2GRUNDLAGEN
Im Folgenden sollen die allgemeinen Grundlagen für ein erfolgreiches Tai-Chi-Training angesprochen werden. Dazu zählen die verschiedenen Stellungen, grundlegende Bewegungsformen und sonstige praktische und theoretische Voraussetzungen. In Bezug auf die einzelnen Formen werden dann in den späteren Kapiteln jeweils noch bestimmte spezielle Prinzipien zum Yang-Stil, Sun-Stil, Säbel und Schwert erläutert.
Bewegungslehre mit Meister Chen in Chengdu
2.1STELLUNGEN
Verschiedene Kampfsituationen erfordern verschiedene Bewegungsaktionen. Um richtig agieren zu können, benötigt man als Grundlage, bzw. Ausgangspunkt eine bestimmte Körperhaltung, welche dies ermöglicht. Diese verschiedenen Körperhaltungen werden in der Regel als Stellungen bezeichnet. In manchen Kampfsystemen, z. B. beim westlichen Boxen, beschränkt man sich auf eine oder eine sehr geringe Anzahl an Stellungen. Tai Chi als Unterform der chinesischen Kampfkünste (Wu Shu) weist in seinen verschiedenen Ausprägungen eine Vielzahl an Stellungen auf. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten dieser Stellungen erläutern.
Die vorgestellten Stellungen unterscheiden sich unter Umständen bei bestimmten Stilen oder Meistern von der vorgestellten Grundform. Allgemein kann gesagt werden, dass in Stilen des Großen Rahmens die Stellungen weiter und tiefer sind als in Stilen des Mittleren oder des Kleinen Rahmens. Die vorgestellten Stellungen sind auch nicht allein typisch für das Tai Chi, sondern reflektieren allgemein die Bewegungsphilosophie der (asiatischen) Kampfkünste.
GESCHLOSSENE STELLUNG BZW. GRUSSSTELLUNG (BING BU)
In dieser Stellung steht man aufrecht und die Beine sind dicht beieinander. Zu Anfang und Ende der Form findet sich diese Stellung als Ausgangsposition, deshalb wird sie oft auch als Grußstellung bezeichnet. Innerhalb der Form dient die geschlossene Stellung meist zum Übergang zwischen bestimmten Positionen und Bewegungsabläufen. Der Hauptvorteil dieser Stellung ist die Flexibilität: Es kann sehr leicht in eine weitere Stellung übergegangen werden.
Diese Stellung (auch in schulterbreiter Form in den Chi-Gong-Übungen) wird oft als Wu Chi bezeichnet. Hierbei liegt der Fokus auf der philosophischen und esoterischen Bedeutung des Begriffs als Anfangsund Endpunkt; in diesem Falle der Form oder im Chi Gong des Übungszyklus. Wu Chi wird oft auch als „Unendliches“ oder „Höchstes Nichts“ übersetzt. Damit wird angedeutet, dass es Ursprung und Ende aller Dinge ist. Das Wu-Chi-Symbol ist der Kreis.
Geschlossene Stellung von vorne
Geschlossene Stellung von der Seite
SCHÜTZESTELLUNG (GONG BU)
Dies ist die grundlegende offensive Kampfstellung in den meisten asiatischen Kampfkünsten. Sie definiert sich dadurch, dass sie besonders stabil und nach vorne orientiert ist. Die Beine sind etwa schulterbreit seitlich versetzt. In der Längsrichtung beträgt der Abstand von Ferse zu Fußspitze ungefähr eine Unterschenkellänge. Der Stand ist so nach vorne ausgerichtet, dass ca. 60-70 % des Gewichts auf dem vorderen Bein sind. Dieses ist gebeugt, sodass der Unterschenkel senkrecht ist. Die vordere Fußspitze zeigt gerade nach vorne, die hintere 45° nach außen. Der Oberkörper und die Hüfte zeigen gerade nach vorne.
Diese Stellung bietet ein hohes Maß an Stabilität und ist nach vorne ausgerichtet. Sie stellt die ideale Grundlage für offensive Techniken wie Schläge oder Stöße dar. Der etwas seltsame Name leitet sich aus einer oft benutzten chinesischen Beschreibung für diese Stellung ab, die sie mit der charakteristischen Stellung eines Bogenschützen vergleicht, der stabil stehen muss, um Pfeile abzuschießen. Ab und zu liest man auch, der Name leite sich vom gebeugten vorderen Bein der Stellung ab: Das gebeugte Bein ist der Bogen, das gestreckte hintere Bein ist der Pfeil.
