Vasanas sind wie Keime, die ganz tief im Feld des Citta (des Mind) ruhen. Manche von ihnen sind in uns eingesenkt, bleiben aber ein Leben lang inaktiv. Andere werden wirksam, ohne dass wir mitbekommen, wodurch und warum sie aktiviert wurden. Es sind innere Regungen, die in uns ein Befremden auslösen können, weil wir bemerken, dass etwas durch uns hindurchwirkt und damit Macht über uns hat, ohne dass wir auch nur eine Ahnung hätten, was es ist. Oft zeigen sich Vasanas in Form diffuser Ängste oder als eine tiefsitzende – ebenfalls diffuse – Unsicherheit, die dazu führt, dass wir eher introvertiert und verschlossen sind. Ebenso kann sich das Wirken der Vasanas in übergroßer Empfindsamkeit einerseits oder dem Mangel an Empfindungsfähigkeit andererseits ausdrücken, die der Nährboden sowohl für Autoaggression als auch für Aggressivität sein kann.
Moderne Entsprechungen zu diesem yogischen Konzept der Vasanas könnten in den Wirkweisen der Epigenetik zu finden sein. Dieser neue Wissenschaftszweig erforscht die Wirkungsweise des Zusammenspiels zwischen Umwelt, Gesellschaft und Individuum auf unsere genetische Ausstattung und die Arbeitsweise der Gene (die Genexpression).
Gene lassen sich an- und abschalten
Im Rahmen der Erforschung des menschlichen Erbguts hielt sich lange die Auffassung, dass das, was uns vererbt worden ist, nicht nur unser Aussehen und einige körperliche Funktionsweisen wie etwa die Art, wie wir unsere Muskulatur benutzen, bestimmt, sondern auch unsere Persönlichkeit und damit unser Verhalten determiniert. Seit einigen Jahren wissen wir dank einer Vielzahl von Studien (zum Beispiel mit Zwillingen) jedoch, dass »die menschliche Entwicklung ein Resultat der Auswirkungen von Erlebnissen auf das sich entfaltende genetische Potenzial ist. Die Gene enkodieren die Information darüber, wie die Neuronen wachsen, zueinander in Verbindung treten und wieder absterben sollen, sobald die erforderliche Differenzierung der Gehirnschaltkreise erreicht ist. Diese Prozesse sind genetisch vorprogrammiert und erlebensabhängig.« (Siegel 2006:33) Das, was erlebensabhängig ist, ist die sogenannte Transkriptionsfunktion, »die darüber entscheidet, welche Proteine synthetisiert werden« (a.a.O.). Der Mechanismus also, welcher innerhalb des Zellkerns das Ablesen der Informationen des genetischen Materials in Gang setzt (das Ablesen »anschaltet«), schafft die Voraussetzung dafür, dass anschließend an anderer Stelle innerhalb der Zelle die entsprechenden Proteine synthetisiert werden.
Daraus lässt sich folgern, dass unsere Gene einerseits – den Vasanas gleich – unser Sein ganz aus der Tiefe der Zellen heraus steuern. In unserer Kindheit wurden dabei die daraus erwachsenden Verhaltensmuster wie zum Beispiel Schüchternheit oder Stressanfälligkeit im Kontakt mit unserer Umwelt entweder verstärkt oder aber abgeschwächt.
Das gilt auch für das »Gedächtnis des Körpers« (Bauer 2002), das bewirkt, dass alle besonders eindrücklichen Erfahrungen von Fürsorge oder Vernachlässigung, besonders aber erlittene Traumata in den Zellen gespeichert bleiben. Neuere Forschungen der Epigenetik scheinen nahezulegen, dass auch erlernte und erworbene Fähigkeiten wie etwa der Umgang mit Stress über die Keimzellen von einer Generation zur nächsten vererbt werden können. Auch traumatische Erfahrungen, wie sie etwa bei Katastrophen oder Kriegen gemacht werden, können offenbar über die Gene weitergegeben werden.
Forschungen der letzten Jahre mit Kindern von Kriegsopfern haben gezeigt, dass diese Menschen überdurchschnittlich anfällig für Stress und Depressionen sind. Bei ihnen sind vermutlich unbewusste Kräfte am Werk, die bewirken, dass aus der gesamten Gensequenz bestimmte Abschnitte angeschaltet und abgelesen werden, die verhindern, dass sich ihr Körper und ihr Nervensystem dem Stress anpassen. Es ist, als wenn ein solcher Mensch aus der Bibliothek seines Unbewussten, an dessen Schaffung das limbische System (siehe folgendes Kapitel) in der Tiefe des Gehirns beteiligt ist, immer nur jene Bücher herauszieht und liest, die ihn in seiner Ansicht bestätigen, dass die Welt gefährlich und voller Leid ist. Eine solche unbewusste Auswahl wird vermutlich das Immunsystem eines Menschen auf Dauer schwächen, und er wird ein erhöhtes Risiko haben, bestimmte Krankheiten zu entwickeln.
Wir wissen heute aber auch, dass epigenetische Muster außerordentlich wandlungsfähig sind. Durch eine systematische und kontinuierliche Schulung der Achtsamkeit können wir zum Beispiel erkennen lernen, wenn in uns eine Tendenz wirksam ist, die unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die negativen und dunklen Aspekte des Lebens lenkt, und was das für unsere körperliche und seelische Gesundheit bedeutet. Vor allem aber können wir lernen, unsere Wahl zu verändern, was einem bewussteren Umgang mit unseren Vrittis entspricht. Eine nachhaltige Einübung von stressreduzierenden Methoden wie Achtsamkeit, Atemgewahrsein und vor allem Meditation scheint erwiesenermaßen dazu zu führen, dass Menschen in der Folge eher diejenigen Bücher aus ihrer genetischen Bibliothek auswählen und lesen, die einen gesundheitsfördernden und positiven Inhalt haben, denn: »Erfahrungen, Gefühle und Beziehungen führen zu biologischen Spuren in den Nervenzellen und entscheiden (somit) maßgeblich, wie es der Seele geht.« (Blech 2010:103)
Genau hier setzt der Yoga mit seiner Achtsamkeitsschulung an. Wir können lernen, mit anderen Menschen, insbesondere aber mit unseren Kindern, einfühlsam und achtsam umzugehen. Wir können sie in einer Atmosphäre der Sicherheit aufwachsen lassen und ihnen dadurch ein Erleben ermöglichen, in dem ihre Stress- oder Angstprogramme immer seltener angeschaltet werden.
Auf die Frage, ob Yoga und Achtsamkeitspraxis gegen Stress das Gehirn regelrecht umbauen können, antwortete der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech: »Durch Yoga bilden sich in der grauen Substanz des Gehirns neue Strukturen. Das weiß man von Menschen, die noch nie meditiert oder Yoga gemacht haben, [sic!] und einen Yoga-Kurs absolvierten. Ihre Gehirne wurden vorher und nachher im Scan untersucht: Die Architektur des Gehirns hatte sich verändert. Und diese segensreiche Veränderung muss über ein Scharnier erfolgen, an dem sich die Meditation in biologische Strukturen überträgt. Man vermutet, dass dies just über die epigenetische Prägung funktioniert.« (Blech o.J.)