Die letzte Lebensphase
Zum Sterben gehört, sollten wir eine Krankheit erleben, die zum Tode führt, dass sich unser Aktionsradius in der Welt verringert und wir unsere Mobilität verlieren.
Elsa ist an Leberkrebs erkrankt, der schon einige Metastasen gebildet hat, auch im Gehirn. Sie hat sich im Verlauf ihrer Krankheit schweren Herzens entschieden, aus dem Bungalow, den sie mit ihrem Mann gebaut und in dem sie nun fast vierzig Jahre gewohnt hat, auszuziehen. Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben. Für einige Zeit wohnt sie in einer kleinen Wohnung, die einer Pflegeeinrichtung angeschlossen ist. Ihre Kinder haben ihr bei der Auflösung des Hauses geholfen. Zunächst war sie verzweifelt darüber, ihre gewohnte Umgebung verlassen zu müssen, sich von sechs auf zwei Zimmer zu beschränken. Sie stand einige innere Kämpfe durch. Nun wohnt sie schon einige Zeit in ihren neuen Räumen und ist glücklich, ihren Alltag bewältigen zu können. Ihre Wohnung wird geputzt. Sie hat gute Einkaufsmöglichkeiten vor der Tür, versorgt sich noch zwei Jahre selbst und fühlt sich unabhängiger als zu Hause. Elsa hat sich auch schon in der neuen Nachbarschaft eingelebt. Jetzt erst merkt sie, wie sie an das Haus gefesselt war. Sie kümmerte sich um den Garten, musste immer wieder Handwerker für Reparaturen holen, die Straße fegen, im Winter Schnee schippen, alles sauber halten und zum Einkaufen mit dem Bus einige Stationen in die Stadt fahren. Und sie ist jahrelang nicht verreist. Das Haus stand ihr im Weg. Es hatte gute Dienste geleistet, als die Kinder darin aufwuchsen und auch in den Jahren zu zweit mit ihrem Mann, aber im Alter ist es zu einer großen Last geworden. Ihr wurde klar, wie groß diese Bürde gewesen war, als sie in ihrer kleinen Wohnung ankam.
Das sind Erfahrungen, die viele von uns im Alter machen, wenn wir uns »verkleinern« und mit der Rente das Geld knapper wird, während wir klappriger werden. Es ist sinnvoll, dann nicht an der Scholle, dem Besitz, zu haften, sondern der natürlichen Entwicklung Rechnung zu tragen. Dazu gehören Klarheit über eigene Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen sowie Mut, die gewohnte Umgebung aufzugeben. An Letzterem scheitern viele ältere Menschen. Passiert ein Unfall oder eine schwere Krankheit und ein Single kann sich nicht mehr allein versorgen, entscheidet der Hausarzt oder ein Betreuer und eine Einweisung in eine Pflegeeinrichtung, die gerade einen Platz frei hat, ist die Folge. Manchmal regeln Kinder über die Köpfe der Eltern oder eines Elternteils hinweg den Auszug aus dem Haus, weil der Alltag auch mit Unterstützung nicht mehr bewältigt werden kann.
In jedem Fall ist es sinnvoll, solange es noch geht, selbst Entscheidungen zu fällen und gut für sich zu sorgen. So zu tun, als sei das Leben in diesem Körper unendlich, führt zu großen Komplikationen und persönlichem Leid, das man vermeiden kann, wenn man rechtzeitig handelt. Elsas Vorteil ist, dass sie sich selbst entschieden hat, in die Seniorenresidenz zu ziehen. Sie übernimmt dafür die Verantwortung. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl und entlastet sie von negativen Gedanken, die ums Festhalten am Alten kreisen. Der Umzug wird zu einem Aufbruch in ein neues Leben.
