Elke Gloor über das Leiden ihrer Eltern
Meine Mutter Erika Küllmer wurde am 19. 7. 1931 als älteste von zwei Töchtern hessischer Geschäftsleute geboren. Ihr Vater war Tischlermeister mit einer eigenen Firma, und da meine Mutter viel im Betrieb mithelfen musste, hat sie sehr früh gelernt, selbstständig zu sein. Im März 1954 heirateten meine Eltern. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Meine Mutter versorgte den Haushalt und kümmerte sich um unsere Erziehung. Mein Vater arbeitete beim Bundesgrenzschutz. Wir sind deshalb häufiger umgezogen, was immer wieder zu neuen Freunden und Bekannten führte. Meine Mutter habe ich als sehr lebenszugewandte und kontaktfreudige Frau in Erinnerung, die leidenschaftlich gerne tanzte und bei großen Festen und Feierlichkeiten immer die Erste auf der Tanzfläche war.
Eine Tragödie brach über unsere Familie 1991 herein. Meine Schwester nahm sich das Leben. Über ihren Tod hat meine Mutter nie gesprochen, sie zog sich zurück und wurde sehr depressiv. Ich habe ihr in dieser schweren Zeit immer wieder meine Hilfe angeboten und meine Eltern häufig besucht. Meine Mutter hat es dann irgendwie aus eigenen Kräften geschafft, aus diesem seelischen Tief herauszukommen. Gemeinsam mit meinem Vater wollte sie einen schönen Lebensabend verbringen, doch erneut prüfte das Schicksal meine Eltern schwer: Im Frühjahr 2002 erhielt ich einen verzweifelten Anruf meiner Mutter. Mein Vater hatte eine Hirnblutung erlitten und meine Mutter furchtbare Angst davor, dass er sterben würde. Zuerst wurde er im Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld behandelt. Mitte März kam er zur Rehabilitation nach Bad Sooden-Allendorf, Anfang April wurde er wegen erneuter Beschwerden in das Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld verlegt und auf Grund einer Verschlechterung seines Zustandes am 10. 4. 2002 zur Operation eines Subduralhämatoms rechts im Klinikum Kassel aufgenommen. Er litt unter einer Halbseitenlähmung und Wortfindungsstörungen. Nachdem er mehrere Tage auf der Intensivstation verbracht hatte und die Blutung durch eine Operation zum Stillstand gebracht werden konnte, klagte er während des stationären Aufenthaltes plötzlich über starke Schmerzen im Unterbauch. Ein ausgeheilt geglaubtes Krebsleiden war wieder ausgebrochen.
Mein Bruder Peter Küllmer hat sich in dieser Zeit sehr um unsere Mutter gekümmert, er hat sie mehrmals nach Kassel gefahren, damit sie unseren Vater besuchen konnte, und bei dieser Gelegenheit sind sie auch bei mir vorbeigekommen. Ich habe meine Mutter in dieser Zeit als sehr hilflos, angstbesetzt und nachdenklich erlebt.
Meine Eltern waren damals seit fast 50 Jahren verheiratet. Da meine Mutter keinen Führerschein besaß, war sie schon in alltäglichen Lebenssituationen von meinem Vater abhängig. Mir wurde bewusst, dass meine Eltern immer gebrechlicher geworden waren und es wichtig sein würde, für den Notfall vorzusorgen. Die plötzliche Erkrankung meines Vaters hatte die ganze Familie erschüttert.
Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe ich meinen Vater abgeholt und mit seinem Auto nach Hause bei Bad Hersfeld gefahren. Meine Mutter war sehr erleichtert und glücklich, dass er wieder bei ihr sein konnte. Wir waren alle froh über den glimpflichen Verlauf der Hirnblutung bei meinem Vater, und er selbst war besonders glücklich. Dennoch beschäftigten mich die Ereignisse in der Folgezeit sehr. Ich machte mir Gedanken über die Zukunft und das Alter meiner Eltern. Mein Bruder und ich würden uns ja kümmern müssen, wenn ihnen irgendetwas passieren sollte, wenn sie krank oder pflegebedürftig werden würden.
Ein besonders einschneidendes Erlebnis für meine Mutter war der Tod ihrer Mutter, die sie sehr geliebt hatte. Sie war an einem schönen Sommertag im August 1976 von einer Wespe gestochen worden, hatte eine schwere allergische Reaktion erlitten und starb daran im Alter von nur 67 Jahren. Für uns alle und besonders für meine Mutter war das ein großer Schock. Meine Oma war völlig gesund gewesen und wurde so plötzlich mitten aus dem Leben gerissen. In ihrer Trauer sagte meine Mutter, es sei tröstlich, dass es ein schneller und schmerzloser Tod gewesen sei und ihre Mutter nicht lange leiden musste, sie wolle auch einmal so sterben. Daran erinnerte ich mich in dieser Zeit immer wieder.
Durch den erfolgreichen Eingriff erholte mein Vater sich allmählich und konnte wieder am Leben teilnehmen. Ein halbes Jahr später ist er dann sogar selbst wieder Auto gefahren.
Ende September 2002 besuchten mich meine Eltern in Kassel. Meine Mutter war wie ausgewechselt, sie sprühte vor Lebensfreude und war glücklich, mich zu sehen. Wir haben viel geredet und gelacht. Es war ein schöner Nachmittag, den auch mein Vater sehr genossen hat, er war zwar noch etwas geschwächt, aber glücklich, zumal er in Kassel geboren ist und immer viel Zeit in seiner Heimatstadt verbracht hatte.
