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Kapitel 2
Dieses Kapitel enthält folgende Themen:
● Medikamente und Alternativen
● Ernährung und Neurofeedback
● Sehr viele Behandlungswege stehen Ihnen offen
● Ein therapeutisches Gesamtkonzept aus christlicher Sicht
● Ein ausführliches Fallbeispiel
Wenn Sie sich die Geschichte am Anfang des vorhergehenden Kapitels nochmals herholen, dann endete sie mit der Aussage des Doktors, dass wir es vermutlich nicht mit Legasthenie oder Dyskalkulie zu tun hätten, sondern mit Aufmerksamkeitsdefiziten und schon alles versucht hätten. Jetzt könnten wir es nur noch mit Medikamenten probieren. Genau das wollte ich nicht hören! Doch dann machte man mir in der Gemeinschaftspraxis sehr deutlich, dass wir das Medikament jederzeit wieder absetzen könnten, wenn wir den Eindruck hätten, dass es nicht gut ankäme. Natürlich sollten wir in Kontakt bleiben, aber am Ende wären wir die Erziehungsberechtigten und hätten die Wahl. Es müsse zuerst die Dosis gut eingestellt werden. Dies gehe nur Schritt für Schritt, denn man beginnt mit einer geringen Menge des Wirkstoffs Methylphenidat (heute gibt es wesentlich mehr erprobte Wirkstoffe). Diese steigere man, bis die Auffälligkeiten sich deutlich verbessern würden. Manchmal wirke es jedoch auch nicht. Wenn Nebenwirkungen auftreten würden, könnten wir es abklären und ggf. absetzen. Wir, die Eltern, würden entscheiden, was das Beste für unser Kind sei. Dieses klare Statement überzeugte mich. Wir waren also nicht abhängig und nicht getrieben, sondern jederzeit Herr der Lage. Das gefiel mir. Wir konnten ausschließlich auf das Kind schauen und uns unsere Meinung bilden.
An dieser Stelle wünschte ich mir in der gesellschaftlichen Diskussion viel mehr Sachlichkeit und Gelassenheit sowie die Erkenntnis, dass Eltern von AD(H)S-Kindern jederzeit handlungsfähig sind und nicht ein für alle Mal das Opfer von Medikamenten, wenn sie es wagen sollten, die einmal auszutesten. Man sollte weder Ängste schüren, die dann von den Gegnern zu gerne für die eigenen Ziele (eigene Therapieangebote, politische Ziele etc.) instrumentalisiert werden, noch die Gier von Großkonzernen bedienen.
Nachdem die positive Wirkung der Medikamente bei unserem Kind schon nach zwei oder drei Tagen eintrat, bestätigte dies auch eine psychologische Kontrolluntersuchung nach einigen Wochen. Vor der medikamentösen Behandlung lag der Konzentrationsleistungswert unseres Kindes im Vergleich zur Gruppe der Gleichaltrigen noch bei unter 10 %. Einige Zeit nach der eingeleiteten Behandlung lag dieser Wert zu unserem Erstaunen bei ca. 65 %! Man muss kein Statistiker sein, um zu erkennen, dass so etwas keine zu vernachlässigende Zufallsschwankung ist.
Die Auswirkungen auf die Schulleistungen und die Schulfreude wurden rasch deutlich. Das Kind konnte ein so reizarmes und wenig anregendes Material wie Zahlen und Buchstaben viel besser behalten. Durch die erhöhte Aufmerksamkeitsspanne konnte der trockene Stoff besser ins Langzeitgedächtnis rutschen. Immer wiederkehrende Versagensgefühle (»Das schaff ich nie!«), viele Tränen und ein Riesenberg Schulunlust hatten ein Ende gefunden. Für das Selbstwertgefühl war es wichtig zu erfahren: »Ich bin nicht dumm. Die anderen sind nicht immer besser.« So machte die Schule wieder mehr Spaß. Zwar ist die Begeisterung aus der ersten Klasse nie zurückgekehrt, doch die Motivation ist wiedergekommen und erstmals konnte das Kind sein tatsächliches Potenzial ausloten.
Offensichtlich gehörten wir zu den 80 %, bei denen die Therapie anschlägt. Nun blieb vieles im Gedächtnis hängen. Nach einiger Zeit wurden es zehn Fehler statt zwanzig, fünf statt zehn und irgendwann zwei oder drei. Meine Frau änderte das Üben nicht, auch schon vorher hatte das Kind zu Hause alles richtig, doch am nächsten Tag in der Schule war es wie weggeblasen. Jetzt passierte das nicht mehr, und so ging es langsam und auch dank der Entlastung (freiwillig von der dritten in die zweite Klasse) aufwärts.
Das Hausaufgabendrama veränderte sich ebenfalls. Die Wutausbrüche wurden seltener. Nach langer Zeit fragte ich mich sogar, wo die impulsiven Ausbrüche in der Hausaufgabenzeit geblieben seien, die vor den Medikamenten so kennzeichnend gewesen waren. Sie schlichen sich ganz langsam davon und kamen nicht mehr zurück.
In dieser Zeit haben wir uns stark bemüht, all die pädagogischen Erkenntnisse umzusetzen, über die ich in den folgenden Kapiteln berichte. Vieles war von der Bibel inspiriert und von meinem Dienst als christlicher Psychologe. So waren es nie die Medikamente allein, doch damit fing es damals an und ist oft die Grundlage für erfolgreiches Handeln von Pädagogen und Therapeuten.
