Wien, Dornbacher Straße 27
Ein seltsamer Kasten mit einem Schreibtisch, einem Telefon und einigen unbequemen Stahlrohrsitzen sowie ein Araber mit düsterer Miene repräsentierten den Eingang zum Libyschen Volksbüro. Wir, Mirja und ich, brachten dem streng schweigenden Zerberus unser Anliegen vor. Dieser griff ohne ein Wort zum Telefon, rief einige arabische Sätze hinein und drückte uns dann den Hörer in die Hand.
Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme, die sich unsere Angelegenheit höflich anhörte und dem Ohr des Türwächters die Weisung erteilte, das Tor zu öffnen. Zuvor aber forderte der Vorzimmerherr unsere Namen und rekonstruierte sie nach Gehör auf einem schäbigen Papierstreifen, der als Passierschein diente. Der Türknopf öffnete das seitliche Gittertor, und wir betraten das Hoheitsgebiet des Libyschen Reiches.
Die in ein Volksbüro umgewandelte Vertretung war eine alte Nobelvilla. Wir stiegen die Haupttreppen hinauf, um sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Der Wächter in der gläsernen Kabine winkte uns um die Ecke. Wir betraten die Konsularabteilung durch eine Seitentür. Es war ein sorgfältig geschütztes Büro, die Angestellten saßen hinter einer dicken Glasscheibe. Die Gespräche mussten schreiend geführt und in ein winziges Loch geleitet werden, das sich auf der Höhe eines Zwergenmundes befand.
Eine Polstermöbelgarnitur, worauf niemand saß, aus kuhbraunem Kunstleder. Die Wand war mit einem großformatigen Plakat bedeckt. Es stellte Leptis Magna dar, obwohl die libysche Regierung nicht im Geringsten an der Vergangenheit interessiert war, die Römer waren keine Araber, aber es gehört sich, auf Plakaten den alten Kram herzuzeigen. Ein kleines Regal, auf dem Reiseprospekte lagen, obwohl Libyen keine Touristen empfing. Gaddafi, mit einem breiten Lächeln auf seinem Gesicht, an der Wand gegenüber Leptis Magna.
Die Sekretärin mit blondem Haar gönnte uns ihre Aufmerksamkeit. Wir hielten einen wohltrainierten Vortrag über unsere Aufgabe, die Überreste der Vergangenheit für eine Diaserie zu Unterrichtszwecken zu fotografieren und über die erstrangige Bedeutung Libyens in der Geschichte der Antike. Eine Handbewegung gen Leptis Magna unterstrich unsere Worte.
Die Sekretärin setzte eine unsichere Miene auf und berief sich auf ein Einladungstelex. Wir erklärten, es sei uns bekannt, dass die Einreise nach Libyen ohne Einladung nicht möglich sei. Gerade um eine solche zu organisieren, waren wir gekommen. Die Unterstützung unseres Kulturprogramms fiel doch unter die Kompetenz der Universität oder des Unterrichtsministeriums. Vielleicht würde eine von beiden geruhen, uns das erforderliche Telex zu schicken.
„Im Prinzip sollte das möglich sein“, lenkte die Sekretärin ein und betrachtete unsere Empfehlungen, die wir durch das kleine Loch eingefädelt hatten. „Ich werde fragen“, fügte sie hinzu, drehte sich auf ihren breiten Absätzen um und verschwand ins Hinterzimmer.
Hinter dem Schalter erschien eine weitere Sekretärin, ebenfalls eine Österreicherin, etwas älter, kleinwüchsiger, dunkler und fetthaariger. Sie wog unsere Empfehlungen ab, verzog den Mund und hob ihren Blick, um uns zu mustern.
„Auf dieser Grundlage ließe sich eine Einladung schon regeln“, schloss sie und versuchte zu lächeln. Ich segnete das finnische Verlagshaus und den italienischen Diktator. Wir hatten funkelnagelneue Empfehlungen bekommen, obwohl die Serie über die Antike schon in Druck gegangen war. Benito Mussolini wiederum hatte in seinem römerfreundlichen Größenwahn die im Sand begrabenen Ruinen entblößt. Ohne ihn wäre die Vergangenheit Libyens in der Sahara verborgen, nur den Kamelen zur Freude.
„Wann würden Sie reisen?“, unterbrach die wichtigere Sekretärin meine Gedanken.
„Im Mai“, antwortete ich.
Der Zeitraum von mehr als drei Monaten trug einen billigenden Seufzer auf ihre Lippen. Die Zeit würde für den Papierkrieg reichen. Ob es möglich wäre, die Reisepässe und Empfehlungen im Volksbüro zu lassen, natürlich nur für einen Tag. Die Sekretärinnen versprachen, ihre Vorgesetzten zu befragen.
„Kommen Sie morgen, gleich nach zwölf“, riet die blonde Sekretärin und umschlang die Pässe und Empfehlungen mit einem sauberen Gummiband. Unsere Audienz war beendet. Ein junger, gut angezogener Libyer, der im Hintergrund gelauscht hatte, verschwand mit einer dicken Mappe unter dem Arm ins Nebenzimmer.
Ich las vom Tisch eine Zeitung des Gastgeberlandes auf, obwohl ich die arabischen Kritzeleien nicht beherrsche. Die Bilder konnte man anschauen. Davon gab es viele und sie alle stellten Gaddafi dar. Offensichtlich war er in der Öffentlichkeit aufgetreten. Die Titelzeilen waren grün gedruckt. Wir bemühten uns, in ein grünes Reich zu gelangen.