Schützestellung von vorne
Schützestellung von der Seite
Eine ganz besondere Variante der Schützestellung findet man im Sun-Stil. Bedingt durch den kleinen Rahmen des Stils, gibt es hier eine kleine Schützestellung. In der Bewegung erkennt man noch die klassische große Schützestellung. Zum Ende der Bewegung wird dann aber das hintere Bein nachgezogen und man endet in einer speziellen Sun-Stil-Haltung: Die Stellung ist sehr eng, d. h., die Fußspitze des hinteren Beins und die Ferse des vorderen Beins teilen sich eine gemeinsame Linie. Das Gewicht liegt fast völlig auf dem vorderen Bein, die Ferse des hinteren Beins ist angehoben, die Hüfte zeigt gerade nach vorn. Die Stellung ist in seitlicher Perspektive nur schulterbreit.
Kleine Schützestellung von vorne
Kleine Schützestellung von der Seite
LEERER SCHRITT BZW. SITZENDE STELLUNG (ZUO BU)
Den Ying- und Yang-Charakter des Tai Chis kann man sehr gut am Wechselspiel von Schützestellung und leerem Schritt beobachten. Der leere Schritt ist eine der am häufigsten gebrauchten defensiven Stellungen im Tai Chi. Bei dieser Stellung ist das Körpergewicht vollständig auf dem hinteren Bein, das vordere Bein ist nur leicht auf dem Boden aufgesetzt. Man „sitzt“ also praktisch auf dem hinteren Bein, deshalb das ebenso häufig gebrauchte Synonym sitzende Stellung.
Das vordere Bein steht entweder mit der Fußspitze oder mit der Ferse auf dem Boden. Der Abstand zum hinteren Bein beträgt ungefähr eine halbe Unterschenkellänge. Die Fußspitze des hinteren Beins zeigt 45° zur Seite, die des vorderen Beins gerade nach vorne. Die Fersen des vorderen und des hinteren Beins stehen bei dieser Stellung auf einer Linie. Der Oberkörper zeigt generell mit der schmalen Seite nach vorne, aber die Hüfte ist schräg zur Seite ausgerichtet.
Diese Stellung eignet sich sehr gut als passive Schutzstellung. Sie ist sehr stark nach hinten orientiert und bietet so die Möglichkeit, das vordere Bein einzusetzen: entweder für Tritte oder aber auch zum schnellen Heben bzw. um es nach hinten zu setzen. Der Körper zeigt nur mit einer kleinen Fläche nach vorne.
Leerer Schritt von vorne
Leerer Schritt von der Seite
EINBEINIGER STAND (DULI BU)
Der einbeinige Stand zeichnet sich, wie der Name schon sagt, dadurch aus, dass man nur auf einem Bein steht. Der einbeinige Stand ist besonders in Waffenformen häufig enthalten, da beim bewaffneten Kampf oft das Bein bei Angriffen weggezogen bzw. angehoben werden muss.
Generell kann gesagt werden, dass im Standbein eine leichte Beugung wegen der Stabilität vorhanden sein muss, und dass der Oberkörper normalerweise aufrecht und entspannt ist. Der einbeinige Stand ist jedoch oft von Form zu Form und Stil zu Stil verschieden: So soll man beispielsweise im Yang-Stil die Zehen des angehobenen Beins strecken, im Sun-Stil dagegen anziehen. Oft wird in der Idealpose verlangt, das Knie so hoch wie möglich anzuziehen, manchmal aber ist eine waagerechte Stellung des Oberschenkels die Norm.
Abgesehen von der Relevanz als Stellung in Kampfsituationen, ist der einbeinige Stand ein ideales Instrument, um das Gleichgewicht zu trainieren. Wahrscheinlich kommt diese Stellung deshalb auch oft in waffenlosen Formen vor.
Einbeiniger Stand von vorne
Einbeiniger Stand von der Seite
GEDUCKTE STELLUNG (PU BU)
Die geduckte Stellung wird oft auch als seitliche oder tiefe Schützestellung bezeichnet. Ich finde diese Bezeichnung aber irreführend, da außer der Unterstützungsfläche keine wirklichen Gemeinsamkeiten bestehen. Die geduckte Stellung zeichnet sich dadurch aus, dass der Körperschwerpunkt extrem stark abgesenkt wird. Ein Großteil des Körpergewichts ruht dabei auf dem hinteren Bein. Der Oberkörper ist normalerweise aufrecht oder leicht nach vorne gebeugt. Die Zehen und das Knie des belasteten Beins sollen in einer Linie stehen. Das weniger belastete vordere Bein ist gestreckt und die Zehen des Fußes sind nach innen abgedreht.
Diese Stellung ist durch ihre extreme Tiefe oft schwierig für Tai-Chi-Praktizierende. Außerdem belastet sie stark das Kniegelenk. Für Menschen mit entsprechenden Problemen empfehle ich, die Stellung strukturell gleich auszuführen, den Körper aber nur entsprechend leicht abzusenken. Somit wird der Druck auf das Kniegelenk verringert.
Geduckte Stellung von vorne
Geduckte Stellung von der...