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E-Book

Stressfreier erziehen

Einfühlen statt schimpfen

AutorFelicitas Römer
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783843609173
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kinder im Vorschulalter fordern immer mehr Freiräume. Doch wie sollen Eltern auf Widerworte und Wutausbrüche ihrer Sprösslinge reagieren? Schelten und Strafen helfen nicht wirklich weiter, sondern sorgen nur für schlechte Stimmung. Viele Eltern merken selbst, dass Schimpfen keine Lösung ist, wissen aber nicht, was sie stattdessen tun können. Ihnen vermittelt Felicitas Römer Wege, wie sie ihr Kind mit mehr Souveränität, Geduld und Empathie erziehen können. Die erfahrene Familientherapeutin zeigt, wie Stressfallen zu vermeiden sind, und gibt ganz konkrete Tipps, wie eine empathische Erziehung gelingt.

FELICITAS RÖMER ist systemische Paar- und Familientherapeutin, außerdem arbeitet sie als Journalistin und Autorin. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.

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Leseprobe

1. »Muss ich erst ärgerlich werden?« Über Sinn und Unsinn des Schimpfens


»Wenn Annika zum dritten Mal abends aus dem Bett kommt, werde ich ärgerlich und fange an, herumzuzetern. Dann weint sie und es tut mir wieder leid, dass ich mit ihr geschimpft habe. Ich bin dann hin- und hergerissen und weiß nicht genau, was ich tun soll. Ich weiß nur, dass ich eigentlich nicht schimpfen möchte. Meine Eltern haben sehr oft mit mir geschimpft, als ich klein war. Ich fand das ungerecht von ihnen. Deshalb möchte ich das bei meinem eigenen Kind eigentlich anders machen. Aber es klappt halt leider oft nicht.« (Martina, 34)1

Schimpfen Sie auch ab und zu mit Ihrem Kind? Vermutlich. Fast alle Eltern tun das. Wenn Sie nur gelegentlich schimpfen und Ihr Schimpfen meistens moderat ausfällt, dann brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Keine Mutter ist eine »schlechte« Mutter, nur weil sie gelegentlich schimpft oder ärgerlich auf ihr Kind ist. Und überhaupt: Ein schlechtes Gewissen ist überflüssig. Es hilft ja nicht wirklich dabei, etwas zu verändern. Sondern quält nur.

Dennoch ist Schimpfen in der Kindererziehung unnötig und wenig hilfreich. Manchmal ist es sogar schädlich, da es die Beziehung zwischen Eltern und Kind empfindlich belasten kann. »Wieso?«, könnte man fragen. »Wurden Kinder nicht schon immer ausgeschimpft?« Sicher, mit Kindern wurde in der Vergangenheit oft und viel und laut geschimpft. Das macht es nicht besser. Man fand das ziemlich lange normal und angemessen. Eltern durften nicht nur mit ihren Kindern schimpfen, es wurde sogar von ihnen erwartet. Und es wurde als legitime oder gar nützliche Erziehungsmethode deklariert. Die Ansicht, man müsse Kinder ausschimpfen und betrafen, hat (nicht nur) in Deutschland eine lange Tradition. Noch Ende des 19. Jahrhunderts war der gottes- und obrigkeitsfürchtige Mensch das erklärte Erziehungsziel. Es ging um Zucht und Ordnung: Das Kind sollte Befehle entgegennehmen und gehorsam sein. Der Rohrstock war das Erziehungsinstrument Nummer 1, mithilfe dessen diese Erziehungsziele durchgesetzt wurden.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts formierte sich eine Gegenbewegung, die sogenannte Reformpädagogik. Der Schweizer ­Johann Heinrich Pestalozzi, die Italienerin Maria Montessori oder der Brite Alexander Sutherland Neill etwa forderten, das Kind als Individuum zu achten und seine kreativen Kräfte zu fördern. Dieser Ansatz war revolutionär, konnte sich jedoch nicht dauerhaft durchsetzen. Denn der Nationalsozialismus brachte eine verheerende Wende mit sich: Kritisches, eigenständiges Denken des Kindes wurde fortan unterbunden. Das Kind sollte zu einem angepassten Mitläufer, einem unkritischen Befehlsempfänger erzogen werden. Es ging mehr denn je darum, dem Kind den bedingungslosen Gehorsam einzuprägen, den das Naziregime brauchte, um willige Soldaten zu produzieren. Ein liebloser Umgang mit Säuglingen und Kindern wurde zum Ideal erhoben, in der Absicht, das Kind abzuhärten und seinen Willen zu brechen. Noch bis in die 1950er Jahre hinein wurden viele Kinder nach diesen Erziehungsmaximen erzogen: Ein Baby stundenlang in seinem Bettchen schreien zu lassen war an der Tagesordnung, angeblich sei das gut für die Lungen. Tatsächlich hatte aber die Bindungstheorie nach Bowlby u. a. schon längst gezeigt, dass eine hohe Frustration der sogenannten Basalbedürfnisse des Babys nach körperlicher Nähe und emotionaler Sicherheit schwere psychische Störungen und massive Bindungsprobleme verursachen kann.

