Steh auf und geh:
Der Weg nach innen
Selbstwerdung – ein biblisches Grundanliegen
DIE BIBEL auch noch aus einem den religiösen Kontext übersteigenden, ganz anderen Blickpunkt lesen zu können, verdanke ich einem Buch, das mir 1990 zum Geburtstag geschenkt wurde. Die Lektüre schlug bei mir ein wie ein Blitz und wirbelte mein Weltbild gehörig durcheinander, weil sie „Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“12 berichtete und mir nicht nur zum Aufbruch, zur Reise, sondern zu guter Letzt auch zum „Ausbruch“ aus meiner damaligen Lebenssituation Mut machte. Seither weiß ich, dass (auch) biblische Geschichten wie Sprengstoff wirken können. Gleichzeitig sah ich alte Texte mit neuen Augen. Plötzlich ging es nicht mehr nur wie im Theologiestudium um den Text und seine Bedeutung für die religiöse Gemeinschaft. Hier und jetzt ging es mit einem Mal um mich.
Mein Leben wurde verhandelt und infrage gestellt. Meine Gefühle und daraus abgeleitete Perspektiven waren plötzlich wichtig. Das kam mir zunächst nicht nur neu, jung und frisch, sondern durchaus auch „gefährlich“ vor. Aber stärker als das „Gefährliche“ war dann das für mich bis dahin so noch nicht gekannte Gefühl innerer Kraft und Unerschrockenheit. Die Vorsicht und Angst in mir wich meiner Neugier, was zur Folge hatte, dass in meiner Umgebung bald von einer „schweren Glaubens- und Identitätskrise“ gesprochen beziehungsweise die Befürchtung geäußert wurde, dass ein so hoffnungsvoll begonnener Weg kirchlicher Karriere scheitern und in der Sackgasse karrieristischer Bedeutungslosigkeit enden müsse. Niemand aber konnte mich daran hindern, den für mich unverwechselbar eigenen Weg zu gehen.
Die damals voll Argwohn und mit vorwurfsvoll-bitterem Beigeschmack mir immer wieder vorgehaltenen Schlagworte hießen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“. Sie wären die Ikonen der Neuzeit, wurde ich gewarnt, sie würden die Menschen in die „Egoismus-Falle“ locken und der persönlichen Freiheit des Menschen Tür und Tor öffnen. Dem gegenübergestellt wurden die Norm der Treue zum einmal eingeschlagenen Weg und das Gebot der sich selbst vergessenden Nächstenliebe. Auf diesem Boden gedieh das Misstrauen gegen „Selbstwerdung“ und „Selbstverwirklichung“; diese würden die einseitige Verherrlichung des Lustprinzips bedeuten und als alleiniger Maßstab für Lebensentscheidungen und Lebensführung gelten.
C. G. Jung, neben Freud der zweite Vater der Psychoanalyse, sieht die Selbstverwirklichung anders. Er bezeichnet mit dem Begriff des „Selbst“ die Ganzheit unserer Seele im Gegensatz zum „Ich“, das nur einen Teil unseres seelischen Lebensbereiches ausmacht. Das Selbst ist gleichsam das Zentrum der Person, von dem alle psychischen Kräfte ausgehen. Es ist zunächst reine Möglichkeit, die zur Wirklichkeit werden kann, wenn das Ich seinen Signalen Beachtung schenkt. Das Ziel des Selbst ist die Selbstwerdung, die Ausbildung und Reifung der individuellen Persönlichkeit.
Marie-Luise von Franz, eine Schülerin C. G. Jungs, vergleicht das Selbst deshalb mit dem Samen einer Bergföhre, in dem das Bild der Bergföhre mit all ihren Möglichkeiten grundgelegt ist, verbunden mit dem Impuls, diese Möglichkeiten zu entfalten.13 Durch Anpassung an die speziellen Umstände und Bedingungen wie Erdbeschaffenheit, Steine im Boden, Hangneigung, Windlage, Regenmenge und Sonnenbestrahlung wächst dann die dadurch einmalige Bergföhre. Dieses Wachstum des einmalig Einzelnen nennt C. G. Jung „Individuationsprozess“; die Selbstwerdung eine Dynamik, die einen Menschen ein Leben lang begleitet und bis zu seinem letzten Atemzug nicht abgeschlossen werden kann. Es geht also nicht um ungehemmte Lustbefriedigung, vielmehr darum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben. Dass das mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden ist, ist ebenso zu verstehen wie auch die Tatsache, dass das immer wieder auch mit Rückschlägen und Enttäuschungen zu tun haben wird.
Selbstwerdung ist so betrachtet die schöpferische Verwirklichung des eigenen Selbst und damit die Grundlage einer gesunden menschlichen Entwicklung. Nur wer zu sehen vermag, dass eine so verstandene „Selbstwerdung“ biblischen Texten nicht nur nicht entgegensteht, sondern in ihnen geradezu ein Grundanliegen erkennt, wird in der Lage sein, diese Texte im Kontext persönlicher Ermutigung zu lesen. Zahlreiche Bilder und Erzählungen in den biblischen Schriften benennen in diesem Sinn die Selbstwerdung als zentrales Anliegen.
