Erinnerungen an eine sogenannte Kindheit
(1933–1944)
Es ist gerade die Distanz zu meinen Ursprüngen, die mir gefällt. Ich habe nichts, wohin ich zurückkehren könnte.6
Erinnerungen sind fragil. Besonders die an unsere Kindheit. Nicht nur fehlt es den blanken und mit zunehmendem Abstand verblassenden Fakten des Wer, Wann und Wo an Aussagekraft. Es ist das Wesen jeder Kindheit, dass sie immer nur als eine Ansammlung von Erinnerungen existiert, deren Status ungewiss ist. Wir durchleben die Zeitspanne zwischen drittem und zwölftem Lebensjahr, ohne uns ihrer besonders bewusst zu sein. Ein Nachmittag scheint sich unendlich in die Länge zu ziehen. Ein Tag erscheint in tief empfundenen Momenten des Überschwangs, der Kränkung oder des In-Sich-Versunkenseins wie eine Ewigkeit. Jede Erinnerung kann nur eine Annäherung an die wahren Ereignisse sein. Sie ist von den Erzählungen unserer Eltern, Geschwister und Verwandten geprägt, oder sie nimmt die Form eines Fotos an. Erinnerungen werden im Lichte aktueller Ereignisse neu bewertet oder infolge einer Psychotherapie uminterpretiert. Manchmal können wir uns nicht einmal wirklich sicher sein, ob es sich bei ihnen nicht um impulsive Erfindungen handelt. Unsere Erinnerungen sind selektiv. Wir schneiden sie auf einzelne Momente, Botschaften oder Bilder zurecht. Und wenn wir diese preisgeben, dienen sie, ob wir es wollen oder nicht, immer auch den trügerischen Prozessen der Selbstinszenierung.
Die Kindheitserinnerungen von Susan Sontag, die in ihren Essays »On Photography« (1977) und »Where the Stress Falls« (2001) viele dieser Gedächtnismechanismen mit rigoroser Schärfe analysiert hat, sind überraschenderweise ein besonders unsicheres Feld. Was an Sontags Anmerkungen über ihre Kindheit heraussticht, sind bestimmte Szenen, mit Bedacht ausgeleuchtete Vignetten, die mitunter wirken, als stammten sie aus dem leicht vergilbten Fotoalbum eines altklugen, von Büchern berauschten Mädchens.
Sontag war zeitlebens stark auf ihre Privatsphäre und die Kontrolle ihres öffentlichen Images bedacht. Es ist also schwer, hinter die Bilder zu schauen, die Sontag selbst von ihrer Kindheit entwarf. Erst die Inkonsistenzen, die sich in ihre Angaben über diese Zeit einschlichen, und die Episoden, die sie später ihren Freunden preisgab, eröffnen den Blick auf das Leben eines isolierten und überdurchschnittlich begabten Mädchens, das von seiner allein erziehenden, alkoholkranken und emotional unzugänglichen Mutter vernachlässigt wurde.
Erst nach ihrem vierzigsten und verstärkt nach ihrem sechzigsten Geburtstag machte die Schriftstellerin auf vorsichtig inszenierte Weise Teile ihrer Kindheitserinnerungen öffentlich. Im Zentrum ihrer autobiographischen Erzählung »Project of a Trip to China« (1973) stehen die Suche nach ihrem früh verstorbenen Vater und ihre Faszination für das Land im Fernen Osten, welches für Sontag unauslöschlich mit ihm verbunden ist. Im Ton einer Beichte dagegen berichtet sie im bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten »Pilgrimage« (1987) von ihrer Audienz beim Exilanten Thomas Mann in den Pacific Palisades von Los Angeles. Die Details in beiden Geschichten sind authentisch, wie unter anderem Sontags Sohn David Rieff bezeugt – inzwischen ein bekannter amerikanischer Journalist und Autor politischer Sachbücher, der für die New York Times, die Los Angeles Times oder die Washington Post über die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, im Irak und in Südamerika berichtet hat.7
Sontags vereinzelte Selbstaussagen über ihre Familie und Kindheit in Zeitungsinterviews und Portraits in den 1970er und 1980er Jahren weichen Anfang der 1990er Jahre bereitwilligen Reminiszenzen, die sie mit Journalisten teilt, wenn sie sie in ihrer lichtdurchfluteten Wohnung im New Yorker Stadtteil Chelsea empfing. In der Rolle der Portraitierten schien sich Sontag wohl zu fühlen und ließ ihren Erinnerungen oft freien Lauf, auch wenn sie dabei manchmal von unwillkommenen Emotionen überwältigt wurde, ihr zuweilen die Stimme stockte und Tränen in die Augen stiegen.
Susan Lee Rosenblatt wurde am 16. Januar 1933 im Woman’s Hospital in Manhattan, New York, geboren, weil ihre Mutter Mildred, geborene Jacobson, Angst davor hatte, in Asien zu entbinden. Sontags Vater, Jack Rosenblatt, war Besitzer des im chinesischen Tianjin stationierten Pelzhandelsunternehmens Kung Chen Fur Corporation. Mildred schien eine jener typischen Kolonialherren-Hausfrauen gewesen zu sein, die bisweilen im Familienunternehmen mitarbeitete. Die Rosenblatts waren eine junge, äußerst wohlhabende Familie mit charakteristisch amerikanischem Unternehmergeist. Mildred blieb nach der Geburt von Susan nur für kurze Zeit in New York. Sie kehrte bald allein nach Tianjin zurück und überließ Susan, ebenso wie drei Jahre später Susans jüngere Schwester Judith, der Pflege der irisch-amerikanischen Nanny Rose McNulty oder Rosie, wie Susan sie nannte.
