Kapitel 1
Ein Licht scheint auf
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. … Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende …
Jesaja 9,1.4-6
Woran merkt man es, dass es bald wieder Weihnachten ist? Unter anderem an den vielen Lichtern. Lichter an Bäumen, Kerzen in Fenstern – überall wird es hell. Die Weihnachtsbeleuchtung von New York begeistert selbst die gleichgültigsten Zeitgenossen. Die ganze Innenstadt scheint ein Sternenmeer zu sein. Und das hat seinen Sinn, denn der 25. Dezember folgt auf die dunkelsten Wochen des Jahres im Mittelmeerraum und in Europa, wo das christliche Weihnachtsfest entstanden ist. Doch die Lichter sehen nicht nur schön aus, sie haben eine tiefe Bedeutung.
Die Finsternis der Welt
Egal, was Sie in einem Zimmer machen wollen, Sie müssen zuerst für Licht sorgen, sonst können Sie nichts sehen. Das Weihnachtsfest enthält viele geistliche Wahrheiten, aber wir werden uns schwertun, die anderen zu erfassen, wenn wir nicht diese erste sehen: Unsere Welt ist ein finsterer Ort, und wir werden in ihr nie unseren Weg finden oder die Realität sehen, wenn nicht Jesus unser Licht ist. Der Evangelist Matthäus sagt uns mit einem Zitat aus Jesaja 9,1: „Das Volk, das in der Finsternis lebt, sieht ein großes Licht; über denen, die im Land der Todesschatten wohnen, ist ein helles Licht aufgegangen“ (Matthäus 4,16). Und Johannes nennt Jesus „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet – das Licht, das in die Welt kommen sollte. Er war in der Welt, aber die Welt, die durch ihn geschaffen war, erkannte ihn nicht“ (Johannes 1,9-10).
Inwiefern ist die Welt finster? In der Bibel meint „Finsternis“ zweierlei: das Böse und die Unwissenheit. Es bedeutet erstens, dass die Welt voll ist von Bösem und unsäglichem Leid. Wer das nicht glaubt, braucht sich nur anzuschauen, wie es zu der Zeit war, wo Jesus geboren wurde: Gewalt, Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch, Heimatlose und Flüchtlinge, Familien, die zerrissen wurden, Elend ohne Ende. Klingt verdächtig nach unserer heutigen Welt.
Das zweite „Finstere“ in unserer Welt ist, dass niemand uns sagen kann, wie man das Böse in ihr abschaffen, das Leiden heilen kann. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“ – Jesaja 9,1 ist ein bekannter Weihnachtstext, eine der großen Prophezeiungen der Geburt Jesu, musikalisch unsterblich geworden unter anderem in Händels „Messias“. Doch es ist das Ende von Jesaja 8, das uns genauer erklärt, warum wir Gottes Licht brauchen. In Jesaja 8,19 sehen wir Menschen, die Medien und Zauberer befragen, anstatt sich an Gott zu wenden, und in den Versen 21-22 heißt es: „Sie werden im Lande umhergehen, hart geschlagen und hungrig … und unter sich die Erde ansehen und nichts finden als Trübsal und Finsternis; denn sie sind im Dunkel der Angst und gehen irre im Finstern.“
Was geht hier vor? Die Menschen schauen zur Erde hinunter – also zu den menschlichen Möglichkeiten, diese Welt heil zu machen. Sie schauen auf ihre Experten, ihre Mystiker, ihre Wissenschaftler und Gelehrten – sicher haben die eine Lösung? Sie sagen: „Schön, wir sind im Dunkeln, aber da kommen wir schon raus, das schaffen wir schon!“ Heute hört man die gleiche Behauptung. Die einen erwarten die Lösung vom Staat, andere (das sind schon mehr) von den freien Märkten, und jeder setzt auf die Technologie. Und sie alle gehen von der gleichen Grundannahme aus: Die Welt ist dunkel, aber mit genügend Intellekt und Innovation werden wir – jawohl, wir – sie schon hell bekommen …
Vor Jahren las ich in einer der größten Zeitungen Amerikas, der New York Times, eine Anzeige, die so lautete: „Die Bedeutung von Weihnachten ist, dass die Liebe triumphieren wird und dass es uns gelingen wird, eine Welt der Einheit und des Friedens zu bauen.“ Mit anderen Worten: Wir tragen das Licht in uns selber; wir sind diejenigen, die die Finsternis der Welt vertreiben werden. Wir können sie überwinden, die Armut, die Ungerechtigkeit, die Gewalt und das Böse. Wenn wir alle an einem Strang ziehen, können wir „eine Welt der Einheit und des Friedens“ schaffen.
