UWE DANKER/SEBASTIAN LEHMANN
»STRUKTURWANDEL: SCHLESWIG-HOLSTEIN ALS LAND«1
»Schleswig-Holstein – Land im Aufbau«2, »Zwischen gestern und morgen«3, »Ein Land verändert sein Gesicht«4 oder »Eine Region im Wandel«5. Bereits seit den 1950er Jahren bemühten Publikationen zum Land Schleswig-Holstein zumeist dynamische Bilder des Wandels, um die hier stattfindenden sozioökonomischen Entwicklungsprozesse auf den Punkt zu bringen. Dieser Metaphorik begegnet man bis heute. Bislang existieren auf die Region bezogen jedoch keine wissenschaftlichen Studien, geschweige denn umfassende historische Forschungsprojekte, in denen der strukturelle Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft genauer untersucht und dargestellt worden ist. Die Auflösung dieses Desiderats wird den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer ›Geschichte Schleswig-Holsteins als (Bundes-) Land‹ bilden. In der nachfolgenden Skizze für ein Forschungsprogramm des IZRG soll dieser Ansatz, der neben Aspekten der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte auch kultur-, erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche Dimensionen umfasst, begründet und erläutert werden.
Perspektiven
In industriellen und postindustriellen Gesellschaften bildet der Wandel gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen den »Normalfall«. Stagnation ist ebenso erklärungsbedürftig wie beschleunigter Wandel. Es geht daher – nach Hans-Ulrich Wehler – »gar nicht um An- oder Abwesenheit von Wandel, sondern immer nur um den Grad oder das Ausmaß des Wandels«.6 Ausgehend von einer theoretisch abgesicherten, projektbezogenen Arbeitsdefinition7 begreifen wir Strukturwandel als beschleunigten, tief greifenden und unumkehrbaren Wandel grundlegender sozialer und ökonomischer Strukturen. In dieser Sichtweise ist der Begriff des Strukturwandels auf Aspekte sozialen Wandels hin erweitert und wird von uns dementsprechend gebraucht. Derartige Wandlungsprozesse lassen sich empirisch belegen, in ihren Ursachen, Verläufen und Folgen beschreiben und historisch einordnen. Sektorale Produktionszahlen, technologische Entwicklungen oder strukturplanerische Konzepte können dafür erste Anhaltspunkte liefern. Jenseits davon hat struktureller Wandel jedoch auch ganz konkrete Auswirkungen für diejenigen, die davon ›beansprucht‹ werden, sei es durch umfassende Veränderungen der Arbeits- und Lebensformen oder sich wandelnde Selbstwahrnehmungen infolge des Auseinanderbrechens traditioneller Milieus.
Fragestellungen
Wir fragen nach Strukturen ebenso wie nach ›Betroffenheit‹, wollen Ansätze der ›modernen‹ Gesellschafts- ebenso wie der ›klassischen‹ Sozialgeschichte nutzbar machen. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Ursachen, Verläufen und Folgen des Strukturwandels: Erstens sind die internen und externen Bedingungsfaktoren für sozioökonomischen Wandel, die Quellen des Modernisierungsdrucks zu benennen und einzuordnen. Zweitens gilt es, den Wandel zu beschreiben, also zu ermitteln, in welcher Form, in welchem Ausmaß, in welchen Sektoren und in welcher Tiefe der Wandel Schleswig-Holstein betraf. Weiterhin stellt sich die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten der Wandlungsprozesse: Inwieweit ›geschieht‹ Wandel, inwieweit lässt sich dieser steuern oder beeinflussend begleiten? Bedeutsam ist drittens die Analyse der Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster sowie der Verarbeitungsstrategien des sozioökonomischen Wandels durch die Betroffenen. In welcher Form wird struktureller Wandel von welchen Gruppen erfahren, welche Folgen hat dies real und auch für die Selbstwahrnehmung respektive Rollenidentität? Welche Strategien zur Verarbeitung der Wandlungsprozesse lassen sich erkennen, wie sind sie zu interpretieren? Wie und in welchem Ausmaß verändert der Strukturwandel ein in weiten Teilen ländlich-kleinstädtisch geprägtes Land, wie ›verkraftet‹ dessen regionale Gesellschaft den Wandel? Zu analysieren ist die zu vermutende Diskrepanz zwischen dem, was sich in gesamtgesellschaftlicher Perspektive als »normale Beanspruchung« (Wehler) ausnimmt, und den mitunter radikalen Folgen, welche der Wandel für einzelne Gruppen und Milieus bringt.
