Teil II Perspektiven zum Planungsprozess
Kapitel 2 Der Streit zwischen Planern und Inkrementalisten
Es wäre sicherlich hilfreich, wenn man zu Beginn eines Strategiebuches zunächst eine eindeutige Definition des untersuchten Phänomens »Unternehmungsstrategie« anbieten könnte. Eine solche klare Definition würde nicht nur helfen, den weiteren Verlauf des Buchs zu strukturieren, sondern auch dazu dienen, konfligierende Auffassungen und Interpretationen einer Lösung zuzuführen. Zwar werden ein allgemeiner Definitionsversuch, und damit eine Strukturierungshilfe, das Resultat dieses Kapitels sein, Aufgabe dieser Strukturierungshilfe ist es dann jedoch nicht, konfligierende Auffassungen aufzulösen. Die Divergenzen über das, was man unter Unternehmungsstrategie und Strategischem Management verstehen sollte, sind fundamental und es ist gerade ein Ziel dieses Buches, diese Meinungsunterschiede unverblümt offenzulegen. Das angestrebte prozessbezogene Ordnungsschema (die Strukturierungshilfe) soll lediglich ermöglichen, das Strategiephänomen vor dem Hintergrund konfligierender Ansätze zu diskutieren und zu erforschen. Das Schema soll der Integration dienen, indem es dazu anhält, eine eklektische Theorie12 des Strategischen Managements zu entwickeln.
Prozessmodelle der Strategieformation
Die Art und Weise, in der sich Strategien in Unternehmungen herausbilden, gehört zu der ersten und historisch gesehen ältesten Kontroverse der strategischen Managementliteratur. Es gibt kein einheitliches Prozessmodell der Strategieformation. Chaffee (1985) unterscheidet drei Modelle, Bailey und Johnson (1992) sechs und Mintzberg (1990a) differenziert sogar zwischen zehn Schulen und Prozessperspektiven des Strategischen Managements. Diese jeweils unterschiedliche Anzahl ist allerdings ein Resultat unterschiedlich breit gewählter Abgrenzungskategorien. Werden diese sehr breit ausgelegt, so lassen sich alle Unterscheidungen unter zwei Modellen subsumieren: einem präskriptiven Modell der synoptischen Planung und einem deskriptiven Modell des Inkrementalismus (Mintzberg, 1990a; DeWit & Meyer, 2004: 117; Grant, 2003).
Das Planungsmodell entstammt der frühesten Entwicklungsphase des Strategischen Managements und ist eng mit dem Namen Igor Ansoff (1965) verbunden. Das Modell ist kennzeichnend für den größten Teil der heute veröffentlichten Lehrbücher (vgl. z. B. Welge & Al-Laham, 2008; Wheelen & Hunger, 2008). Dieser Ansatz ist präskriptiv, denn er macht Gestaltungsempfehlungen für den Prozess der strategischen Planung. Ein Befolgen der Gestaltungsempfehlungen soll ein Höchstmaß an Effizienz bei der Durchführung der Planungsaufgabe ermöglichen. Als wesentliche Charakteristika aller synoptischen Planungsprozessmodelle hebt Schreyögg (1984: 133f.) fünf Tatbestände hervor:
- Die Strategieformulierung ist durch einen systematischen Prozess gekennzeichnet, der mehrere aufeinander folgende Schritte umfasst (Zielformulierung, SWOT-Analyse, Bewertung und Auswahl von Strategiealternativen).
- Der so formulierte strategische Plan bildet die Grundlage für die Erstellung detaillierter Programme, Kurzfristpläne und Budgets, durch die der Plan implementiert werden soll.
- Die Organisation und das Führungssystem werden auf die Strategie und ihre Implementierungserfordernisse zugeschnitten.
- Der strategische Plan und daraus abgeleitete Maßnahmenpläne sind umfassend, d. h. sie sollten sämtliche als wichtig erkannte Faktoren und Aktivitätsbereiche berücksichtigen.
- Strategische Planungsentscheidungen sind eine originäre, nichtdelegierbare Aufgabe der Unternehmungsleitung.
Das Inkrementalmodell entwickelte sich aus der empirischen Analyse strategischer Entscheidungsprozesse, in denen eine eindeutige, phasendeterminierte Aktivitätenfolge, wie von den Planungsansätzen unterstellt, nicht nachgewiesen werden konnte (Braybrooke & Lindblom, 1963; Mintzberg et al., 1976; Pascale, 1984; Mintzberg & Waters, 1990). Hauptvertreter der inkrementalen Planungsprozessmodelle sind gegenwärtig Henry Mintzberg (1987, 1990a) und James Brian Quinn (1980). Frühe Vertreter des Inkrementalismus argumentierten, dass aufgrund von Faktoren, wie begrenzter Informationsverarbeitungskapazität der Planungsträger und begrenzter Verfügbarkeit von Informationen, ein Planungsprozess eher den Charakter des sich »Durchwurstelns« (muddling through) und der Strategie der kleinen Schritte (disjointed incrementalism) habe, als den eines systematisch ablaufenden Prozesses (Lindblom, 1969). Diese Überlegungen wurden von Quinn (1980) zu einem »logischen Inkrementalismus« weiterentwickelt, der den Auffassungen der gegenwärtigen Vertreter von Inkrementalmodellen entspricht (Mintzberg et al., 2002). Als wichtige Merkmale des logischen Inkrementalismus lassen sich wieder fünf Faktoren hervorheben (Schreyögg, 1984: 239f.; Quinn, 1978, 1980):
- Strategische Initiativen und die Vorformulierung von Strategien ergeben sich dezentral in den strategischen Subsystemen (z. B. Divisionen, Funktionsbereichen), und zwar unregelmäßig, nicht nach einem strengen Muster ablaufend.
