17. JUNI 2015, DER GROSSE TAG, VON SAINT-JEAN-PIED-DE-PORT NACH RONCESVALLES
Der große Tag ist schneller gekommen als gedacht!
26 Kilometer und 1 400 Höhenmeter von Saint-Jean- Pied-de-Port über die Pyrenäen nach Roncesvalles – auf was hab ich mich da bloß eingelassen?
Schon kurz vor sechs wurde ich wach, mehr als fünf Mal musste ich in der Nacht aufs Klo – eine durch die Aufregung geförderte Konfirmandenblase. So ging es etwas unausgeschlafen in meinen ersten Tag und in meine erste Etappe auf dem Jakobsweg.
Laut Foren und Pilgerführer, die ich ausführlich studiert habe, stand mir die anstrengendste und härteste Etappe der ganzen Tour bevor, da sie eben durch die Berge führt. Ich „Vegan Fat Ass“ war noch nie in den Bergen, deshalb war abzusehen, dass das Ganze kein Spaziergang wird, sondern ein nervenzerfetzender, blutiger Krieg gegen meinen inneren Schweinehund.
Nach einem kleinen Frühstück aus den Resten des gestrigen Einkaufs und einem sehr großzügigen Matcha ging’s erst mal völlig orientierungslos auf die Straße. Vor der Herberge fragte ich mich dann: Muss ich jetzt links oder rechts, um auf den Jakobsweg zu kommen? Was hatte der Herbergsvater noch mal gesagt? Vergessen…
Also lief ich erst mal rechts runter und suchte nach den Pilgerzeichen, der Muschel oder ersatzweise irgendwelchen gelben Pfeilen, aber irgendwie konnte ich keine finden.
Warum hab ich Vollpfosten denn nicht gestern schon geschaut, wo’s langgeht? Bin doch früh genug da gewesen…
Also ab in den nächsten Laden, ironischerweise eine Fleischerei, und fragen. Dort wusste man, dass ich natürlich in die falsche Richtung gelaufen bin, und wies mir meinen Weg.
Später überlegte ich, ob diese Auskunft eigentlich vegan war.
Ich überquerte die Nive und ging in Richtung der uralten Stadtmauer, wo ich die Altstadt durch einen Torbogen verließ. Dann war ich tatsächlich auf dem Jakobsweg. Die ersten gelben Pfeile und Muscheln kamen in Sichtweite – und kurz darauf auch das allererste Rätsel, denn an einer Gabelung entdeckte ich ein gelbes Kreuz. Wieso denn jetzt ein Kreuz? Ich dachte, hier gibt’s nur Pfeile?
Eine nette Dame, jenseits der 60 und nach der ersten kleinen Steigung natürlich viel weniger aus der Puste als ich, wusste die Antwort: „Da, wo die Kreuze sind, nicht reingehen, falscher Weg.“
Okay, darauf hätte ich auch selbst kommen können, aber ich war immer noch so überwältigt von allem, dass ich kaum klar denken konnte. Zudem hat meine Lunge, wie eben schon kurz angedeutet, bereits nach der ersten minimalen Steigung, die in etwa so hoch war wie ein Weinberg an der Mosel, einen halben Kollaps bekommen. Wenn die gewusst hätte, was heute noch alles auf sie zukommt…
Im Gegensatz zu gestern regnete es wenigstens nicht wie aus Eimern, sondern war mild und schön.
Kurze Zeit später begann allerdings ein Kampf, den ich mir vorher nicht hätte vorstellen können und auf den ich mich, trotz aller Trainingsläufe, auch nicht vorbereiten konnte. Was nun kam, war der Kampf meines Lebens, gegen die Schwerkraft, gegen mein eigenes Gewicht und das meines Rucksacks sowie gegen die restlichen 1 350 Höhenmeter, die nach dem kleinen Vorspiel nun noch vor mir lagen.
Ich habe einfach nicht die richtigen Worte für das, was ich in diesen Stunden des mühevollen Aufstiegs durchgemacht habe. Dieser Kampf gegen meinen inneren Schweinehund und gegen meine Psyche, die mir immer wieder sagte, dass ich aufgeben soll, aufgeben muss, war wirklich das Härteste, was ich je in meinem Leben durchgemacht habe.
Jeder der kurvenreichen, serpentinenartigen Aufstiege kostete mich all meinen Willen und all meine Kraft. Meine Lunge, durch mehr als 20 Jahre Kettenrauchen ziemlich vorgeschädigt, zeigte mir deutlich, dass es eine gute Idee gewesen wäre, schon viel früher das Rauchen sein zu lassen.
Allerdings sagte mein Kopf mir auch in jeder Sekunde des sechs Stunden dauernden Aufstiegs, wie gut es war, dass ich vor zwei Jahren Veganer wurde, was ja auch der Anfang von meinem Leben als Straight Edger war, sodass ich heute weder rauche noch Alkohol trinke oder sonstige Drogen zu mir nehme, wenn man mal von einem gelegentlichen Espresso absieht. Das Vorhaben, den Jakobsweg zu gehen, wäre ansonsten ziemlich unmöglich gewesen. Auch die Tatsache, dass ich seitdem 35 Kilo abgenommen habe, hat ihren Teil dazu beigetragen, dass all das überhaupt erst möglich wurde.
Während ich mich langsam voranschleppte, versuchte ich mir all das immer wieder bewusst zu machen. Egal, wie weh es gerade tat und wie hart es erschien, war mir in jedem Moment klar, dass ich ohne all diese Veränderungen nun nicht am Fuße der beeindruckenden Pyrenäen stehen und es wagen würde, sie auf den eigenen Füßen zu durchwandern. So versuchte ich, meinen inneren Schweinehund zu überwinden.
