Auf der Suche nach Glück
Verhelfen Wegleitungen zum Glück?
Alle Menschen wollen „Erfolg“ haben und ein „glückliches“ Leben führen. Wenigen gelingt es automatisch und ohne groß nachzudenken. Die Glücklichen! Viele brauchen und suchen Anleitung. Darum hat die „Ratgeberliteratur“ eine lange Tradition. Wer einen Buchladen betritt, kann die Fülle dieser Gattung nicht übersehen. Ich erwähne einige Klassiker:1
Florence Scovel Shinn: The Game of Life and How to Play it, 1925. Florence Scovel Shinn war eine Schauspielerin und Illustratorin im New York des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie hat Schulungen in Lebenspraxis erteilt und Bücher verfasst. Darin geht sie von der Kraft der Gedanken und des Wortes aus und verbindet dies mit einem tiefen und pragmatischen christlichen Glauben. Für mich besonders einleuchtend sind die Deutungen vieler Bibelstellen als Beschreibung mentaler (geistiger) Vorgänge.
Napoleon Hill: Denke nach und werde reich, 1928. Das Buch ist nur drei Jahre später erschienen, bildet jedoch einen Kontrapunkt, denn Hill spricht mit seiner Methodik mehr den Verstand an. Er war Journalist und hatte Jura studiert. Er verfasste Biografien und lernte so einen der damals reichsten Männer Amerikas kennen, den Industriellen Andrew Carnegie. Dieser glaubte, Erfolg könne in einer Art Formel erfasst werden. So liess er Hill ungefähr 500 sehr reiche Menschen nach deren Geheimnis befragen. Neben einer positiven Beeinflussung des Unterbewusstseins spielen bei seinen Empfehlungen Systematik und Disziplin eine ausschlaggebende Rolle. Die Tellerwäscher-Karrieren jener Epoche schwingen mit und suggerieren: Jeder kann mit diesem Ansatz Millionär werden!
Norman Vincent Peal: Die Kraft des positiven Denkens, 1952. Er ist der Inbegriff und Vater des „positiven Denkens“. Er war protestantischer Pfarrer, aber ohne Berührungsängste mit traditionellen, ausserhalb der christlichen Religion entstandenen Gedanken. Der göttliche und daraus abgeleitet der menschliche Geist bilden den entscheidenden Ursprung von allem, sei es Erfolg, Reichtum, Glück oder das Gegenteil. Er verbindet dies problemlos mit der christlichen Religion, was ihm die Kritik eingetragen hat, er mache aus dem Christentum ein Erfolgsrezept. Doch müssen Christen arm und erfolglos sein?
Shakti Gawain: Stell dir vor. Kreativ visualiseren, 1978. Man kann diese Autorin der New-Age-Bewegung zuordnen. Das war jene kulturell-geistige Welle, die Anfang der 70er Jahre das kommende „Wassermann-Zeitalter“ beschwor und ihre populäre Ausprägung in der Hippie-Kultur fand. Das Wassermann-Zeitalter sollte gekennzeichnet sein durch Umdenken und eine neue Rationalität auf allen Wissens- und Lebensgebieten, eine Art zweiter Aufklärung. Bestehende Gegensätze sollten überwunden werden. So verschmolzen kulturkritische, esoterische, religiöse und wissenschaftliche Gedanken, einige meinen auf befruchtende Weise, für andere war alles immer nur ein Hirngespinst. Vertreter waren beispielsweise der Psychologe Michael Murphy oder der Physiker Fritjof Capra. Shakti Gawain lehrt in ihrem Buch, wie man Gedanken gezielt nutzt (visualisiert) und wie das Leben dadurch kreativer und erfolgreicher wird.
Bärbel Mohr: Bestellungen beim Universum, 1998. Mohr war Betriebswirtin, jedoch eine breit interessierte und kreative Person, die sich mit Persönlichkeitsentwicklung befasste. Ihr erstes Buch wurde wohl auch deshalb ein Bestseller, weil sie mit dem Enthusiasmus eines Neulings ans Werk ging, der Altbekanntes für sich neu entdeckt. Sie hat mit dem Begriff „Bestellungen beim Universum“ prägnant vermittelt, dass Kräfte im Universum existieren, die wir für ein erfolgreiches Leben nutzen können.
Doch warum sind wir nicht alle schon höchst erfolgreich und glücklich angesichts dieser Fülle von Wissen und Anleitung? Taugen diese Rezepte vielleicht nicht viel?
Glaube und positives Denken reichen nicht
Eine übereinstimmende Botschaft dieser Bücher lautet: Glaube an dein Ziel und du wirst es erreichen! Sicherlich haben Sie diesen Satz schon oft gehört. Je nach Standpunkt haben Sie ihm zugestimmt oder kritisch die Stirn gerunzelt. In ihrer Allgemeinheit ist die Aussage richtig, in ihrer Ungenauigkeit ist sie gleichzeitig falsch, ja sogar kontraproduktiv. Denn die meisten interpretieren sie so, dass man sich mit aller Energie auf ein Ziel stürzen und alle seine Hoffnungen und Erwartungen darauf richten soll. Flugs wären wir damit in einer gefährlichen Haltung, die wir später beschreiben wollen, und die oftmals genau zum Gegenteil dessen führt, was wir anstreben. Oder sie meinen, es reiche, positiv zu denken und sich die Sache einzureden. Doch hierbei fehlt oft die nüchterne Analyse des Ziels, welche den Verstand befriedigt ebenso wie die emotionale Klärung, welche die Seele mit ins Boot holt. Man kann eine Sache nicht herbeireden; positives Denken allein reicht nicht.