Glücklicherweise berücksichtigen wir heute, dass ein Säugling auch ein »Tragling« ist, der auf körperlich-emotionale Zuwendung sowie eine verlässliche und intensive Bindung zu einer Vertrauensperson angewiesen ist. Und wir sind allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass bereits kleine Kinder ernst zu nehmende Wesen sind, deren psychische und physische Integrität es unbedingt zu respektieren und zu schützen gilt. Auch das ist eine erfreuliche Entwicklung, die der gesunden psychischen Entwicklung unserer Kinder dienlich ist.

Ziel all unserer Erziehungsbemühungen ist heute also der mündige, selbstbestimmte und verantwortungsbewusste Mensch, der die demokratischen Werte respektiert und zu einem fried­lichen Miteinander in der Gesellschaft beitragen kann. Im Zuge dieser Veränderung der Erziehungsziele sind glücklicherweise auch viele altmodische und grausame Erziehungsmethoden aus der Mode gekommen. So ist der Rohrstock schon längst kein gesellschaftlich akzeptiertes Erziehungsinstrument mehr. Im Gegenteil: Gewaltanwendung in der Erziehung ist nach § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gesetzlich verboten. Dort heißt es: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.«2 Dieses Gesetz wurde im Jahr 2000 verabschiedet – spät, aber besser als nie. Es besagt: Weder Eltern noch andere Aufsichts- bzw. Erziehungspersonen dürfen Kinder in Deutschland psychisch oder physisch angreifen, verletzen oder erniedrigen.

Wenngleich es auch immer noch zu viel Gewalt in Familien gibt und auch die entsprechende Dunkelziffer leider hoch sein mag: Der gesellschaftliche Konsens in Deutschland geht allen Untersuchungen zufolge in Richtung »Gewaltfreiheit in der Erziehung«. Die Mehrheit der Eltern sieht auch den Einsatz von Strafmaßnahmen in der Erziehung mittlerweile kritisch.

Schimpfen hingegen ist noch recht weit verbreitet, auch wenn es in den gängigen Erziehungskonzepten durchaus als unzeitgemäß und wenig hilfreich eingeschätzt wird. Schimpfen ist also eher das Relikt eines veralteten Erziehungsstils als eine notwendige und zeitgemäße Erziehungstechnik. Ist denn elterliches Schimpfen überhaupt eine Erziehungstechnik? Nein, keinesfalls. Doch was ist es dann? Und warum halten Eltern so hartnäckig am Schimpfen fest?

