aber physisch manifestieren. Kultur selbst enthält also im Kern unsichtbare Werte und wird sichtbar in sogenannten Praktiken (Hofstede, 2011, S. 23; Hofstede, 2001, S. 10). Hofstedes Zwiebelmodell (siehe Abb. 1) veranschaulicht dieses Verhältnis von sichtbaren und unsichtbaren Bestandteilen von Kultur.
Wertesysteme sind die ‚mentale Software’ einer Gesellschaft, „shared by major groups in the population“ (Hofstede, 2001, S. 11). Praktiken sind die physische Manifestation dieser Werte in Form von Ritualen, sogenannten Helden (Personen mit einem hohen Symbolgehalt für eine Kultur) und Symbolen (Hofstede, 2001, S. 10). Hofstede unterscheidet strikt zwischen Werten, die ein Mensch als wünschenswert (the desirable) ansieht und solchen, die er selbst tatsächlich vertritt (the desired), also „how people think the world ought to be, versus what people want for themselves“ (Hofstede et al., 2010, S. 28). Hofstede betont ausdrücklich, dass diese beiden Arten von Werten nicht zwangsläufig deckungsgleich sind. Seine Dimensionen basieren laut eigener Aussage deshalb ausschließlich auf der Abfrage von persönlich vertretenen Werten (Hofstede, 2010, S. 1340f.).
Die Wissenschaftler des GLOBE Projekts beziehen sich bei ihrer Operationalisierung des Kulturbegriffs nach eigenen Angaben auf Hofstede und dessen Verständnis von Kultur, bei genauerer Betrachtung ergeben sich hier jedoch große Diskrepanzen bei der Besetzung der Begrifflichkeiten. Wie in Hofstedes Zwiebelmodell spricht die GLOBE Gruppe von Werten und Praktiken als Aspekte von Kultur (House et al., 2004, S. 16). Das Verständnis hinter den Begriffen ist jedoch ein vollkommen anderes. GLOBE formuliert seine Items zur Abfrage von Praktiken als die Frage nach dem ‚As is’, und seine Items zu Werten als Frage nach dem ‚As should be’ (House et al., 2004, S. 98). Was GLOBE als Werte (values) bezeichnet, entspricht also durch die Formulierung ‚As should be’ Hofstedes Werten als ‚the desirable’, und nicht den von ihm gemessenen Werten als ‚the desired’. Unter Praktiken wird abgefragt, wie ein Studienteilnehmer die Ausprägung bestimmter Werte in der eigenen Gesellschaft einschätzt. Praktiken sind also in diesem Fall auch Werte, nämlich deren tatsächliche Ausprägung in einer
Gesellschaft, wie vom Befragten wahrgenommen. Alle Items werden also immer in zwei Formulierungen abgefragt, einmal dahingehend wie ein Sachverhalt tatsächlich ist und einmal wie er sein sollte (siehe Abbildung 5).
Abbildung 5: Item der GLOBE-Dimension 'Uncertainty Avoidance', abgefragt nach Werten und Praktiken
Quelle: House et al., 2004, S. 620
Betrachtet man allerdings die Formulierung von Hofstedes Items genauer, zeigt sich, dass er in der Fragestellung nicht ausschließlich Sachverhalte, wie sie tatsächlich sind, abfragt, sondern für jede Dimension auch Items existieren, die danach fragen, wie etwas sein sollte. Die Gegenüberstellung von zwei der drei Items zur Abbildung von Hofstedes Dimension ‚Uncertainty Avoidance’ in Abbildung 6 verdeutlicht dies. Genau genommen unterscheidet Hofstede nicht sauber zwischen Werten als ‚the desired’ und ‚the desirable’. Er fragt also Werte und Praktiken da gemeinsam ab, wo GLOBE diese beiden Begriffe getrennt abfragt. Trotz gleicher Begrifflichkeiten messen die beiden Studien also unterschiedliche Aspekte des Konstrukts Kultur. Dieser Unterschied ist bei der Interpretation und vor allem dem Vergleich der Ergebnisse zu beachten und hat in der Forschungsgemeinschaft für viel Verwirrung gesorgt (De Mooij, 2013, S. 260).
Abbildung 6: Unterschiedliche Formulierung der Items zur Abfrage von Uncertainty Avoidance nach Hofstede
Quelle: Eigene Darstellung nach Hofstede, 2001, S. 469 & 47
4.3.1.1. Studienüberblick
Hofstedes Forschung wird als eines der einflussreichsten Konzepte zur Abbildung nationaler und organisationaler Kultur angesehen (Kirkman, Lowe & Gibson, 2006, S. 37; Soares, Farhangmehr & Shoham, 2007, S. 280; Steenkamp, 2001, S. 31). Hofstedes ursprüngliches Forschungsinteresse lag im Bereich internationales Personalwesen und Führung. Mit der Zeit entdeckte jedoch auch die Marketing- und Werbeforschung Hofstedes Kulturdimensionen für sich (De Mooij, 2014; Kale, 1991; Leng & Botelho, 2010; Samaha, 2014). Grundlage für Hofstedes Forschung war eine, zwischen 1967 und 1973 zweimalig durchgeführte schriftliche Befragung von über 117.000 Mitarbeitern des US-Konzerns IBM in 65 Ländern (Hofstede, 1984, S. 45f.). Die zunächst vier, später sechs Dimensionen von Kultur entwickelte Hofstede erst im Laufe der Datenauswertung basierend auf Korrelationen zwischen Variablen (Hofstede et al., 2010, S. 30ff.). Die jüngsten der beiden Dimensionen, Long-Term Orientation und Indulgence, basieren auf Forschungen anderer Wissenschaftler (Hofstede & Bond, 1988; Minkov, 2013) und wurden nachträglich in das Modell aufgenommen.
Mittels dieser sechs Dimensionen Power Distance (PD)
Uncertainty Avoidance (UA)
Individualism (ID)
Masculinity (MAS)
Long-Term Orientation (LTO)
Indulgence (IVR)[3]
konnte Hofstede für jedes Land einen Wert pro Dimension ermitteln und so Länder und deren Kulturen auf einer Skala von 0 bis 100 (Hofstede, k.D.), bzw. 0 bis 120 in Relation zueinander setzen[4]. Bei diesen Werten handelt es sich immer um den Durchschnitt aus den Individualwerten innerhalb einer Kulturgruppe, also Nation.
4.3.1.2 Die sechs Dimensionen im Detail
Power Distance
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