- Die zentrale Aufgabe des Topmanagements besteht in der Steuerung und Konkretisierung der Vorschläge, die in den Subsystemen entstehen, um diese zu einer Gesamtstrategie auszuformen. Obwohl diese Vorgehensweise nicht streng geordnet abläuft, folgt sie doch einer klaren inneren Logik, denn die Steuerungsfunktion wird vom Topmanagement bewusst und proaktiv wahrgenommen.
- Zur Vorsteuerung entwickelt das Topmanagement strategische Globalziele, die an die Subsysteme kommuniziert werden.
- Das formale System der strategischen Planung dient primär dazu, das Topmanagement bei seiner integrierenden und intervenierenden Steuerungsaufgabe zu unterstützen und Innovationsimpulse zu setzen. Zu diesen Funktionen zählen z. B. die Sensibilisierung für visionäre strategische Möglichkeiten und die Konkretisierung von Zukunftsprojekten, die von den Subsystemen vernachlässigt werden.
- Die strategischen Pläne fungieren nur als grobe Richtlinie, eine detaillierte Jahresplanung obliegt den strategischen Subsystemen. Das Topmanagement toleriert somit Ambiguität und Unbestimmtheit im Prozessablauf.
Die Kontroverse zwischen den »Planern« und den »Inkrementalisten« begann in den 1970er Jahren, setzte sich während der 1980er Jahre fort und reicht bis in die Gegenwart. Zunächst entstanden zusätzliche Varianten der beiden Grundmodelle, deren Augenmerk auf besondere Tatbestände, wie z. B. Kognitionen, Macht oder Organisationskulturen, ausgerichtet war (Mintzberg, 1990a). Diese Varianten konnten die grundlegende Kontroverse über das Wesen des strategischen Planungsprozesses nicht beenden.
Im Folgenden werden zunächst zwei Artikel zur weiterführenden Lektüre (von Mintzberg und von Ansoff) vorgestellt, die die wesentlichen Argumente der Kontroverse zusammenfassen. Im Anschluss folgt ein früher, auf Integration abzielender Beitrag von Weick. Nach diesen Lektüreempfehlungen wird die Kontroverse zwischen Planern und Inkrementalisten erneut aufgegriffen und vor dem Hintergrund jüngerer Literatur relativiert. Es zeigt sich, dass die Kontroverse zum gegenwärtigen Zeitpunkt als entschärft gelten kann, dass aber neuer, kontingenztheoretischer Forschungsbedarf besteht. Zum besseren Verständnis dieser Argumentation werden an dieser Stelle drei weitere Literaturquellen empfohlen und skizziert (die Artikel von Brews & Hunt, Grant und Ketokivi & Castañer). Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Vorstellung des Prozessmodells, das als Ordnungsschema dieses Buchs Verwendung findet.
Literaturempfehlungen
- Der Artikel, »The Design School: Reconsidering The Basic Premises Of Strategic Management« von H. Mintzberg (Strategic Management Journal, Jg. 11, 1990b; S. 171–195), greift grundlegende Prämissen der Planungsmodelle an, und zwar auf der Basis der Erkenntnisse der Inkrementalisten. Zentral ist z. B. die Kritik an der Loslösung des (rationalen) Denkens von den Handlungen der Organisationsmitglieder oder an der Trennung von Strategieformulierung und -implementierung. Zwar bezieht sich Mintzberg explizit auf die Design School der Harvard Business School, er macht jedoch deutlich, dass die vorgetragenen Kritikpunkte für alle präskriptiven Planungsmodelle gelten.
- I. Ansoff verteidigt die Planungsansätze in seinem Artikel, »Critique Of Henry Mintzberg’s ›The Design School: Reconsidering The Basic Premises Of Strategic Management‹« (Strategic Management Journal, Jg. 12, 1991; S. 449–461), indem er versucht, die Prämissenkritik Mintzbergs zu entkräften. Er hält Mintzberg vor, in seiner Kritik weder methodisch sauber vorgegangen zu sein noch die faktische Evidenz richtig wiedergegeben zu haben. Darüber hinaus kritisiert Ansoff das Modell des organisationalen Lernens der Inkrementalisten als ein antiquiertes, existentielles Modell, das den Anforderungen moderner Unternehmungen nicht gerecht wird.
- Der Aufsatz, »Substitutes For Strategy« von K. Weick (in: Teece, D., Hrsg., The Competitive Challenge. Strategies for Industrial Innovation and Renewal, Cambridge, 1987, S. 221–233), fällt scheinbar eher in die Argumentationslinie der Inkrementalisten als in die der Planer. Dennoch trägt er Gedanken vor, die zu einer...