Diese Erkenntnis machte es allerdings auch nicht einfacher.
Bei jedem Stopp, den ich einlegte, musste ich mich schwer auf meine Trekkingstöcke stützen, um Luft ringen und den Schwindelgefühlen trotzen. Das Pochen meines Herzens konnte ich in meinem Kopf spüren und hören. Mit jedem Pilger, der mich überholte, fühlte ich mich armseliger und schwächer. Da waren Menschen dabei, die gut doppelt so alt waren wie ich, aber ich quälte mich hier ab wie ein Weichei.
All das weckte dann auch den Trotz und das Kämpferherz in mir. Eine richtige Wut auf all den Mist, den ich meinem Körper all die Jahre zuvor angetan hatte, kam auf und zwang mich immer wieder dazu, ein Stück weiterzugehen. Auf manchen Abschnitten konnte ich nur 15 bis 20 kleine Schritten gehen und musste dann 20 Sekunden stehen bleiben, um wieder nach Luft zu ringen. „Nur nicht aufgeben“, sagte ich zu mir selbst, „don’t stop walking, stay true and never give up. Stefano, du hast dir diesen Weg selbst ausgesucht, also kämpf dich da durch, verdammte Axt!“
Der aufkommende Nebel erschwerte den Aufstieg zusätzlich, teilweise konnte ich keine zehn Meter weit sehen, also auch den Gipfel nicht. So konnte ich nicht abschätzen, wie weit ich schon gekommen war.
Nun, wo ich diese Zeilen schreibe, denke ich, dass es letztendlich ganz gut war, den Gipfel nicht zu sehen, denn das hätte eventuell auch ganz schön demotivierend sein können. Aber wer weiß, vielleicht hätte mich das Ganze auch mental hochgezogen.
Die Landschaft war wie im Märchen. Ich durchquerte einen urigen Buchenwald bis zur Rolandsquelle und rechnete jeden Moment damit, dass ein Gandalf aus einer dunklen Ecke springt und mich anschreit: „You shall not pass!“
An der Quelle konnte ich meine langsam schwindenden Wasservorräte wieder auffüllen. Gepimpt mit drei Teebeuteln grünem Sencha gab mir das Wasser neuen Schwung und Elan. Schließlich stand mir nachher auch noch der berühmt-berüchtigte Abstieg bevor, so kam der gesunde Energiekick durch meinen geliebten Grüntee genau richtig.
Bei der berühmten Rolandsquelle, die auf etwa 1 200 Metern liegt, machte ich, wie schon Hape Kerkeling vor mir, eine erste längere Pause. Ich war komplett unterzuckert, hatte migräneähnliche Kopfschmerzen und war leicht dehydriert, weil ich wegen des ständigen Ringens um Sauerstoff vergessen hatte, genug zu trinken. Dazu kamen Seitenstechen und völlig überforderte, zitterende Muskeln in den Beinen.
Ein Liter kaltes Wasser aus dem Trinksystem meines Rucksacks – rückblickend eine der besten Kaufentscheidungen überhaupt –, die Reste vom Vortag sowie Datteln und Bananen gaben mir so viel Energie zurück, dass ich weiterlaufen konnte. Irgendwann war ich dann auch so weit ausgeruht, dass ich weiterstolperte.
Nach insgesamt etwa fünf bis sechs Stunden öffnete sich endlich der Nebel und ich erblickte 500 bis 600 Meter vor mir den Gipfel, eine riesige Schafherde sowie viele Pilger, die schon kurz vor mir angekommen waren und mindestens genauso außer Atem waren wie ich. Was ich nicht bedacht hatte, war, dass die Luft in 1 400 Metern Höhe für jeden, der das nicht gewohnt ist, schon ziemlich dünn wird. Aber dieser Anblick war, auch wenn es sich unheimlich kitschig anhört, wirklich wunderschön und majestätisch. Man kann es kaum beschreiben, so beeindruckend war es.
Ich kann allen, die die Möglichkeit haben, nur raten, einmal selbst diesen Gipfel hochzusteigen und es sich anzusehen. Auch keines meiner Fotos kann nur annähernd wiedergeben, wie es wirklich war. Selbst abends in der Pilgerherberge, als ich mir die Fotos des Tages noch mal ansah, kamen mir fast die Tränen, weil mich der Anblick des Gipfels und das Gefühl, es wirklich geschafft zu haben, so berührten.
Allerdings hatte das Erlebnis auf dem Gipfel auch einen bitteren Beigeschmack.
« Der Gipfel. Kaum oben, reißt der dichte Nebel auf.
Auch wenn ich es hätte ahnen können, überraschte mich 100 Meter weiter die Tatsache, dass sich manche Menschen selbst inmitten dieser perfekten Schönheit der Natur, die wir vor die Nase gesetzt und geschenkt bekommen, wie die letzten Arschlöcher aufführen. Hinter einem Windschutz, der wohl für die Schäfer und ihre Hunde gedacht war, denn das Wetter schlägt dort oben sehr gern mal plötzlich um, war alles voller Plastikmüll, vor allem Plastikflaschen, die irgendwelche Pilger oder Wanderer dort hingeschmissen hatten, weil sie zu faul waren, den Dreck, den sie mit hochgeschleppt haben, auch wieder mit hinunter zu nehmen.
Dieser Anblick machte mich so unfassbar traurig und bestätigte mir mal wieder, warum ich so viel Wert auf Glasflaschen lege und dass ich mit meinem Trinksystem im Rucksack die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn dieses ist, wenn auch aus Plastik, wenigstens so oft wiederverwendbar, wie...