Es hilft auf jeden Fall, wenn ich vom Glauben beseelt bin, dass ich ans Ziel gelangen werde. Und zweifellos ist die konstruktive Beeinflussung unseres Denkens ein wichtiger Faktor. Mit beidem befassen wir uns auch in diesem Buch. Doch sein Lebensglück allein darauf aufzubauen wäre ebenso töricht, wie aus Wasser und Salz Brot backen zu wollen.
Ein weiterer Grund für das Misslingen liegt darin, dass viele Menschen solche Bücher lesen und begeistert mit der empfohlenen Praxis beginnen. Meist stellen sich erste Erfolge ein. Seltsamerweise erlahmen viele nach kurzer Zeit in ihren Anstrengungen um eine bewusste Lebensführung. Es ist ähnlich wie bei den Diäten. Mit einiger Anstrengung gelingt es, Kilos zu verlieren. Doch irgendwie kehren sie zurück. Und der „Jo-Jo-Effekt“ setzt ein: Zunehmen – Diät – Abnehmen – Zunehmen – Diät usw. Und irgendwann sagen manche: Zum Teufel mit den Diäten! Und damit haben sie Recht.
Fehlt es also vielen am Durchhaltewillen, an der Ausdauer, um im Leben an ein Ziel zu kommen? Mit Sicherheit. Eine Diät erfordert Disziplin; der Erfolg, und damit das Erfolgserlebnis, stellen sich nicht sofort ein. Wer zu früh aufgibt, hat verloren.
Erfolg und Glück dank Disziplin?
Fragen wir uns also: Finde ich zu meinen Zielen und meinem Glück, wenn ich disziplinierter werde und unvermeidbare Durststrecken zu überwinden lerne? Zu dieser Frage gibt es ein klassisches psychologisches Experiment, den sogenannten „Marshmallow-Test“. Der Psychologe Walter Mischel stellte in den Jahren 1968 bis 1974 Vorschulkinder vor die Wahl, ein Marshmallow, das vor ihnen auf dem Tisch lag, entweder vorzeitig zu essen, oder eine bestimmte Zeit zu warten, bis der Versuchsleiter wieder käme; dann bekämen sie zwei Marshmallows.2 Sie könnten den Versuchsleiter jederzeit mit einer Glocke vor Ablauf der Zeit rufen, dann dürften sie das Naschwerk essen, aber eben nur eines.
In den Nachuntersuchungen der folgenden Jahre und Jahrzehnte zeigte sich, dass die Kinder, die warten konnten, sich auch im Erwachsenenleben besser gedulden konnten, mehr Ausdauer und Frustrationstoleranz zeigten. Sie waren schulisch und beruflich erfolgreicher und bewiesen eine größere Sozialkompetenz als die „Unbeherrschteren“. Selbstkontrolle ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Die Fähigkeit, Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben und gewisse Frustrationen auszuhalten, führt über längere Sicht zu einem erfolgreicheren und vermutlich glücklicheren Leben. Doch kann eine Methode richtig sein, die vornehmlich auf Entbehrung, Disziplin und Durchhaltewillen beruht? Nein. Es braucht auch Erfolgserlebnisse, Freude, Spaß, damit man etwas weiterführt. Denn auch der Mischel-Test endete immer mit dem Genuss von Marshmallows.
Disziplin und Erfolgserlebnisse – ein unschlagbares Paar
Wir haben bisher erst von der halben Wahrheit gesprochen. Denn lohnt es sich im Marshmallow-Test wirklich zu warten? Wenn man Marshmallows mag, dann schon. Und wenn man sich darauf verlässt, dass man am Ende auch wirklich zwei bekommt – statt bloß einem.
In Versuchsvarianten wurde das bewiesen: Wenn der Versuchsleiter in den Augen der Kinder zuverlässig war (wenn er schon einmal ein Versprechen gehalten hatte), waren sie in der Lage, länger zu warten, als wenn er sich zuvor als unzuverlässig erwiesen hatte.3 Banal im Grunde, aber entscheidend. Wenn ich glaube, dass mich eine Diät ans Ziel führt, bringe ich mehr Disziplin auf. Wenn ich glaube, dass eine Erfolgsmethode das ersehnte Ergebnis bringt, praktiziere ich sie länger. Mit anderen Worten: Ich muss an den Erfolg glauben, bevor dieser eintritt. Ich muss eine geistige (mentale) Entscheidung treffen, schon bevor ich beginne und ich muss diesen Glauben aufrechterhalten, bis der Erfolg eintritt oder sich zumindest abzeichnet. Dann setzt ein Selbstverstärkungsmechanismus ein: Der Erfolg bestärkt mich im Handeln und gibt Kraft durchzuhalten, selbst wenn einmal eine Durststrecke auftritt.
Glauben braucht einen Grund. Leerer Glaube ohne Erfahrungsbasis erlahmt. Eine Quelle des Glaubens kann die Beobachtung von Bezugspersonen sein (der verlässliche Versuchsleiter im Marshmallow-Experiment), ebenso überzeugt das Vorbild von Idolen, Autoritäten und anderen respektierten Menschen. Oder natürlich die eigene Erfahrung. Darum sind schnelle Erfolge wichtig, auch wenn sie vorerst klein sein dürfen.
Deshalb könnten wir versucht sein, ein weiteres Rezept zu formulieren: Lebe diszipliniert. Glaube an dein Ziel. Die kleinen und großen Erfolge auf diesem Weg bestärken dich und verleihen Mut für weitere beharrliche Anstrengungen, selbst wenn du auch einmal...