2 Struktur
2.1 Die Funktionen des Traumes
2.1.1 Die Funktion des Traumes in der Psychoanalyse und anderen tiefenpsychologischen Schulen
Da Traumerleben und Traumbericht verschiedene Kategorien darstellen und es, wie Rechtschaffen (1967) schrieb, kein empirisches Maß gibt, beide miteinander zu vergleichen, entzieht sich das Phänomen „Traum“ letztlich einer wissenschaftlichen Prüfung. Je nach wissenschaftlich-theoretischem Standort und individuellen Vorstellungen erschließen sich den jeweiligen Untersuchern von Traumberichten unterschiedliche Aspekte, die sich teilweise überschneiden, jedoch immer nur einzelne Facetten zum Verständnis des komplexen Phänomens „Traum“ darstellen können. Die Bedeutung des unterschiedlichen Standpunktes in der Traumdeutung wurde zum ersten Mal von Bittner (1983) hervorgehoben: Seiner Meinung nach besteht eine sog. synoptische Zusammenschau nicht darin, Analoges oder Ergänzendes zu entdecken, sondern einen Standpunkt zu finden, von dem aus die unterschiedlichen Betrachtungsweisen als sinnvolle Perspektiven einer Problemlösung erscheinen (vgl. S. 408f.).
Gemäß Hamburger (2006) ist für die Entwicklung von Lebewesen die Zuschreibung von Sinn durch ihre Pflegepersonen das zentrale Entwicklungsthema, weil jedes Gehirn darauf angelegt ist, Sinnzuschreibungen zu internalisieren. „Ohne dass wir ihre Träume für sinnvoll halten, lernen Kinder nicht träumen, und dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob wir es für einfache Wunscherfüllungen, frühe Affekte oder Selbstnarrative halten, was sie da träumen“ (S. 356). Aber ganz gleichgültig ist es auch für Hamburger nicht, weil sich Zuschreibung von Sinn bekanntlich an dem orientiert, was im zeitgenössischen gesellschaftlichen Konsens als sinnvoll gilt.
Im Folgenden beschreibe ich einige Funktionen des Traumes, die von der Psychoanalyse, tiefenpsychologischen Schulen sowie Neurowissenschaften erforscht und beschrieben wurden und die für Träume von Kindern, Jugendlichen und von Erwachsenen Gültigkeit besitzen.
Die Funktion der Wunscherfüllung
Für Freud (1900) war die Wunscherfüllung das konstante und ubiquitäre Merkmal jeden Traumes, sowohl innerhalb seiner topographischen Theorie als auch innerhalb der strukturellen Theorie. Seiner Meinung nach verfolgt das System Ubw als Ziel seiner Arbeit allein die Wunscherfüllung und verfügt auch über keine anderen Kräfte als die der Wunschregung (vgl. S. 541). Ein bewusster Wunsch könnte darum auch nur zum Traumerreger werden, wenn es ihm gelänge, einen gleich lautenden unbewussten zu wecken. Die halluzinierte Befriedigung der Wünsche würde dann zur Aufrechterhaltung des Schlafes führen, eine These, die von der physiologischen Schlafforschung zunächst allgemein angezweifelt wurde.
Freuds stark verallgemeinerndes Dogma von der Wunscherfüllung wurde von Vertretern anderer tiefenpsychologischer Schulen scharf kritisiert und in Frage gestellt (vgl. Jung, 1928; Siebenthal, 1953; Bartels, 1978). Aus Sicht der empirischen Forschung formulierten Fisher & Greenberg (1977) darum, dass es keinen empirischen Hinweis für die Hypothese gäbe, dass der Traum Ergebnis einer Wunscherfüllung sei („There is no empirical backing for this thesis that the dream is a camouflage wrapped around an inner concealed wish“, S. 394). Auch innerhalb der Psychoanalyse wird inzwischen angezweifelt, ob ein infantiler verdrängter Wunsch immer zur Traumentstehung erforderlich ist, auch wenn es weiterhin durchaus legitim erscheint, Träume als Ausdrucksgeschehen von Wünschen und Bedürfnissen zu betrachten (vgl. Thomä & Kächele, 1984, S. 158). Solms (1999) hat gerade diese Traumfunktion aus neurowissenschaftlicher Sicht nachweisen können. Er stellte fest, dass Schlaf und Affektivität antagonistische Zustände seien. Würde ein Signalaffekt während des Schlafs ausgelöst, so versuche das Ich, den zugrunde liegenden Triebabfuhrprozess in Gestalt eines halluzinatorischen Traumes von den motorischen Spannungen – einschließlich der Affektsysteme – ab- und auf die äußeren Wahrnehmungsoberflächen umzulenken. Misslinge dieser Versuch, so entstünde intensive Angst und der Traumprozess breche zusammen. „Daher dient das Träumen dem Schlaf und steht zur Affektivität ebenfalls in einem antagonistischen Verhältnis“ (S. 237).
Bereits 1931 hat Ferenczi der wunscherfüllenden Traumfunktion ein zweites Prinzip gegenübergestellt, die traumalösende (traumatolytische) Funktion. In ihr geht es um die Wiederkehr unerledigter, traumatischer, sensibler, oft präverbaler Eindrücke, die nach Erledigung ringen (zit. n. Will, 2003, S. 59).
