2 Zur Befindlichkeit suizidgefährdeter Menschen
2.1 Wahrnehmungen der Betroffenen
Einen Weiser seh ich stehen
Unverrückt vor meinem Blick,
Eine Straße muss ich gehen,
die noch keiner ging zurück.
(»Der Wegweiser« aus dem Liederzyklus »Winterreise« von Franz Schubert nach Gedichten von Wilhelm Müller)
Wie fühlt sich ein Mensch, der den eigenen Suizid in Erwägung zieht, der ihn vielleicht plant, der kurz vor seiner Ausführung steht oder diese bereits eingeleitet, die Tabletten geschluckt, die Schlinge um den Hals gelegt hat? Nichts anderes als ein gewaltiger Sturm höchst unterschiedlicher nervlicher Erschütterungen ist vorstellbar, von wildester Verzweiflung bis hin zu einem Zustand stoischer, die Todesverfassung bereits vorwegnehmender Ruhe. Alles erscheint möglich zwischen zerstörerisch aufbrausender Wut und tiefer Resignation.
»Ich vegetiere nur noch vor mich hin. Das ist doch kein Leben mehr, das ist schon fast wie tot sein! Ich bin doch verloren. Nichts kann mir helfen! Ich will nicht sterben! Aber ich bin zu krank. Ich will nicht mehr. Dann wird’s vorbei sein und erträglicher werden«
(Aus dem Tagebuch einer 23-jährigen Psychiatrie-Patientin vor ihrem Suizid).
Die im präsuizidalen Syndrom vorhandene Trance (Späte und Otto 2015) scheint dann oft geradezu überwunden und einer selbstbestimmten Sicherheit gewichen zu sein.
Charakteristisch für die meisten in unmittelbarer Suizidgefahr stehenden Menschen dürfte eine ganz spezielle emotionale Facette sein: die Ambivalenz ( Kap. 4.1). Das Schwanken zwischen dem einmal gefassten Entschluss und der bis zuletzt bestehenden Möglichkeit des Zurück – dieses Gefühl dominiert die Befindlichkeit in den allermeisten Fällen. Die Ambivalenz, dieses eigentlich will ich nicht sterben, lässt sich kaum leugnen, kaum mit grobem Willen überspielen. Bisweilen zeigt sie sich noch in der Ausführung der letalen Tat, ein letzter Versuch, schon im Fallen am Balkongitter sich festzukrallen, nach getrunkenem, lähmendem Gift den Telefonhörer mit der Hand zu ergreifen.
Und selbst wenn die Ambivalenz nach entschlossener Ausführung des nicht sogleich tödlichen Akts, nach geschluckter Tablettendosis, gezügelt und besänftigt ist, regt sich das quälende Gewissen, das aufleuchtende Bewusstsein, dass der Suizid niemals nur eine individuelle Tat ist, sondern immer auch andere betrifft, verletzt, erschüttert, möglicherweise ganz aus der Bahn wirft.
Das unmittelbar nahende Ende macht nicht froh, so sehr es auch herbeigesehnt worden sein mag. Es bleibt im Gefühl ein Makel, den nur der endgültige Bewusstseinsverlust schließlich tilgen kann. Und wird eine Suizidhandlung überlebt, drängt er sich quasi als erstes, jede andere Wahrnehmung überdeckend, gleich wieder auf.
2.2 Wahrnehmungen der anderen
Wer seinen Suizid über längere Zeit plant, bleibt tunlichst im Verborgenen. Menschen, die ihn kennen und mit ihm leben, sollen nichts von seinen Plänen erfahren; sie würden vermutlich alles unternehmen, um ein derartiges Vorhaben zu durchkreuzen. Sie würden ihn vielleicht sogar verurteilen, verachten, kaum aber Verständnis aufbringen. Und wenn, dann wäre das fast so, als hätten sie nur darauf gewartet, dass er aus ihrem Leben verschwindet.
Und doch teilt sich fast jeder, der durch Suizid stirbt, zuvor in irgendeiner Weise mit. Sei es durch verbale Andeutungen – dass sich die eine oder andere Investition nicht mehr lohne für die Restlebenszeit, dass es auf ihn ohnehin nicht mehr ankomme, dass das Leben nichts sei als ein müßiger Zeitvertreib, letztlich ohne Sinn. Oder auch umgekehrt: dass im Jenseits jemand auf ihn warte. Oder durch Aktionen wie die, die bislang stets vernachlässigten Schubladen mit persönlichen Papieren aufzuräumen, für die Weiterlebenden potenziell wichtige Dokumente zusammenzustellen, griffbereit. Oder durch spürbare Veränderungen im Tagesrhythmus, der Alltagsgewohnheiten, ein Nachlassen in der bislang geübten Disziplin. Fast immer fällt den anderen ein Sich-Zurückziehen auf – und sei es erst im Nachhinein, im Rückbesinnen.