Meine Frau würde sagen, dass die Schul- und Hausaufgabenzeit nie einfach war und das Lernen nie leichtfiel. Dennoch gab es eine Zeit, in der ich den Eindruck hatte, dass wir uns ausgerechnet über dieses Kind am wenigsten Gedanken machten. Es gab ja noch die anderen und wir sammelten unsere Erfahrungen mit Logopäden, Ergotherapeuten, Gutachtern, Legasthenietherapeuten u. a. Meine Frau blieb aber standhaft und sagte häufig: »Gott mutet mir die Kinder nicht zu. Er traut sie mir zu.«
Unser Kind mit AD(H)S produzierte derweil Fantastisches aus Ton, Pappe, Stoff und allen Materialien, die in den handwerklich ausgerichteten Schulfächern angeboten wurden. Es war unglaublich. Schließlich landeten die Sachen fast immer in den Ausstellungsvitrinen der Eingangshallen. Hier bahnte sich eine Stärke an, die sich früh in den Zeugnissen widerspiegelte.
Fazit: Die Angst vor Medikamenten ist oft übertrieben, denn man kann sie jederzeit wieder absetzen. Es können auch wieder ruhigere Zeiten kommen, wenn das Gesamtpaket an Unterstützung passt.
Der Schwerpunkt meiner AD(H)S-Arbeit liegt ganz klar auf den Trainingsmöglichkeiten: auf den Stärken (erkennen und fördern, selbst eine neue Sicht vom Kind gewinnen), Herzensbegegnungen, Alltagsfertigkeiten (klare Wünsche formulieren/Fragen stellen mit Blickkontakt, genau hinschauen, genau hinhören), auf den Gefühlen, Entscheidungen oder den diversen Strukturierungsmöglichkeiten einschließlich der Lernstrukturen. Und doch bin ich immer wieder nach den Medikamenten und ihren Alternativen gefragt worden. Ich gehe davon aus, dass auch Sie dieses Thema interessiert.
Erst kürzlich wurde ich eingeladen, einen Abendvortrag dazu zu halten mit abschließender Austausch- und Fragenrunde. Als die Zeit um war, wollte keiner nach Hause gehen, sondern es wurden weiter Fragen gestellt. Ich fuhr schließlich aufgebaut und dankbar über die ehrliche Suche der Eltern und Lehrer nach Hause.
Wir gingen an dem Abend von den neu eingeführten Schweregraden von AD(H)S aus. Denn es gibt wie geschildert drei Erscheinungsbilder von AD(H)S, die in drei Schweregraden auftreten können. Auf diese Weise können dreimal drei, also neun verschiedene Varianten von AD(H)S diagnostiziert werden. Besonders interessant ist nun, dass die drei Varianten mit leichter Betroffenheit keine medikamentöse Behandlung benötigen, wohl aber andere Maßnahmen. Banaschewski et al. sagen in ihrer Analyse der Metaanalysen: »Im Vorschulalter und bei leicht ausgeprägter Symptomatik im Schulalter ist immer der Verhaltenstherapie der Vorzug zu geben.«32 Bei moderater Symptomlage sehen sie eine Einzelfallabwägung im Vordergrund.
Wenn jedoch eine stark ausgeprägte AD(H)S mit erheblichen Beeinträchtigungen situationsübergreifend vorliegt, ist ab dem Schulalter eine primäre medikamentöse Therapie indiziert.33 Dies alles erklärend voraus, denn ich finde sehr wichtig festzuhalten: Trotz AD(H)S-Diagnose muss auch auf medizinischer Basis nicht in allen Fällen eine medikamentöse Therapie erfolgen! Nachdem das geklärt ist, gehen wir nun zum Inhalt des Vortragsabends über:
● Leichte Betroffenheit bedeutet: medikamentöse Behandlung nicht erforderlich, wohl aber andere Maßnahmen.
● Mittelschwere Betroffenheit: medikamentöse Behandlung gilt als erforderlich. Kinder/Jugendliche leiden neben AD(H)S zunehmend unter Begleit- und Folgestörungen (Komorbiditäten).
● Schwere Betroffenheit: Kinder/Jugendliche leiden auch an gestörtem Sozialverhalten und haben ein ausgeprägtes Risiko für Suchterkrankungen/Abgleiten in Kriminalität. Ohne medizinische Behandlung gelten sie als kaum (re)sozialisierbar.
Bei Medikamenten für AD(H)Sler handelt es sich in der Regel um Stimulanzien. Es ist nicht so, dass unruhige Kinder mit »Psychopillen« ruhiggestellt werden, wie immer wieder behauptet wird. Das wäre einfach und leicht abzutun. Wer so etwas sagt, hat bedauerlicherweise die Wirkungsweise noch nicht ganz verstanden. Es handelt sich tatsächlich um stimulierende Wirkstoffe wie Methylphenidat. Unruhige Kinder werden ruhiger, indem ihr Gehirn stimuliert wird. Nun können sie sich besser konzentrieren und zappeln nicht mehr dauernd vor sich hin. Es sind also keine Beruhigungsmittel, wie manche uns weismachen wollen, sondern Medikamente, die salopp gesagt jeden aufputschen, nur diese Kinder nicht. Sie werden ruhiger. Ist das nicht erstaunlich? Gleichzeitig können sich aber auch die verträumten und trödeligen Kinder mit AD(H)S besser konzentrieren. Sie erhalten dieselben...