Aufgliederung in Teilthemen
Eine umfassende und flächendeckende Gesamtschau des Strukturwandels in Schleswig-Holstein in allen seinen Einzelbereichen ist aus forschungspraktischen Gründen nicht leistbar. Die nach Möglichkeit jeweils doppelt angelegte exemplarische Analyse relevanter Kernbereiche wird es aber möglich machen, übergreifende Indikatoren des Strukturwandels herauszuarbeiten (Makroebene) und so die wesentlichen Ursachen, Verläufe, Folgen und perspektivischen Wahrnehmungen der Wandlungsprozesse mit der entsprechenden Tiefenschärfe bis hinab auf die Ebene ›Dorf‹ oder ›Betrieb‹ (Mikroebene) zu analysieren. Will man den Wandel in Schleswig-Holstein beschreiben, bieten sich die folgenden exemplarischen Teilthemen an, die – eng aufeinander bezogen – besondere Veränderungsrelevanz besitzen:
–Landwirtschaft als der jenseits aller volkswirtschaftlichen Bedeutung prägende Sektor des ländlich strukturierten Bundeslandes Schleswig-Holstein
–Schwerindustrie, allen voran die im Küstenland Schleswig-Holstein zentrale und auch symbolisch bedeutsame Leitindustrie Schiffbau
–Tourismus als der für den Tertiärsektor des Landes im hohen Maße repräsentative Bereich
–Bildung als Handlungsfeld und Katalysator von hoher gesellschaftlicher Relevanz – gerade – im Flächenland Schleswig-Holstein
–Bundeswehr als außerkonjunktureller Antrieb des Strukturwandels und Modernisierungsfaktor in der ländlichen Gesellschaft.
Jedes der fünf Themen besitzt für sich genommen zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Bundeslandes Schleswig-Holstein und liefert exemplarisch Erkenntnisse für das Verständnis des Strukturwandels in der Region.
–So sind beispielsweise in den ›klassischen‹ Bereichen Landwirtschaft und Schwerindustrie die milieuspezifischen Bindungen und Selbstbilder als besonders stark und bedeutungsgeladen zu veranschlagen, weshalb Strukturwandel dort oftmals als besonders einschneidend wahrgenommen wurde.
–So traf der Einbruch des Massentourismus in Schleswig-Holstein sowohl davon nahezu noch unberührte Regionen als auch traditionelle Urlaubsorte mit nachhaltigen Auswirkungen für die Wirtschaftsstruktur und die mittelbar oder unmittelbar Betroffenen, etwa wenn – wie auf Amrum – innerhalb einer Generation die Grundstückspreise um das 1000-fache stiegen.
–So steht das Handlungsfeld der Bildung für die Analyse der Antworten auf Modernisierungsdruck, nämlich des Versuchs (regionaler) politischer Steuerung, deren Umsetzungsreichweite, den Grad ihrer Akzeptanz und den tatsächlichen Wandel etwa im Bereich der Mobilität der neue Bildungsangebote wahrnehmenden Generationen.
–So lassen sich am Beispiel der Bundeswehr strukturpolitische Planungskalküle, regionalwirtschaftliche Hoffnungen und Abwehrreaktionen der von Wandlungsprozessen erfassten Milieus in einer für die Untersuchungsregion sehr relevanten und exemplarischen Form analysieren.
Periodisierung
Zäsursetzungen und Periodisierungen werden bei dem Forschungsvorhaben nach der jeweiligen Themenstellung variieren. Obgleich aus wirtschaftshistorischer Perspektive der Zeitraum zwischen den späten 1940er und frühen 1970er Jahren als eine nahezu geschlossene Boomphase charakterisiert wird,8 sind beispielsweise Anfang der 1970er wesentliche Strukturveränderungen in der Landwirtschaft bereits (zum Teil seit mehr als einem Jahrzehnt) nahezu abgeschlossen, während sich der Strukturwandel in der Schwerindustrie erst in Ansätzen ankündigt und beispielsweise in der Werftindustrie erst nach der Ölkrise voll durchschlägt.9 Im Bildungssektor mündet der sich in den späten 1950er Jahren aufbauende Modernisierungsdruck in der als »Bildungsoffensive« apostrophierten Reformphase Anfang der 1960er Jahre bis zur Mitte der 1970er Jahre.10 Die für den gesellschaftlichen Wandel in Schleswig-Holstein bedeutsame »Schwelle zum Massentourismus« wird in der Regel auf die frühen 1960er Jahre datiert,11 während die Aufbauphase der Bundeswehr mit ihren raumwirksamen Effekten bis in die Mitte der 1970er Jahre reicht.12 Im Kern konzentriert sich die Erforschung »Schleswig-Holsteins als Land« auf die 1960er und 1970er Jahre als eine Phase ›dynamischen‹ Wandels.13
Geographische Eingrenzung
Den Untersuchungsraum...