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Systemtheorie der Gesellschaft

AutorNiklas Luhmann
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl1132 Seiten
ISBN9783518754221
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR

»Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine« - so lautet die berühmte Antwort, die Niklas Luhmann Ende der 1960er Jahre auf die Frage nach seinem Forschungsprojekt gab. Der Zeitplan wurde eingehalten: 1997 erschien Die Gesellschaft der Gesellschaft, Luhmanns Opus magnum und Kernstück dieses Vorhabens.

So bedeutend dieses Werk, so bemerkenswert seine Vorgeschichte. Denn wie der wissenschaftliche Nachlass des Soziologen zeigt, hat Luhmann im Laufe der Jahrzehnte mehrere weitgehend druckreife und inhaltlich eigenständige Fassungen seiner Gesellschaftstheorie geschrieben. 1975 brachte er die erste dieser Fassungen auf nahezu tausend Typoskriptseiten zum Abschluss.

Sie ist ohne Frage die soziologisch reichhaltigste Version einer umfassenden Theorie der Gesellschaft, die aus Luhmanns einzigartigem Forschungsprojekt hervorgegangen ist, und wird nun unter dem Titel Systemtheorie der Gesellschaft erstmals publiziert.



<p>Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation.</em> 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation</em> sowie <em>Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung</em> als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: <em>Die Gesellschaft der Gesellschaft</em>.</p>

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Leseprobe

7Einführung


Der Begriff Gesellschaft soll hier nicht nur als Sammelbezeichnung für die Totalität sozialer Beziehungen dienen, sondern als Bezeichnung eines sozialen Systems unter anderen. In der Tradition dieses Begriffs war diese Alternative offengeblieben. Die alteuropäische Tradition der politischen Gesellschaft (societas civilis) hatte ihren Gesellschaftsbegriff zunächst allgemein gefaßt (koinonía, communitas, societas) als jede Art Gemeinschaft um gemeinsamer Vorteile willen, hatte ihn aber für den besonderen Fall des umfassenden Gesellschaftssystems durch einen einschränkenden Zusatz definiert: als civitas sive societas civilis. In der neuzeitlichen Tradition der wirtschaftlichen Gesellschaft (bürgerlichen Gesellschaft) blieb ein Anspruch auf Totalität erhalten. Gleichwohl wurden auch hier begriffliche Elemente, die man nicht einordnen konnte, ausgestoßen und als ein Gegenüber fixiert – so in der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat oder in der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Oder die Einschränkungen wurden zur Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft als einer Klassengesellschaft benutzt und der Anspruch auf Totalität in die Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verlagert, das heißt: der Widerspruch von Ganzem und Teil in die Zeitdimension verlegt und als Übergang begriffen. Welchen Lösungsansatz man auch wählte – und davon hing alles Weitere ab –, der Gesellschaftsbegriff blieb doppeldeutig, indem er zugleich das Ganze und einen Teil des Ganzen vertreten mußte.

In die Prämissen der Gesellschaftstheorie war demnach eine logische Unbestimmbarkeit eingebaut gewesen (ohne 8daß man diesen Nerv jemals gezielt angebohrt hätte). Diese Unbestimmbarkeit ist nur zu rechtfertigen, wenn man in ihr ein strukturelles Erfordernis der Gesellschaft selbst sieht – und nicht einfach nur einen Theoriefehler. In der Tat muß die Gesellschaft paradox konstituiert sein, weil es sonst Unwahrheit gar nicht gäbe. Der logische Schematismus ist selbst erst ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob man gerade ihm jemals die Identifikation des Gesellschaftssystems im ganzen wird überlassen können – so wie einst der Politik und dann der Wirtschaft –, dürfte letztlich eine Frage der zunehmenden Konvergenz von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung sein. Der Gesellschaftstheorie kommt dafür die Funktion eines Katalysators zu.

