In dem im Jahre 1962 erschienenem Buch „The structure of Scientific Revolutions“ von T. S. Kuhn wird ein Erklärungsmodell für Wissenschaftsentwicklung entworfen. Darin wird die Meinung vertreten, dass Wissenschaftsentwicklung nicht kontinuierlich verlaufe, sondern in Brüchen, welche jeweils ‚Paradigma-Wechsel’ beziehungsweise ‚wissenschaftliche Revolutionen’ in Form von sprunghaften Gestaltveränderungen des jeweiligen Wirklichkeitsmodells darstellen. Zwischen jenen ‚Brüchen’ findet normale Wissenschaft statt, wobei diese allerdings von dem jeweilig vorherrschenden wissenschaftlichen Denkmuster und Zeitgeist geleitet wird. Diese bestimmen beispielsweise die relevanten Fragestellungen, Methoden, Erklärungs- und Lösungsansätze. Neue Denkmuster sind verbunden mit neuen Formen der Erkenntnisgewinnung, die es überhaupt erst möglich machen, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Neue Paradigmen liefern zwar andere Erklärungen, sind aber gleichzeitig schwer durchzusetzen, da die Vertreter alter Paradigmen nur schwer zu überzeugen sind (vgl. Krause 2003, S. 127).
Die systemische Denkweise wird genau als ein solches ‚neues Paradigma’ bezeichnet, eben weil diese Denkweise eine andere Herangehensweise nutzt, um zu Erkenntnissen zu gelangen (ebd., S. 127). So unterscheidet sich die systemische Denkweise von dem westlichen Alltagsdenken in der Weise, dass Erkenntnisse verwendet werden, die sich aus der Systemtheorie verbunden mit der Kybernetik 2. Ordnung (Simon 2006, S. 12 f.) und den Gedanken des Radikalen Konstruktivismus ableiten lassen. Für die Praxis - wie beispielsweise für das hier zu behandelnde Thema des systemischen Coachings - bedeutet es, dass an die Stelle geradlinig-kausaler Erklärungen nun zirkuläre Umschreibungen treten. Darüber hinaus werden Objekte nicht länger als isoliert voneinander betrachtet, sondern die Relationen zwischen ihnen treten nun ins Blickfeld (Simon 2006, S. 12 f.).
Die Basis des systemischen Coachings macht die Haltung der systemisch-konstruktivistischen Denkweise aus. Diese geht in ihren Grundlagen auf Piaget und Bertalanffy, Bateson, von Foerster, von Glasersfeld und Watzlawick zurück. Einen weiteren wichtigen Anteil haben die Biologen Maturana und Varela als auch der Soziologe Luhmann geschaffen. Auch wenn diese Personen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entstammen, so ist ihnen doch eine ähnliche Weise, die Welt zu betrachten, gemein (vgl. Radatz 2006b, S. 31 f.). Jenes neue Paradigma – die systemisch-konstruktivistische Denkweise - mit seinen Prämissen und Grundhaltungen soll in der vorliegenden Arbeit vorgestellt werden, um schließlich Interventionsmöglichkeiten innerhalb der praktischen Anwendung im systemischen Coaching herauszuarbeiten.
In der vorliegenden Diplomarbeit soll grundlegend erörtert werden, auf welchen Referenztheorien die Denkweise und die Haltung eines systemisch agierenden Coaches fußen. Des Weiteren soll darauf eingegangen werden, was die Begrifflichkeit des ‚Coachings’ detailliert mein, um in Folge dessen die ausgeführten Theoriekonstrukte und Coaching zusammenzuführen zum systemischen Coaching.
Der Fokus ist darauf gerichtet, zu überprüfen inwieweit die dargestellten Theorien in die Praxis umgesetzt werden können: Dabei stellt sich die Frage danach, wie sich eine systemische Grundhaltung darstellt und durch welche Denkweisen sie sich auszeichnet. Was sind die Prämissen einer systemischen Grundhaltung? Welche Aspekte unterscheiden sich zum omnipräsenten typischen westlichen Denkstil in linearer Kausalität?
Weiterhin steht im Fokus der Arbeit, wie jene Haltungen in das alltägliche Leben und Erleben beispielsweise eines Coachees (~ Klient des Coaches) implementiert werden können. Es werden Instrumente (~ Interventionsmöglichkeiten) benannt, um die Welt auf eine andere, bisher ungewohnte Weise wahrzunehmen und Ereignisse dahingehend zu bewerten. Dementsprechend stellt sich die Frage danach, welche Möglichkeiten es für einen systemisch arbeitenden Coach gibt, um in einem System einen Impuls auszulösen, welcher dieses näher zum angestrebten Ziel führt.
Zusammenfassend besteht das Hauptziel der Arbeit darin, den aktuellen Stand des systemischen Coachings kritisch und reflektierend vorzustellen. Dabei soll es nicht nur um die Erläuterung theoretischer Konstrukte gehen, auf denen die Annahmen des systemischen Coachings basieren, sondern vielmehr um die Umsetzung dieser: Das Hauptaugenmerk liegt somit auf der Erörterung der Werthaltungen und Einstellungen eines systemisch-konstruktivistisch denkenden Menschen sowie der kritischen Darstellung aktueller systemischer Interventionsmöglichkeiten.
