URSPRUNG UND WESEN DER TRACHT
Der Grasmantel zeigt besonders deutlich, dass die Bevölkerung die "Mittel der Landschaft" am Leib trug. Frauentracht und Männertracht mit Grasmantel aus der Südsteiermark. (Foto: IMAGNO)
Der Begriff Tracht bezeichnet historische und traditionelle Kleidung und geht zurück auf das althochdeutsche ‚traht(a)‛ (750 – 1050) und das mittelniederdeutsche‚ dracht‛ (1300 – 1600) mit der Bedeutung ‚das, was getragen wird‛. Die Bekleidungskategorie Tracht wurzelt in den Zunft- und Bauerntrachten aus der Zeit vor der französischen Revolution (1789 – 1799). Durch die Jahrhunderte wurde ihr Wesen von gesellschaftspolitischen Entwicklungen und anderen äußeren Einflüssen verändert. So gab es im Mittelalter noch eine strenge Kleiderordnung, die bei Missachtung mit Strafe geahndet wurde. Das Individuum sollte aufgrund seiner Kleidung sozial zuordenbar sein (vgl. Girtler, 2002, 263). Eine Differenzierung in modische und gleichbleibende Kleidung zeichnet sich erstmals im 16. Jahrhundert ab (vgl. Stroh, 1952/85, 244). In der Zeit des Biedermeier (1815 – 1848) waren drei Arten der Kleidung gebräuchlich: eine progressive, von Paris diktierte, eine statische, nur im Detail aktualisierte und eine konservative, am Althergebrachten festhaltende.
Der Konservativismus war angeregt von Vorbildern aus Adel, Kunst und bürgerlichen Kreisen, die sich in der Sommerfrische und bei der Jagd die Kleidung der Einheimischen angeeignet hatten (vgl. Hörandner, 2004 in: Lipp, 215-219).
Im Gegensatz zur persönlichen Kleidung hatte Volkstracht in ihrer historischen Form einen klar definierten Zeichencharakter. Indem sie verschiedene Lebenssituationen abbildete, wie zum Beispiel berufliche Stellung und Lebensphasen wie ledig, verheiratet, verwitwet, wurde ihr soziale Funktion in der Gemeinschaft zugewiesen. Der Träger der Kleidung konnte von anderen klar zugeordnet werden.
Indem ihre Ausführung nach Anlässen wie Alltag, Sonntag, Fest und Trauer unterschieden wurde, brachte sie diese Gesinnungen und Stimmungen zum Ausdruck. Stimmungen, die vorwiegend durch die Farben vermittelt werden (vgl. Stroh, 1952/85, 244; Hörandner, 2004 in: Lipp, 218). Petrascheck-Heim (1988, 13) beschreibt die Tracht als „Ausweitung des menschlichen Körpers“, die ihm Würde verleihen soll. Die Zusammenfügung ihrer einzelnen Bekleidungsteile interpretiert sie als malerischen Ausdruck wie den des Impressionismus, in dem es weniger um die Form als um die Wiedergabe von Stimmungen und Empfindungen gehe. Zitat: „Es geht nicht darum, einen bestimmten Menschentyp oder eine Idee herauszustellen, sondern eine allgemeine festliche Stimmung durch die Feiertagskleidung, denn als solches ist die Tracht hauptsächlich schöpferisch zu schaffen. Ein wesentliches Ausdrucksmittel ist die Farbe, sie hält sich in der Bedeutung meist länger als die Kleiderformen.“
DIFFERENZIERUNG ZUR MODE
In ihrem Ursprung als Zunft- und Bauerntracht war Tracht von jeher Gruppenbekleidung. Dieses Merkmal der Gleichheit blieb durch die Jahrhunderte erhalten. Wenn alle Angehörigen einer Gruppe die gleiche Kleidungsart tragen, dann werden sie zusammengehörig und von anderen verschieden wahrgenommen (vgl. Petrascheck-Heim, 1988, 4), wobei die Gleichheit der Uniform eine andere ist als jene der Tracht. Bei der Uniform ist alles vorgeschrieben, von der Farbe über den Schnitt bis hin zu Knöpfen und Dekorationen. Im Vergleich zu dieser reglementierten Gleichheit ist es bei der Tracht ein freiwilliges sich der Sitte beugen (vgl. ebd., 1988, 4-5).
Im Unterschied zum raschen Wandel in der Mode ist der Wandel in der Tracht stetig und folgt eigenen Mechanismen. Wenn sich die Tracht im Lauf der Jahrhunderte verändert hat, dann nicht einem inneren Gesetz, sondern äußeren Einflüssen folgend. Der Wandel vollzieht sich in Wechsel und/oder Erneuerung einzelner Teile wie Kopf-, Fuß-, Leib- und Beinbekleidung, die den örtlichen Gegebenheiten oder individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Auslösend für den Wandel können Änderungen in Lebensbedingungen, Klima oder Religion sein. Meist ist es aber der Kontakt mit anderen Völkern, wie dies bei Völkerwanderungen, Sesshaftwerden sowie wirtschaftlich oder kulturell bedingten Beziehungen der Fall ist. Darüber hinaus kann der Wandel auch durch den Einfluss einer Gruppe oder Person ausgelöst werden, wie dies in der jüngeren Geschichte der Tracht in der Regel der Fall war (vgl. Petrascheck-Heim, 1988, 6). Prominentes Beispiel ist Erzherzog Johann, der zwischen 1870 und 1880 über die Sommerfrischler in der Region Bad Aussee einen ersten Trend zur Tracht in anderen sozialen Schichten und ausstrahlend in die Städte auslöste.