Bevor meine Eltern nach Hause gefahren sind, haben wir noch einen Spaziergang unternommen. Mein Vater wollte unsere Zweisamkeit nicht stören und ist mit etwas Abstand hinter uns gegangen. Meine Mutter hatte sich bei mir untergehakt, und wir sind die ganze Zeit Arm in Arm gegangen. Ich habe die emotionale Nähe zu meiner Mutter zum Anlass genommen und sie gefragt, ob sie für den Ernstfall einer schweren Erkrankung etwas Schriftliches niedergelegt hätte. Sie hat das verneint. Nachdem die Hirnblutung bei meinem Vater »glimpflich« verlaufen war – es hätte ja auch anders ausgehen können –, habe ich meine Mutter gefragt, wie Peter und ich uns verhalten sollten, wenn ihnen etwas Schlimmes passieren würde. Sie äußerte daraufhin, dass sie nicht alleine zurückbleiben möchte und am liebsten vor meinem Vater sterben würde. Wenn ihr aber etwas passieren sollte, wolle sie lieber sterben, als auf fremde Hilfe angewiesen zu sein oder in ein Pflegeheim zu müssen. Falls sie sich nicht mehr äußern könne, wünsche sie keine lebensverlängernden Maßnahmen, keine künstliche Ernährung oder Beatmung. Sie wolle nicht an Schläuchen angeschlossen sein. Am liebsten würde sie zu Hause sterben.
Ich war erleichtert, dass es zu diesem Gespräch zwischen meiner Mutter und mir gekommen war, und habe sie gebeten, das doch bitte schriftlich zu verfassen. Sie wollte auch mit meinem Vater darüber reden. Nach einem schönen Tag haben wir uns herzlich verabschiedet und uns auf ein baldiges Wiedersehen gefreut. Meine Mutter hat mich ganz fest umarmt und wollte mich gar nicht mehr loslassen. Ich habe meinen Eltern noch gewunken, nicht ahnend, dass ich meine Mutter zum letzten Mal so erleben durfte.
Heute weiß ich, dass sich meine Mutter an diesem Tag für immer von mir verabschiedet hat, und es gibt mir ein gutes Gefühl, diesen letzten Besuch so mit ihr verbracht zu haben. Ich habe sie in guter Erinnerung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass von heute auf morgen alles vorbei sein kann, und lebe seit dieser Zeit viel bewusster. Lieber eine Umarmung und ein liebes Wort mehr als zu wenig.
Das Schicksal schlug vier Wochen später brutal zu. Von meinem Vater weiß ich, dass meine Eltern an diesem Tag bei einem Ausflug in einer Gaststätte eingekehrt waren und einen Spaziergang gemacht hatten. Zu Hause wollte meine Mutter dann das Abendessen zubereiten, klagte aber über plötzlich aufgetretene Kopfschmerzen, die immer stärker wurden. Der Schmerz muss so stark geworden sein, dass meine Mutter nur noch schreiend durch die Wohnung lief und ihre Hände an die Schläfen presste, bis sie plötzlich das Bewusstsein verlor. Mein Vater rief sofort einen Notarzt, der meine Mutter in das Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld bringen ließ, in dem mein Vater ein halbes Jahr vorher stationär behandelt worden war.
Schnell wurde klar, dass der Zustand meiner Mutter lebensbedrohlich war und sie dringend ins Klinikum Fulda überführt werden musste. Dort wurde sie auf der Intensivstation behandelt. Es wurde ein Hirnaneurysma Stufe 5 – das ist die schlimmste Stufe einer geplatzten Ader im Gehirn – diagnostiziert. Ich habe meine Mutter mehrfach auf der Intensivstation im Klinikum Fulda besucht und war sehr erschrocken, als ich sie sah. Von meiner Mutter, wie ich sie vor vier Wochen noch in meiner Wohnung erlebt hatte, war nichts mehr zu sehen. Sie konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr essen, nicht mehr trinken und wurde künstlich beatmet. Auf Ansprache reagierte sie nicht. Jetzt erlebte ich meinen Vater völlig hilflos, verzweifelt und ängstlich.
Nach mehreren Operationen – mein Vater hatte, in der Hoffnung, dass seine Frau wieder aufwachen würde, immer seine Zustimmung dazu gegeben – wurde meine Mutter zur Rehabilitation in die Neurologische Klinik nach Bad Wildungen verlegt. Dort wurde sie täglich stundenweise in einen Rollstuhl gesetzt und aus ihrem Krankenzimmer auf den Flur gefahren, um Ansprache zu haben. Am Leben teilnehmen konnte sie jedoch nicht. Ihr Kopf war an der Lehne fixiert, weil sie ihn selbst nicht mehr halten konnte. Alle Versuche der Rehabilitation brachten keinen Erfolg, sodass sie im Frühjahr 2003 aus der Reha auf die Pflegestation des Altenheims Residenz Ambiente nach Bad Hersfeld verlegt wurde.
Einige Zeit später sollte meine Mutter erneut operiert werden, und mein Vater, der inzwischen die Betreuung meiner Mutter übernommen hatte, stimmte auch dieser Operation zu. Ein Arzt fragte mich damals in einem Telefongespräch, ob ich als Tochter die Betreuung nicht übernehmen könne, mein Vater wäre völlig überfordert damit, und die Operation verspreche keinerlei Besserung. Im Gegenteil, für meine Mutter wäre es eine Qual. Ich konnte das...