Auf Aspekte dieser Unbestimmbarkeitsproblematik, die in der bürgerlichen Gesellschaft im neuartigen Primat ihrer Wirtschaft und vor allem in der Form ihrer politischen Revolution und Instabilität sichtbar geworden war, hatte bereits Hegel reagiert durch Einbau des Prinzips der Reflexion in die Gesellschaftstheorie. Die Unbestimmbarkeit wurde damit als Selbstbestimmung reformuliert und als historischer Prozeß begriffen. Die Einheit von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie war noch metaphysisch garantiert, aber zugleich schon, wie im vorigen Absatz angedeutet, ein Entwicklungsproblem. So mußte die politische Revolution letztlich die Logik revolutionieren oder zumindest auf diese Konsequenz hin zu Ende gedacht werden. Verzeitlicht wird das Problem der Unbestimmtheit (von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie zugleich), weil es für andere Darstellungsformen zu komplex geworden ist. Seitdem muß man Gesellschaft als Aspekt der Selbstselektion des Seins begreifen. Metaphysische Titel wie »Vernunft« oder »Materie« dienen, wie immer adaptiert, eine Zeitlang noch als Garanten der Einheit von Denken und Sein (oder marxistisch: von Theorie und Praxis) und verdecken 9damit zugleich die nicht voll begriffenen Strukturprobleme dieser Selbstselektion. Hinter diesen Gedanken der im Gesellschaftssystem zur Reflexion gebrachten Verzeitlichung kann keine Theorie der Gesellschaft zurückfallen, die der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht werden will. Die wissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten liegen im begrifflichen Material, mit dem dieses Prinzip zur Darstellung kommt – oder genauer gesagt: als sich selbst darstellend begriffen wird. Und es ist dieser begriffliche Ansatz, der über Hegel und Marx hinaus abstrahiert werden muß.

Hegel hatte sich an die im 18. Jahrhundert eingeführte Dichotomie von Natur und Freiheit gehalten, und er hatte begriffen, daß sowohl Natur als auch Freiheit für die neue Gesellschaft Begriffe der Selbstdistanzierung von der Tradition waren.1 Um dieser Entzweiung (und zugleich dem Primat der Ökonomie und der Nichtrestaurierbarkeit der Politik im ethisch-institutionellen Sinne) Rechnung zu tragen, hatte er die Gesellschaft auf die menschliche Bedürfnisnatur gegründet und gerade darin, daß sie nur dies sei, eine Bedingung der Freiheit gesehen. Damit bezeichnete der Gesellschaftsbegriff die Gesellschaft indes nur noch als ein Moment des konkreten Ganzen; ihre Abstraktion war gerade nicht die Leitstruktur der Selbstselektion des Seins, sondern mußte in der konkreten Sittlichkeit aufgehoben werden. Im Wettkampf der metaphysischen Titel konnte die Gesellschaft dann auch nicht als vernünftig behauptet werden – und man sah ja auch, daß sie es nicht war –, sondern eben nur als materiell. Da aber Vernunft und Materie letztlich nur Chiffren für jene Unbestimmbarkeit sind, in der Gesellschaft und Gesellschaftstheorie konvergieren, blieb ein Streit auf dieser10 Ebene ohne Bezug zum Problem. Nachdem Hegel nur den Ausweg gesehen hatte, jenseits aller Konstruktionsprobleme des politischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft im Staatsbegriff einen sozusagen revolutionsfreien Primat der politischen Ethik zu erneuern,2 und Marx dem nur die Verabsolutierung eines primär ökonomisch begriffenen Gesellschaftssystems entgegensetzen konnte,3 ist es notwendig geworden, die Gesellschaftstheorie neu zu begründen. Die marxistisch konservierten Restbestände bieten dafür wenig Anregungen, wohl aber Mindestforderungen an Blickweite und Reflexionsvermögen, die nicht unterschritten werden sollten.