Aber können wir das wirklich? Einer der weisesten Staatsmänner des späten 20. Jahrhunderts war Václav Havel, der erste Präsident der Tschechischen Republik. Havel kannte sich wie kaum ein anderer sowohl mit dem Sozialismus als auch mit dem Kapitalismus aus und traute keinem der beiden zu, die großen Probleme der Menschheit zu lösen. Er wusste: Die von der Moral losgelöste Wissenschaft hatte uns den Holocaust beschert. Er kam zu dem Schluss, dass weder die Technologie noch der Staat noch der Markt der große Heiland war, der uns vor einem drohenden Atomkrieg, ethnischer Gewalt oder der Umweltzerstörung retten konnte. Havel wörtlich: „Die Jagd nach Wohlstand wird der Menschheit nicht helfen, sich zu retten, und auch die Demokratie allein reicht nicht. Was wir brauchen, ist die Hinwendung zu und die Suche nach … Gott.“4 Die Menschheit vergisst ständig, so Havel an anderer Stelle, dass „sie nicht Gott ist“5.
Der Realismus des Weihnachtsfestes
Der Inserent in der New York Times hat es zweifellos ehrlich gemeint, aber die Botschaft von Weihnachten ist nicht, dass wir „eine Welt der Einheit und des Friedens“ schaffen können. Sie ist eigentlich das genaue Gegenteil. Havel bringt es auf den Punkt: Die Menschheit kann sich nicht selber retten, ja der Glaube, dass wir uns selber erlösen können – dass ein politisches System oder eine Ideologie die Probleme der Menschheit lösen kann –, hat nur zu noch mehr Finsternis geführt. Wenn man, wie der Philosoph Bertrand Russell, nicht glaubt, dass es einen Gott oder eine übernatürliche, transzendente Dimension der Realität gibt, und die große Erleuchtung von der Wissenschaft erwartet, steht man am Ende noch mehr im Dunkeln da:
Ungefähr so, nur noch sinn- und bedeutungsloser, ist die Welt, die die Wissenschaft unserem Glauben darbietet. … Dass der Mensch das Produkt von Ursachen ist, die nicht wussten, wohin sie führen würden, dass sein Ursprung, sein Aufwachsen, seine Hoffnungen und seine Ängste, was er liebt und was er glaubt, nichts als das Ergebnis zufälliger Konstellationen von Atomen ist, dass kein Eifer, kein Heldentum, kein noch so starker Gedanke oder Gefühl unser Leben über das Grab hinaus verlängern kann, dass all die Mühen der Zeitalter, all die Hingabe, all die Inspiration, all das gleißende Licht des menschlichen Genius dazu bestimmt sind, im Riesentod des Sonnensystems mit zu verlöschen, und dass der ganze Tempel der menschlichen Errungenschaften einst unweigerlich unter den Trümmern eines zerbrochenen Universums begraben liegen wird … nur in dem Rahmen dieser Wahrheiten, nur auf dem festen Fundament der trotzigen Verzweiflung können wir das Haus der Seele in Zukunft noch sicher errichten.6
Das ist eine wahrhaft finstere Perspektive! Und sie unterstreicht das, was wir in Jesaja 8 sahen: Wenn wir nur auf die Erde und unsere menschlichen Möglichkeiten schauen, wird die Finsternis nur noch schlimmer.
Das Weihnachtsfest ist daher die denkbar unsentimentalste, realistischste Art, das Leben zu betrachten. Weihnachten heißt nicht: „Kopf hoch! Wenn wir alle an einem Strang ziehen, können wir eine bessere Welt schaffen.“ Die Bibel empfiehlt an keiner Stelle eine gleichgültige Einstellung zu den Mächten der Finsternis; sie ruft zum Kampf gegen sie auf. Aber sie gibt sich keinen Illusionen hin, dass wir die Finsternis aus unserer eigenen Kraft besiegen können. Der christliche Glaube hält es nicht mit jenen Optimisten, die sagen: „Wir können die Welt reparieren, wenn wir uns nur Mühe geben.“ Nein, die Botschaft des Christentums lautet: „Es steht wirklich so schlecht um die Welt und wir können uns nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Es ist wirklich so dunkel – aber es gibt Hoffnung.“ Die christliche Botschaft ist: „Über denen, die im Land der Todesschatten wohnen, ist ein helles Licht aufgegangen.“ Man beachte, dass hier nicht steht, dass das Licht aus der Welt selber kommt, sondern es ist über ihr aufgegangen. Das Licht kommt von außen. Es gibt Licht „draußen“, jenseits dieser Welt, und Jesus hat dieses Licht gebracht, um uns zu erlösen, ja er ist dieses Licht (Johannes 8,12).
Was das Licht bedeutet
Wenn Jesaja davon spricht, dass Gottes Licht über einer finsteren Welt „aufgeht“, benutzt er die Sonne als Symbol. Das Licht...