Die Beständigkeit der Tracht in bestimmten Regionen führt Petrascheck-Heim auf deren ‚mythische Verbundenheit‛ zurück. Zitat: „Sie hält sich nur dort als echte Tracht, wo der Zusammenhang mit der Natur und ein gewisses mythisch religiöses und traditionelles Weltbild noch existieren, wie bei Bauern, Fischern, Jägern und Bergmännern.“ (ebd., 9.) Merkmal der europäischen Tracht ist eine Loslösung von religiösen und eine Hinwendung zu sozialen und traditionellen Gemeinschaftsformen (ebd., 6).
SOZIALE FUNKTION DER TRACHT
„Da sich Tracht auf alte Vorbilder des frühen Landlebens und kaiserliche Jagdrituale bezieht, wird sie zum Sinnbild der Beständigkeit.” (Girtler, 2002, 277).
In den Alpen waren Kleiderordnungen von Tal zu Tal verschieden. Farben, Stoffmuster und Schnitte erlaubten die regionale Zuordnung des Dirndls. Hut- und Haubenformen ließen auf den sozialen und lokalen Kontext schließen. Charakteristisch für die älplerische Tracht war ebenso die Berufsbekleidung der Holzknechte, die im Wesentlichen aus knielanger Lederhose, langer Unterhose, kariertem Hemd, ärmellosem Strickleibl und ungefütterter Joppe bestand. In manchen Gegenden war die Farbe der Unterhose ein Signal der Zugehörigkeit. Als Außenstehender diese Unterhosenfarbe zu tragen, war gleichzusetzen mit der Anmaßung von nicht zustehenden Rechten. Diese soziale Symbolik hat sich im Wandel der Zeit verflüchtigt. Erhalten wurde sie dort, wo die Tracht in ihrer historischen Form erhalten blieb, wie etwa im Bregenzerwald (vgl. Petrascheck-Heim, 1988, 6).
Im Bekleidungsverhalten der Gegenwart bestimmt nicht mehr die soziale Herkunft, sondern „angestrebter Stand, gesellschaftliche Rolle und angepeilte Berufskarriere“ die Kleiderwahl (vgl. Hörandner, 2004 in: Lipp, 216).
Äußere Unterscheidungsmerkmale von Bekleidung zeigen sich im Zusammenhang mit Freizeit, Arbeit, Anhängerschaft, Gesinnung und ideologischer Zugehörigkeit. In ihrem nach wie vor zeichenhaften Charakter vermittelt Tracht anhaltend ein Gefühl von Gemeinschaft (vgl. Hörandner, 2004 in: Lipp, 218). Nach wie vor wird die Tracht – abgesehen von Ereignissen transnationalen Kulturaustauschs – ausschließlich in der Heimat getragen. Die innere Haltung, die mit dem äußeren Erscheinungsbild einhergeht, beschreibt Hörandner (2004 in: Lipp, 216) weiter mit Werten wie „einfaches Leben, Naturverbundenheit, Ursprünglichkeit und natürliche Herzensbildung“.
In der Volkskunde der Gegenwart wird Tracht – genauso wie die Mundart, das Heimatlied und der Volkstanz – der Kategorie ‚Folklorismus‛ zugeordnet, konstruiert im wechselseitigen Verhältnis von Gesellschaftspolitik und Kultur (Brückner, 1987 in: Beitl/Bockhorn, 19). Die sogenannte ‚Folklorismusdebatte‛ wurde 1962 vom Münchner Volkskundler Hans Moser ausgelöst. Themen waren die spielerische Nachahmung von volkskundlichen Motiven in einer anderen Sozialschicht, wie dies in der Übernahme der bäuerlichen Tracht durch den Adel und die Sommerfrischler gegeben war sowie in deren späterer kommerzieller Nutzung in Werbung und Tourismus.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ließ Kleidung noch auf die soziale Herkunft und den lokalen Kontext schließen. Leobnerinnen, Karl Rufs, 1810. (Foto: ÖNB/Wien, 58.932-B)
SCHWEIZ: EINE SACHE DER AUFFASSUNG
In der Schweiz hat sich der Fremdenverkehr in umgekehrter Weise auf die ländliche Bevölkerung ausgewirkt. Wie Julie Heierli (1932, 11-13) dokumentierte, legte die Landbevölkerung Mitte des 19. Jahrhunderts die Tracht ab, um dem Vorbild der Städter zu folgen. In verkehrsarmen, abgelegenen Regionen setzte dieser Trend mit einer Zeitverzögerung von 30 bis 50 Jahren ein. Auch waren es erst die Männer, die die Tracht ablegten, weil sie durch den Handel mehr Kontakt zu ‚Fremden‛ hatten. Heierli bezeichnete die traditionelle Bekleidung als ‚Ehrenkleid‛, das den höchsten und heiligsten Feiertagen diene. Als solches solle es als Symbol eines Standes getragen werden und nicht als Verkleidung für Städter und Fremde. Auch die Anfertigung von Trachten in kostbaren Materialien bewertete Heierli negativ, weil diese dadurch „zu Reklameund als Festtrachten herabgewürdigt“ werden. Schon allein die Veränderung der ursprünglichen Tracht durch ein hochwertigeres Material sowie das Tragen zu einem anderen als dem traditionellen Zweck wurde als Herabwürdigung empfunden.
Dennoch hat sich...