Aufgenommen und kombiniert werden müssen, wenn man überhaupt Wert darauf legt, an bisheriges Denken über Gesellschaft anzuschließen,4 die folgenden Momente: (1) das traditionelle Problem der Einheit des Gesellschaftssystems, das als umfassendes zugleich nur ein Sozialsystem unter anderen11 ist, und (2) die moderne (bürgerliche) Fassung dieses Problems als Notwendigkeit der Selbstselektion des Gesellschaftssystems, die (a) Reflexivität der Selbstbestimmung impliziert als Bedingung der Möglichkeit des Wechsels derjenigen Teilsysteme, die durch Realisierung eines funktionalen Primats eine Pars-pro-toto-Funktion übernehmen, und (b) eine Verzeitlichung von Komplexität erfordert in dem genauen Sinne, daß durch Einbau von »historischem Bewußtsein« in die Gesellschaftsstruktur Unbestimmtheit der Möglichkeiten und Bestimmtheit der Realisierungen im Nacheinander kompatibel werden.

Analysiert man aus größerer Distanz, dann zeigt sich, daß jene Begriffsbildungsprobleme der Gesellschaftstheorie unlösbar waren aus mehrfachen Gründen, die sich wechselseitig stabilisieren. Man hatte sich (1) aus plausiblen Gründen zu der Auffassung bekannt, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile, obwohl Gesellschaftstheorien der skizzierten Art eher Anlaß gegeben hätten, die Gegenthese anzunehmen und zu sagen, das Ganze sei weniger als die Summe der Teile, es sei Ordnung als Reduktionsleistung. Man hatte, wie in bestimmten evolutionären Lagen von faszinierender Neuartigkeit verständlich, (2) die Gesellschaft als Ganzes durch Merkmale ihres jeweils wichtigsten Teilsystems charakterisiert und ihren Begriff dadurch konkretisiert – zunächst als politische, dann als wirtschaftliche Gesellschaft. Dadurch blieb das Ganze mit Merkmalen infiziert, die nicht für die Gesamtheit der unter ihm zusammengefaßten Elemente repräsentativ sein konnten. Man sah (3) die zweiwertige Logik nicht nur als begrenzt funktionsadäquaten Schematismus, sondern als Abbild eines wirklichen Unterschiedes von Sein und Nichtsein und konnte infolgedessen (4) weder selbstreferentielle Prozesse noch Intersubjektivität, noch Systeme mit strukturimmanentem Umweltbezug, noch Systeme mit strukturimmanentem 12Zeitbezug denken. Und man hatte (5) zwischen verschiedenen Systembildungsebenen, vor allem zwischen Gesellschaftssystem und organisierten Sozialsystemen, nicht ausreichend unterschieden und infolgedessen eine Pars-pro-toto-Technik, die in Organisationen ohne weiteres möglich ist, auf das als Korporation vorgestellte Gesellschaftssystem übertragen. All diese Optionen sind aus den historischen Lagen und den evolutionären Perspektiven vergangener Gesellschaftssysteme heraus verständlich. In all diesen Hinsichten könnte man heute anders urteilen.

Die Hauptdifferenz, die uns von den Anfängen der Soziologie und von den Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts, also auch von der Marxschen Theorie trennt, liegt im systemtheoretischen Ansatz. Dieser ist nicht nur eine bestimmte, konkurrierende Fassung der Gesellschaftstheorie. Geht man von einer Theorie sozialer Systeme aus, analysiert man von einer Begriffsebene aus, die höher aggregiert ist als die Theorie der Gesellschaft. Soziologie ist dann nicht mehr nur Gesellschaftstheorie (bzw., wie im Ostblock, empirische Hilfswissenschaft der Gesellschaftstheorie). Die Theorie des umfassenden Systems der sozialen Wirklichkeit ist für sie nur eine Teiltheorie. Mit anderen Worten: Die Soziologie braucht zur Integration ihrer Erkenntnisse eine andere, abstraktere Sinnebene, als die Gesellschaft sie braucht zur Integration ihrer selbst. Man muß daher, wie die Skizze verdeutlichen soll, zwischen der theoretischen...

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