Die Weinberggleichnisse
In ihrem Kern vergleichen die Weinberggleichnisse etwa bei Jesaja,14 Lukas,15 und Johannes16 Gott mit einem Gärtner, der mit sehr viel Liebe, Einsatz und Geduld darum bemüht ist, seine Pflanzungen fruchtbar werden zu lassen. In kirchlichen Kanzelreden ist dieses Bild leider mehrfach zu Gerichtsdrohungen umgearbeitet worden, sodass das „Fruchtbringen“ mit einem erhobenen Zeigefinger ausgestattet allzu sehr im Sinne von zu erbringender Leistung gedeutet wurde. Dabei würde ein Blick auf die Natur überdeutlich zeigen, dass Früchte wachsen und nicht gemacht werden, sie entfalten ihr inneres Potenzial und machen sichtbar, woraufhin sie angelegt sind. „Wachsen“ hat mehr mit „gelingen“ als mit „machen“ zu tun. Darin liegt ein erheblicher Unterschied, den der moderne Mensch nicht mehr ohne Weiteres verstehen kann, weil sein Interesse hauptsächlich leistungs- und „wettbewerbsorientiert“ zu sein scheint.
In der momentan herrschenden „Weltordnung“ steht der Lauf auf die besten Plätze nach wie vor im Vordergrund. Ohne Ehrgeiz kein Sieg! Ohne Wettbewerb kein Wachstum! Ohne Wachstum keine Weiterentwicklung! Der springende Punkt dieses gefährlichen Kurzschlusses besteht darin, dass das, was wir bisher für „Weiterentwicklung“ gehalten haben, im Grunde nur „Spezialisierung“ ist. Durch Wettbewerb wird diese Spezialisierung immer weitergetrieben zu etwas, das immer spezieller wird. Um in dieser „Spezialisierungsspirale“ erfolgreich zu sein, braucht man, wie uns Gehirnforscher versichern, nicht viel Hirn, weil wir immer nur mehr von dem tun, was bis jetzt schon gut funktioniert hat. Was uns aber mehr Hirn abverlangt und was wir im Kleinen wie im Großen dringend bräuchten, wäre eine gemeinsame Konzentration auf das „Gelingen“.
Dabei käme es allerdings darauf an, dass Menschen miteinander eine Kultur des Gelingens entwickeln wollten. Das wäre dann eine Kultur, in der nicht mehr länger Konkurrenten um immer knapper werdende Ressourcen kämpfen, sondern sich um eine Beziehungskultur kümmern, in der Menschen einander einladen, ermutigen und begeistern, ein größeres Gemeinsames miteinander zu fördern. Das setzt allerdings bei allen Beteiligten die Bereitschaft für neue, bisher so noch nicht gemachte Erfahrungen voraus. Zum Gelingen kann man aber niemand zwingen! Begeisterung ist nicht durch Verordnung zu verordnen. Deshalb kann Begeisterung nur spürbar werden, wenn Menschen einerseits wissen, was für sie selbst wichtig und dann aber auch, was für alle Beteiligten bedeutsam ist. Ohne ein solches Einverständnis kann Gemeinsames nicht gelingen.
„Gelingen“ ist ein wunderbares Wort, das es im Englischen nicht gibt. Dort spricht man von „success“, von „Erfolg“. Aber „successful“ meint etwas anderes als „gelungen“. Durch Wettbewerb entstehen Leistungssportler und Fachleute, die – je gründlicher, umso mehr – zu „Fachidioten“ werden, die ausschließlich ihren Erfolg im Sinn haben, wobei sehr oft die Betonung auf „ihren Erfolg“ liegt. Um hier besonders erfolgreich zu sein, braucht es eine Welt, die genau so aussieht, wie wir sie im Moment fast überall vorfinden: Wir brauchen nur auszublenden, was uns daran hindert, im Wettbewerb auf Kosten anderer unsere Siege einzufahren. „Wer kurzfristig denkt und möglichst egozentrisch seine Interessen verfolgt, der wird erfolgreich sein“, sagt der Gehirnforscher Gerald Hüther. Was uns aber mehr Hirn abverlangt, ist nicht der Erfolg, sondern unsere Konzentration auf das Gelingen. Während der Wettbewerb nämlich auf die Ressourcenausnutzung konzentriert bleibt, geht es beim Gelingen um die Potenzialentfaltung. Was unsere Gesellschaft dringend braucht, damit möglichst viele ihr Leben als „gelungen“ und „geglückt“ erleben können, ist ein höchst fälliger Wandel von einer „Ressourcenausnutzungskultur“ hin zu einer „Potenzialentfaltungskultur“. Und genau das ist das zentrale biblische Anliegen der Weinberggleichnisse.
Was wir mit „gelingen“ umschreiben, kann man im Grunde gar nicht machen, es muss wachsen. Ich kann mein Bestes geben, kann für optimale Rahmenbedingungen sorgen, weiß aber vorher nie, ob es gelingt. Das Wort „Gelingen“ ist so betrachtet vielleicht auch so etwas wie eine gediegene Umschreibung für das Wort „Nachhaltigkeit“. Gemeinsames kann gelingen, wenn Menschen ihre in jeweils unterschiedlichen Lebenswelten gemachten Erfahrungen so zusammenbringen, dass sie mit einer neuen Vorstellung davon, worauf es im Leben ankommt, wieder auseinandergehen. Das wäre dann ein gelungenes Gemeinsames, von dem viele leben können, auf das aber die großen „Macher“ keinen direkten Zugriff haben.
Zuversicht, Freude, Begeisterung oder Gelassenheit sind „Früchte“, die mit aller Willensanstrengung nicht erzwungen werden können, es sind Effekte, die sich unter bestimmten Voraussetzungen einstellen. Hermann Hesse sagte...