Die kompensatorische Funktion
Weil ihnen die Wunscherfüllungstheorie als zu eng erschien, betonten vor allem Jung (1928), seine Schüler, aber auch Schultz-Hencke (1949), dass sich Träume kompensatorisch zur jeweiligen Bewusstseinslage verhielten. Gegenüber der Vorstellung von halluzinierter Wunschbefriedigung bedeutete diese Sichtweise eine wesentliche Erweiterung. Kompensatorisch bedeutet nach Jung (1928), dass das Unbewusste der Bewusstseinslage alle diejenigen Elemente angliedere, die am Vortag unterschwellig geblieben wären, weil sie verdrängt worden waren, unbeachtet blieben oder zu schwach waren, um das Bewusstsein zu erreichen (vgl. S. 117). Die Frage, ob Träume kompensatorischen (komplementären) Charakter besitzen oder ob sie kontinuierliche Züge tragen, indem sie die Situation des Wachzustandes reflektieren, besaß erhebliche Bedeutung für die empirische Traumforschung und veranlasste diese zu verschiedenen Anläufen, sie zu überprüfen (vgl. Cartwright, 1982).
Die prospektive Funktion
Nach Adler (1936) gibt jeder Traum den unbewussten Lebensstil des Träumers wieder und stellt gleichzeitig den Versuch dar, ein Lebensproblem zu lösen. Schon 1913 hatte er wie folgt definiert: „Im Traum erfolgt die Darstellung aller Durchgangspunkte des Vorausdenken mit den Mitteln der persönlichen Erfahrung“ (S. 580). Auch Jung betonte eine prospektive Funktion des Traumes, welche die im Unbewussten auftretende Antizipation zukünftiger bewusster Leistungen aufzeige, so wie ein im Voraus entworfener Plan (vgl. S. 117). Damit wird deutlich, dass die prospektive Funktion gleichzeitig eine problemlösende ist. Schon 1912 hatte Maeder die Ansicht vertreten, dass jedes Träumen einen Versuch darstellt, die Lösung aktueller Konflikte und Probleme vorbereitend zu üben und durch Symbole darzustellen. Freud (1914) hatte Maeder dahingehend scharf kritisiert, dass dies wohl keine Funktion des Träumens sei, sondern lediglich des vorbewussten Wachdenkens (vgl. S. 551).
Die Funktion der Selbstdarstellung
Freud hatte bereits 1900 festgestellt, dass die im Traum agierenden Personen, aber auch alle sonstigen Lebewesen auch als Persönlichkeitsanteile des Träumers verstanden werden müssen (S. 320). Jung (1928) rückte später die von ihm so benannte „Deutung auf der Subjektstufe“ in den Mittelpunkt seines Verständnisses vom Traum: Alle Figuren des Traumes werden auch als personifizierte Züge der Persönlichkeit des Träumers aufgefasst (vgl. S. 129).
Heute stimmen fast alle psychologischen Theorien vom Träumen darin überein, dass das Träumen – wie Fromm (1984) formulierte – eine sinn- und bedeutungsvolle Äußerung jeglicher Seelentätigkeit im Schlafzustand darstellt (vgl. S. 27). Infolgedessen wird auch davon ausgegangen, dass jeder Traum ganz spezifische Merkmale einer Persönlichkeit enthält. Hall (1966) definierte Träume gleichsam als einen Projektionsvorgang. Im ähnlichen Sinn sprach auch Kramer (1969) vom Traum als einem im „höchsten Maße verdichteten und projektiven Produkt eines Patienten“ (S. 377).
Träume, die den Zustand des Selbst und das Ausmaß der Integration von Selbstanteilen beschreiben, wurden von Kohut (1971) zur Veranschaulichung von Übertragungen bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen genutzt. Solche „Selbstzustandsträume“ wurden auch von anderen Autoren beschrieben, oft im Kontext mit einer Darstellung unterschiedlicher Behandlungstechniken (vgl. Blanck & Blanck, 1974; Grunert, 1977; Eckes-Lapp, 1983; Lüders, 1983). Fiss (1999) hat Kohuts Annahme erweitert, indem er empirisch nachgewiesen hat, dass solche Träume den Zustand des Selbst nicht nur widerspiegeln, sondern dass sie den Zustand des Selbst, seine Entwicklung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung sogar beeinflussen können.
Die kommunikative Funktion
Dem Vorgang des Traumberichtens kommt mittlerweile innerhalb der psychoanalytischen Therapie wie in der experimentellen Traumforschung eine ebenso gewichtige Funktion zu, wie dem Vorgang des Träumens selbst (vgl. Kanzer, 1955; Klauber, 1969; Becker, 1972, 1976), was in experimentellen Untersuchungen eindrucksvoll nachgewiesen wurde (vgl. Whitman et al., 1963; Tögel, 1981). Diese kommunikative Funktion des Traumes beschrieb Bach (1983) in der folgenden Weise: „Genauso stehen in der psychoanalytischen Traumlehre der Beobachter, d.h. sowohl der Träumer, der sein ‚Objekt‘ den Traum erinnert, als auch der Analytiker, der den Traum verstehen will, in einer Wechselbeziehung. Die ‚Subjektivität‘, also die Beteiligung des Betrachters am Prozess des Betrachtens, ist selber mehr und mehr Gegenstand der wissenschaftlichen Prüfung geworden“ (S. 228). Es ist also von höchster Bedeutung, weshalb ein Traum jetzt erzählt wird, warum er mir erzählt wird, oder warum er bereits einer anderen...