Was heißt schon »Schimpfen«? Definition und Funktion


Der Duden definiert Schimpfen als »seinem Unwillen, Ärger mit heftigen Worten [unbeherrscht] Ausdruck geben« oder »jemanden schimpfend zurechtweisen«3. Schimpfen ist also nichts anderes als der Ausdruck des eigenen Ärgers über das Verhalten eines anderen. So weit, so klar. Doch welche Funktion erfüllt das Schimpfen eigentlich? Was bringt es uns, wenn wir unsere Kinder ausschimpfen? Und was passiert mit demjenigen, der ausgeschimpft wird?

  • Zunächst ist das Schimpfen eine Art Affektabfuhr. Der schimpfende Elternteil lässt seiner Frustration über das Verhalten des Kindes freien Lauf und erlebt so eine (kurzfristige und oberflächliche) emotionale Entlastung – freilich auf Kosten des Kindes, das sich durch die Schimpftirade herabgesetzt oder gar gedemütigt fühlt.
  • In der Verhaltensbiologie wird das Schimpfen als Drohgebärde verstanden, die der Einschüchterung oder Abschreckung dient. Eltern, die ihr Kind demonstrativ und häufig ausschimpfen, erschrecken ihr Kind und schüchtern es ein.
  • Weiterhin gilt Schimpfen in der Verhaltensbiologie als Demonstration der eigenen Stärke. Indem Eltern ihr Kind aus- oder sogar beschimpfen, demonstrieren sie ihre Macht. Dem Kind bleibt – da es schwächer ist – nur noch, klein beizugeben und sein Verhalten so zu verändern, dass die Erwachsenen beschwichtigt und beruhigt sind. Werden Kinder etwa ausgeschimpft, wenn sie wütend sind oder wenn sie weinen, so lernen sie rasch, ihre Traurigkeit und Wut dauerhaft zu unterdrücken.
  • Eine weitere Funktion des elterlichen Schimpfens besteht darin, die eigenen Interessen beim Kind durchzusetzen. Ist das Kind etwa »ungehorsam«, dann wird es durch Schimpfen so unter Druck gesetzt, dass es sich wie gewünscht verhält. Dass dieser Effekt nur vordergründig funktioniert und hohe Nebenwirkungen und Risiken birgt, werden wir im nächsten Kapitel sehen.
  • Elterliches Schimpfen resultiert oft aus der eigenen gefühlten Hilflosigkeit und sorgt dafür, die gefühlte Ohnmacht vorübergehend in Macht umzuwandeln. Schimpfen wäre in diesem Sinne eine Abwehrstrategie: Um das eigene Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit nicht spüren zu müssen, wird der Betroffene laut und macht das eigene Kind hilflos. Man kann also davon ausgehen, dass ein oft oder laut schimpfender Elternteil, der an sich vom Schimpfen als Erziehungsmethode nichts hält, gerade selber stark in Bedrängnis ist.

Übung: Das eigene Schimpfverhalten verstehen

Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit und überlegen Sie in Ruhe, wann Sie das letzte Mal mit Ihrem Kind geschimpft haben. Versetzen Sie sich noch einmal in die Situation hinein und lassen Sie das Geschehen vor Ihrem geistigen Auge Revue passieren. Lassen Sie dabei alle Gefühle zu, die kommen.

Überlegen Sie:

  • Was war der Auslöser/Anlass Ihres Schimpfens? Was genau ist passiert, bevor Sie angefangen haben zu schimpfen? Was hat das kindliche Verhalten bei Ihnen ausgelöst?
  • Wie haben Sie sich gefühlt, bevor Sie angefangen haben zu schimpfen? Wie war Ihre Stimmungslage?

– Hat Sie etwas akut belastet oder gestresst?

– Waren Sie unter Zeitdruck?

– Haben Sie sich über jemand anderen geärgert?

– Hatten Sie Schmerzen oder andere Beschwerden?

  • Wie haben Sie sich während des Schimpfens gefühlt?
  • Was haben Sie danach empfunden?
  • Wie hat Ihr Kind die Situation erlebt? Wie hat es reagiert?
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