Denken Sie einmal darüber nach, ob auch Sie einen Umzug im Alter planen sollten. Nehmen Sie sich genügend Zeit, nachzudenken, was Ihre Bedürfnisse sind. Berücksichtigen Sie dabei auch krankheitsbedingte Notwendigkeiten und wichtige Wünsche für ein erfülltes Leben bis zuletzt. Informieren Sie sich über mögliche Angebote an dem Ort, den Sie bevorzugen, und schauen Sie, was mit Hilfe Ihres Budgets unter den gegebenen Umständen möglich ist.
Sollten Sie umziehen, dann werfen Sie Ballast ab, trennen Sie sich von vielen unnötigen Dingen, geben Sie diese vielleicht an die Familie, an Freundinnen oder Organisationen weiter.
Nehmen Sie sich Zeit für den Abschied, indem Sie Erinnerungen zulassen, die mit den Dingen verbunden sind, bevor Sie diese abgeben. Wenn Sie das verkauft oder verschenkt haben, was Sie nicht mehr benötigen, dann schreiben Sie alles auf, was an Erinnerungen, inneren Werten, Gewohnheiten, Hoffnungen und mehr mit Ihrem alten Zuhause verknüpft ist. Denken Sie an die schönen Zeiten, die Sie in Ihrer Wohnung, Ihrem Haus verbracht haben, würdigen Sie diese Geschenke. Sie können auch schimpfen und klagen, dem Verlustschmerz Raum geben. Lesen Sie das, was Sie aufgeschrieben haben, irgendwann laut vor. Danach bedanken Sie sich für all den Lebensreichtum, das Wachstum, das Sie an diesem Ort erleben durften. Verbrennen Sie den Zettel auf dem Balkon in einem Stein- oder Metallgefäß, verbunden mit einem guten Wunsch für sich und zum Wohle aller Wesen sowie der Bitte, das neue Zuhause möge Zufriedenheit, Freude und Wohlbefinden bringen. Jetzt übergeben Sie Ihren alten Wohnort an die neuen Mieter oder Käufer mit guten Wünschen für deren Lebensglück, das kann gedanklich oder ganz konkret geschehen. Wenn Sie diesen Prozess vollziehen, haben Sie den Trennungsschmerz von Ihrer alten Wohnung gemildert oder sie innerlich ganz losgelassen.
Machen Sie sich klar, dass Sie nun in einen neuen Lebensabschnitt eintreten, in dem Sie weniger materielle Güter brauchen, dafür aber innerlich reifen und wachsen. Sie werfen Ballast ab, der hinderlich ist, gewinnen dafür Spielräume. Die Entlastung von Verpflichtungen gibt Ihnen einen Kräftezuwachs. Richten Sie den Blick auf den Gewinn, den Sie dabei haben, und gehen Sie Gedanken, das Alte behalten zu wollen, einfach nicht nach. Das Leben ist so reich.
Ich erlebe immer wieder Menschen, die sich weigern, ihr Haus zu verlassen. Sie wollen das Gewohnte nicht aufgeben, haben Angst vor dem Neuen und fühlen sich vom Leben betrogen. Krankheit und Alter sind für sie eine schwere Last. Die Angst ist so groß, dass sie sich gegen den Wandel stemmen. Sie vergrößern dadurch ihr Leiden, und es tut weh, das mit anzusehen.
Es treten jedoch, bei fortschreitender Demenz und anderen Erkrankungen, oft auch Bedingungen ein, die man nicht mehr im Griff hat. Dann geht es nicht anders, als dass andere für Sie, weil Sie nicht mehr selbstverantwortlich handeln können, entscheiden, hoffentlich in Ihrem Sinne. Mit Hilfe einer Patientenverfügung, ergänzt mit Vollmachten können Sie hier vorsorgen.
Das Leben ist eigentlich genug
Bevor wir aus unserem Körper ausziehen, verlassen wir heutzutage meist zuerst unsere Wohnung. Es gibt Parallelen vom Auszug aus unseren Wohnräumen zum Verlassen unseres Körpers.