Viele sprechen vor ihrem Suizid mit einem Arzt, nach Möglichkeit mit dem Hausarzt, einem Vertrauten, den sie wegen einer scheinbaren Bagatelle konsultieren, vielleicht um eine ohnehin nutzlose Verschreibung zu erneuern. Auch dort deuten sie etwas an, ohne konkret die Absicht zu nennen. Oder sie sprechen diese aus, um solche Gedanken sogleich ins Lächerliche zu ziehen, als hätten sie nur einen Scherz gemacht. Sie wollen sich, einem starken Impuls folgend, sehr dringend mitteilen. Doch das soll ohne Konsequenzen für sie bleiben.
Dem Arzt mag die veränderte Stimmung auffallen, beim Sprechen die depressive Tonlage. Runzelt er die Stirn und spricht an, was ihm auffällt, erfolgt augenblicklich der Rückzug, ein Bagatellisieren alles Gesagten. Und so bleibt nichts als ein Unbehagen im Raum zurück.
Ist eine Suizidhandlung vollzogen, ist das Entsetzen der anderen allerdings groß. Der emotionale Aufruhr ist unvermeidlich: der Schock, die Hilflosigkeit in einer scheinbar absolut unvorhersehbaren Situation, die Wut auf den, der sich ohne Abschied davonzustehlen sucht, der Schreck über denkbar eigenes Versagen, nichts gemerkt, nichts rechtzeitig unternommen zu haben. Es sind Gefühle, die bis zum Hass (Bärfuss 2016) sich steigern können.
Ist Rettung noch möglich, an zuständiger Stelle bereits eingeleitet, auf der Notfallstation, im Krankenhaus, kommt hinzu die Unsicherheit, wie es denn weitergehen soll, wie es möglich sein wird, mit einem, der sich davonmachen wollte, das Leben wieder aufzunehmen, es künftig wieder mit ihm zu teilen. Hier können die Ärzte äußerst hilfreich sein mit ihren wissenschaftlichen Diagnosen und therapeutischen Anweisungen für die Zukunft. Die Suizidhandlung wird dadurch quasi objektiviert, ein Geschehen wie eine Krankheit, auf das niemand letztlich entscheidend Einfluss nehmen konnte, für das folglich auch niemand wirklich verantwortlich ist.
Ist jedoch der Tod die Folge, mischt sich nach anfänglicher Erstarrung in alles Gefühlsgemenge die Trauer. Sie kann über Monate und Jahre anhalten, Hinterbliebene nachhaltig aus der Bahn werfen und bisweilen, insbesondere bei Kindern, lebenslang Spuren hinterlassen.
Die Wiener Journalistin Saskia Jungnikl beschreibt in unvergleichlicher Transparenz und Intensität die verheerenden Folgen des Suizids ihres einst so sehr geliebten und bewunderten Vaters: »Die Gefühle nach dem Tod meines Vaters kann ich gar nicht mehr alle benennen. Da ist Angst, auch Zweifel, Schuld, Trauer, Sehnsucht, Verwirrung und über allem das Gefühl, furchtbar vor den Kopf gestoßen worden zu sein« (Jungnikl 2014). Sie schildert sechs Jahre nach dem Tag, an dem der am meisten geliebte, bewunderte Mensch »zu meinem schlimmsten Feind geworden ist«, in beispielloser Offenheit alles, was dieser Tod in ihr, in der engsten Familie, im Kreis der Verwandten und Freunde ausgelöst, verändert, zerstört, vernichtet und sie selbst zeitweise an den Rand der Lebensfähigkeit gebracht hat. »Der Tod ist in unserer Familie nie wieder nur ein Tod. Zu viel hängt schon daran«, muss die Autorin konstatieren. »Was ist, wenn mir so etwas Schmerzhaftes wieder passiert? Was ist, wenn ich es nicht noch einmal ertrage? Irgendetwas ist in mir aus dem Gleichgewicht geraten, und ich glaube, egal, wie es besser wird, es wird nie wieder gut.«
Die Phantasie, aus dem Leben zu scheiden, ohne solche Spuren zu hinterlassen, ist in unserer heutigen Gesellschaft eine Absurdität. Der Suizid ist niemals nur ein individueller Akt, stets hat er soziale Konsequenzen. Das Trauma, das er bei anderen setzt, lässt sich nicht aufrechnen gegen die eigene Traumatisierung, die den Hintergrund für den Suizidentschluss abgegeben haben mag.
Und dennoch geschehen Suizide – Tag für Tag, Jahr für Jahr, in unbegreiflichen Dimensionen. Der Suizid sei »ein ordinärer Tod, verbreitet wie Kurzsichtigkeit« heißt es im Roman von Lukas Bärfuss (2016) über das selbstgegebene Ende seines Halbbruders. Danach habe er mit Verwunderung festgestellt, dass er mehr Freunde kannte, die einen Verwandten auf diese Art verloren hatten, als er es sich zuvor je hatte vorstellen können.
2.3 Suizidale Befindlichkeiten bei Nick Hornby
In seinem 2005 erschienenen, viel gelesenen und inzwischen auch verfilmten Roman A...