Die Kernthematik der vorliegenden Arbeit ist die Ausarbeitung dessen, was genau systemisches Coaching ist – durch welche Haltungen und Interventionsmöglichkeiten es sich auszeichnet: Dabei meint der Oberbegriff ‚systemische Beratung’ verschiedene Varianten systemischen Denkens und Handelns, denen theoretische Annahmen zu Grunde liegen, welche im 2. Kapitel erörtert werden. Um dem Leser zunächst einen Überblick über verschiedene systemische Strömungen zu verschaffen, gilt es in einem kurzen geschichtlichen Abriss zu erläutern, welche Namen gemeinhin mit den Anfängen systemischer und konstruktivistischer Überlegungen in Zusammenhang stehen.
Systemische Theorien sind tendenziell soziologisch und beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Themen. Dieser systemische Blick hat sich insbesondere in der betrieblichen Organisationsentwicklung durchsetzen können (vgl. Siebert 2003, S. 38). Eine systemische Kernthese ist folgende: „Je komplexer die sozialen Systeme, desto mehr müssen Eigendynamik und Wechselwirkungen berücksichtigt werden und desto weniger sind monokausale Erklärungen und Steuerungen erfolgversprechend“ (Zit. Siebert 2003, S. 38). Als Resultat daraus fand die Weiterentwicklung von der Kybernetik 1. Ordnung zur Kybernetik 2. Ordnung statt, welche ebenfalls im 2. Kapitel behandelt werden. Da es im systemischen Coaching unter anderem um das Eingreifen in (soziale) Systeme geht, erachte ich es als unerlässlich, eine Grundlage dafür zu schaffen, was als ‚System’ beziehungsweise als ‚soziales System’ zu verstehen ist (vgl. Kapitel 2.3). Darüber hinaus soll auch auf die Begrifflichkeit der Autopoiesis eingegangen werden, deren Prinzipien im engen Zusammenhang mit der systemischen Denkweise und Arbeit steht (Kapitel 2.4).
An dieser Stelle möchte ich abermals Siebert (ebd., S. 38) hervorheben, welcher konstatiert, dass sich systemisches und konstruktivistisches Denken zwar voneinander unterscheiden, aber dass es dennoch erhebliche Schnittmengen zwischen beiden gibt. Dadurch kommt er zu dem Schluss, von einem einheitlichen Paradigma sprechen zu können. Diese Auffassung wird auch unter anderem von Tomaschek (2003, S. 17) und Radatz (2006b, S. 31) geteilt, welche von einer systemisch-konstruktivistischen Denkweise sprechen. Da das systemische Coaching auf eben jenem konstruktivistischen Paradigma basiert, welche zeitweise sehr radikal von systemischen Coaches vertreten wird (vgl. Brunner 2004, S. 656), soll ein besonderes Augenmerk auf das Gedankengut des Radikalen Konstruktivismus gelegt werden (vgl. Kapitel 2.5). Zwar gibt es nach Steinkellner (2005, S. 44) noch weitere Spielarten des konstruktivistischen Paradigmas (wie z.B. Symbolischer Interaktionismus, Sozialer Konstruktivismus), jedoch ist allen gemein, dass sie von der sozialen Konstruiertheit der Beobachtung der Welt ausgehen.
Im 3. Kapitel soll Coaching im Allgemeinen näher betrachtet werden. Auch an dieser Stelle soll zunächst die geschichtliche Entwicklung, welche das Personal(führungs)instrument Coaching in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, nachgezeichnet werden, um herauszuarbeiten, in welcher Phase sich Coaching aktuell befindet. Darauf aufbauend soll mittels unterschiedlicher Definitionen des Begriffes ‚Coaching’ der Versuch unternommen werden, verbindende Elemente herauszufiltern, mit dem Ziel aufzuzeigen, was genau sich hinter diesem Personalinstrument verbirgt. Darüber hinaus wird eine Abgrenzung von Coaching zu anderen Beratungsmaßnahmen vorgenommen.
Die beiden folgenden Kapitel stellen die zentralen Abschnitte der Arbeit dar. Auf der theoretischen Grundlage der Referenztheorien und des Instrumentes des Coachings im Allgemeinen, soll im 4. Kapitel auf die spezielle Form des ‚systemischen Coachings’ eingegangen werden. Dabei ist es von enormer Wichtigkeit, zwischen der systemischen Haltung und der Verwendung systemischer Werkzeuge klar zu unterscheiden: Die systemische Haltung, als Basis jedweden systemischen Handelns, meint die grundsätzliche Herangehensweise an ein Coaching. Sie bestimmt wie der Coach handelt – welche Prämissen und Überzeugungen dieser Handlungsweise zu Grunde liegen. Es geht dabei unter anderem darum, die zentralen Aspekte des Unterschiedes des systemischen Denkens zum linear-kausalen Denken zu benennen und aufzuzeigen, dass Handlungen stets zirkulär sind und von jedem Menschen auf eine andere Weise wahrgenommen werden.
Die...