Am nächsten Tag lehnte ein anderer Araber an der Empfangstheke im Zerberuskasten, auch er war jung und düster. Mit einem faulen Knurren versuchte er, uns auf die Straße hinauszujagen, denn der Zeitpunkt war falsch. Der Schalter der Visumsbewerber wurde zu Mittag geschlossen. Es gelang uns dennoch, seine Hand von der Wange zum Hörer zu bewegen und das Telefongespräch bewirkte, dass unsere Präsenz geduldet wurde. Ein Passierschein, diesmal in lateinischer Schrift und nur mit Vornamen, der Türknopf und hinein in die Konsularabteilung, die außer der normalen Tür noch mit einer robusten Gittertür versehen war.
Die blonde Sekretärin begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln und grub die Pässe aus der Schublade aus. Sie hatte keinen kompetenten Entscheidungsträger getroffen, dem sie unser Problem hätte anvertrauen können. Vielleicht könnten wir Fotokopien von den Reisepässen und Empfehlungen liefern. Sie würde versuchen, unser Anliegen vorzutragen.
„Wir dürfen keine Reisepässe fotokopieren“, erklärte sie beinahe entschuldigend. „Die Libyer fordern alle Papiere auf Arabisch. Vor der Reise müssen Sie diese übersetzen lassen“, fügte sie hinzu.
Wir wussten Bescheid. Seit der im Jahre 1973 angefangenen Kulturrevolution brauchten die Libyer keine lateinischen Buchstaben zu beherrschen. Jedenfalls nicht offiziell. Hilfsbereit schrieb die blonde Sekretärin ihren Namen und die direkte Nummer auf einen Zettel, nahm eine Visitenkarte vom Tisch, die sich als die eines von den Libyern anerkannten Übersetzers erwies und schob sie uns durch das Loch zu.
Das Gelingen unserer Reise lag in den Händen von Fräulein L., las ich auf dem Zettel. Dr. Abdul Aldahir wiederum garantierte, dass der Übersetzer auch in libyschen Augen Übersetzer war. Keine große Beute, aber der erste Schritt war getan.
Die Araber besitzen kein Zeitgefühl. Die Libyer zählen sich zu den Arabern. Diese Tatsachen konkretisierten sich für uns im Laufe des Winters. Sogar eine Schnecke ist schneller, jedenfalls zielbewusster. Montags war das Anrufen nutzlos, niemand war zu erreichen. Der Freitag war dem Beten vorbehalten. Fräulein L. erhielt keine Antworten, obwohl sie sich ernsthaft bemühte. Von einem Dienstag zum anderen die Bitte, am Samstag anzurufen und umgekehrt. Die Herren widmeten uns keine Aufmerksamkeit.
Die Realisierung unserer Reise gründete sich auf Vermutungen zweier österreichischer Sekretärinnen. Diese wurden weder bestätigt noch widerrufen.
Wir, Mirja und ich, mussten aus Mitteleuropa weg. Die Sache blieb in Hermines Obhut.
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Wie oft war ich schon in dieser Wachhütte an der Pforte des Volksbüros gesessen? Umgeben von libyschen Studenten, welche die Tage mit belanglosen Gesprächen totzuschlagen schienen und österreichischen Visumsbewerbern, in der Regel Geschäftsleuten oder Technikern, die nervös auf die Uhr blickten oder resigniert der Dinge harrten, die da kommen sollten?
Das Telefon schrillte. Der schweigsame Türhüter deutete schroff auf das seitliche Gittertor, das auf Knopfdruck aufsprang und mir Einlass in die diplomatische Vertretung Libyens gewährte. Im Vorraum der altherrschaftlichen Villa stand ich wiederum vor einer Wand. Das Ganze erinnerte an den stark gesicherten Kassenschalter einer Bank. Die blonde Sekretärin hinter der Glaswand forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Ich ließ mich in den Fauteuil fallen. Der gesteigerte Komfort, den die Sitzgarnitur ausstrahlte, im Gegensatz zu den unbequemen Rohrstühlen im Wartehäuschen, vermittelte immerhin den Eindruck, einen Schritt weitergekommen zu sein.
Ich vertiefte mich in die Lektüre der Jamahiriya Mail, die ich unter den Argusaugen des Zerberus eingesteckt hatte. „To be Arab, or not at all“, stellte der Revolutionsführer in grünen Lettern auf der Titelseite fest. Mein Horoskop auf Seite elf warnte mich: „Gehen Sie Menschen aus dem Weg, die Sie irritieren. Halten Sie Ihren Mund, wenn Streit ausbricht. Glückbringende Farbe Grün, Glückbringende Zahl sieben.“
Hinter der Glaswand herrschte geschäftiges Treiben. Verschiedene Herren marschierten durch und warfen neugierige Blicke auf die Wartenden jenseits der Barriere. Unser Mann war wohl auch darunter. Endlich öffnete sich der Durchgang einen Spalt, ein freundlich lächelnder Araber mit schwarzer Haarkrause und goldumrandeter Brille winkte mich zu sich. Herr Shaban führte mich in ein geräumiges Büro im Erdgeschoß. Neben einem massigen Schreibtisch und einer schwarzen Sitzgarnitur aus Leder bildeten ein riesiges Transistorradio und ein militärisches Gaddafi-Portrait die auffallendsten Einrichtungsgegenstände.
Herr Shaban, seines Zeichens Presseattaché, war rundlich, freundlich und verbindlich, bestellte einen Tee für mich und hörte sich mein Anliegen an. Die Atmosphäre war entspannt. Oh ja, auch die griechischen Ruinen in der Cyrenaika wären...