Die improvisierte Familie aus Kinderfrau und Kleinkind lebte zunächst bei den Rosenblattschen Großeltern und später bei anderen Verwandten, bevor sich die Eltern ein Haus in Great Neck, einer teuren Wohngegend auf der New Yorker Halbinsel Long Island, kauften.
Das Wohnzimmer ihrer Eltern in Great Neck, so erinnert sich Sontag in »Projekt einer Reise nach China«, war mit chinesischen Dekorationen aus Elfenbein und Rosenquarz sowie Kalligraphie-Rollen aus Reispapier ausgestattet gewesen. Ein chinesisches Geburtstagsgeschenk blieb ihr aus jener Zeit ebenfalls in Erinnerung: ein Armband aus grünen Jade-Steinen, so wertvoll, dass sie es niemals zu tragen wagte.
Doch die kolonialen Trophäen, die ihre Eltern aus China mitbrachten, erinnerten Susan vor allem an das chinesische Haus der Eltern, das sie nie zu Gesicht bekommen sollte. Das Ausgeschlossensein aus dem Leben von Vater und Mutter war für die Heranwachsende eine tiefgreifende und schmerzvolle Erfahrung, wie Sontag in ihrer Erzählung rückblickend selbst analysierte. Ihre Eltern kamen immer nur für wenige Monate nach New York und kehrten danach wieder nach China zurück, um »Great Gatsby und Daisy in der britischen Kolonie« zu spielen, wie Sontag in einer sarkastischen Anspielung auf F. Scott Fitzgeralds High-Society-Roman schilderte.8
Es ist ein Kennzeichen von Erlebnissen traumatischer Natur, dass sie über lange Zeit verdrängt werden, dabei aber ihr seelisches Erregungspotential beständig wächst. Je größer der Abstand von solchen Erlebnissen ist, desto stärker wird oft das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Die Kindheitserinnerungen der älteren Susan Sontag sind, wie die der meisten Menschen, nicht nur von einer stimmungsvollen Nostalgie, humoristischen Reminiszenzen und manchmal von mythischen Untertönen geprägt. Oft schleicht sich ein außergewöhnlich bitterer Ton ein, manchmal regelrechte Wut. Und wahrscheinlich sind das die treffenderen Empfindungen für eine Lebensphase, die Sontag selbst als ihre »unüberzeugende sogenannte Kindheit« beschrieb.9 Vieles spricht dafür, dass für das hochsensible Kind das sich regelmäßig wiederholende Alleingelassen-Werden eine Reflexion auf den vermeintlichen Wert seiner eigenen Person darstellte. Einige Erinnerungen, die Sontag niederschrieb und erzählte, werfen traurige Schlaglichter auf diese Wunde. So berichtete sie von dem brennenden Wunsch, den sie als Kind verspürte, zusammen mit den Eltern nach China reisen zu dürfen. Die eifrige und intelligente Susan lernte schon als Kleinkind, mit Stäbchen zu essen und versuchte in gewissem Sinne »chinesisch« zu werden, damit sie es verdiene, von ihren Eltern mit in das exotische Land genommen zu werden. Auch die 50-jährige Sontag erinnert sich noch mit einem gewissen Stolz daran, dass ausländische Freunde ihrer Eltern die Vierjährige einmal lobten, sie sehe ›chinesisch‹ aus. Vielleicht glaubte das Mädchen, dass es schuld sei an der unerklärlichen Tatsache, dass ihre Eltern sie immer wieder verließen, und wollte diese Schuld mit der Bereitschaft zur Anpassung aus der Welt räumen. Mildred Rosenblatt schien dieses Identitätsspiel ihrer Tochter zu unterstützen, ja auf eine gelangweilte und etwas herzlose Art zu provozieren. Um sie ruhigzustellen, erzählte sie Susan, dass kleine Kinder in China nicht sprechen würden. Wie das aufmerksame Kind jedoch schnell bemerkte, folgten solche erzieherischen Fabeln keinen logischen Regeln. Obwohl die Mutter behauptet hatte, dass es in China zum guten Ton gehöre, nach dem Essen aufzustoßen, war dies am Sontagschen Esstisch natürlich untersagt.
Ihre frühesten Erinnerungen verband Sontag nicht mit der Mutter, sondern mit ihrer Kinderfrau Rosie. Susan genoss keine religiöse Erziehung. Ihre jüdische Familie war säkularisiert und befolgte weder religiöse Feiertage noch Glaubenszeremonien. Eine Synagoge betrat Sontag erst, als sie Mitte zwanzig war. Ihre katholische Kinderfrau jedoch nahm sie manchmal mit zur Sonntagsmesse. Als sie vier war und mit Rosie und ihrer Schwester in den Park ging, so sollte Sontag später oft bei verschiedenen Gelegenheiten erzählen, hörte sie einmal, wie ihre Kinderfrau zu einer anderen Nanny sagte: »Susan ist ein sehr altkluges Kind.« In ihren weißen, gestärkten Uniformen wirkten die beiden Nannys wie Riesinnen auf das kleine Mädchen. Betroffen dachte sie darüber nach, was diese Worte wohl bedeuteten und ob auch andere Leute sie so einschätzten.10 Wie diese Episode deutlich macht, in der die frühreife Vierjährige den Unterschied zwischen sich und den anderen Kindern zu verstehen sucht, machte Sontag viele ihrer wichtigsten Erfahrungen mit Rosie, die eine Art Mutterfigur für sie darstellte und bei ihr bleiben sollte, bis sie...