Bille nimmt die Auflösung ihres Besitzes selbst in die Hand. Ich besuche sie zu Hause. Sie befindet sich in der letzten Lebensphase, liegt in einem Krankenbett im Wohnzimmer mit Blick auf eine alte Linde. Es ist Sommer. Gegenüber vom Bett ist eine große, fast leere Regalwand. Überhaupt ist die Wohnung, auch die Küche nahezu ausgeräumt. Neben dem Schreibtisch in ihrem Büro steht ein großer Schredder. Davor liegen etliche Mülltüten mit Papierschnipseln. Es gibt nur noch zwei Ordner mit Papieren, davon ist einer aufgeklappt. Bille hat mit Hingabe und großer Disziplin in den letzten Wochen den Haushalt entleert, Dinge verschenkt oder verkauft. Sie hat auch ihre Katze seit zwei Tagen für immer bei Freunden untergebracht.
Es ist für mich befremdlich, die sonst mit so viel Liebe fürs Detail ausgestattete Wohnung so karg und schmucklos vorzufinden. Sie wirkt, als würden die Umzugswagen schon vor der Tür stehen. Die Räume sind entpersönlicht. Bille beobachtet mich vom Bett aus und sagt: »Es ist ein wunderbares Gefühl, den ganzen Ballast abzuwerfen. Auch Nika, meine alte Katzendame, hat ein neues Zuhause. Es tut mir weh, dass sie nicht mehr auf mir liegt und schnurrt oder maunzt, wenn sie hungrig ist.« Billes Stimme zittert, und sie hat Tränen in den Augen. »Doch es ist besser so …«
Bille möchte alles selbst auflösen, bevor sie stirbt. Es tut ihr gut, die Verantwortung für einen, wie sie es nennt, »sauberen und klaren Abgang« zu übernehmen. »Ich will keinem, der zurückbleibt, meine Angelegenheiten aufbürden«, sagt sie in einem Ton, der kein Veto zulässt. Ich spüre, wie sich in mir dabei Leichtigkeit einstellt. Es ist wunderbar, wie sie für sich sorgt und auch für mich, für alle Hinterbliebenen. Es ermöglicht mir, ihr unbefangen zu begegnen, ohne die unterschwellige Bedrückung, was denn wohl mit ihrer Wohnung und allem geschehen soll, wenn sie geht. Sie hat keine Familie mehr und nur wenige Freundinnen, zu denen ich gehöre.
Wenn ich das abgebe, was ich nicht mehr nutzen werde, lasse ich es los. Ich kann dabei den Blick auf die innere Befreiung richten. Ein Hauch davon ist zu spüren, wenn wir einem Menschen begegnen, der die letzten Dinge selbst regelt. Das kann auch bedeuten, dass er uns nicht das hinterlässt, was wir gerne gehabt hätten. Vielleicht bedient die Sterbenskranke gerade nicht Ihre Gier, hinterlässt ihr Vermögen einer Stiftung, und Sie gehen leer aus. Das ist immer eine gute Gelegenheit, Begehren loszulassen und Mitfreude mit denen zu entwickeln, die beschenkt werden, und dem, der schenkt. Bille hat günstige Umstände, ihre Angelegenheiten selbst regeln zu können, weil sie in ihrer letzten Lebenszeit noch wach und fit ist. Und ich darf von ihr lernen.
Bille hat alles organisiert: die Beerdigung, sie hat einen Grabplatz gekauft, den Stein ausgewählt und auch die Gravierung. Es fehlt nur noch das Todesdatum. Sie hat Versicherungen gekündigt, Vollmachten erteilt, mir diktiert, wie sie sich die Trauerfeier wünscht; zusammen haben wir noch eine Woche vor ihrem Tod einen Verein aufgelöst. Die Wohnungskündigung liegt unterschrieben auf dem Tisch. Die Miete ist auf dem Konto. Sie hat ihre Urkunden gut sortiert in einem Ordner abgelegt, der mit der Aufschrift »Wichtige...