Wie im vorherigen Kapitel bereits dargestellt, ist weder in der sportwissenschaftlichen Literatur noch in Publikationen der Sportverbände eine einheitliche Definition des Talentbegriffs zu erkennen. Daher verwundert es nicht weiter, wenn in der Talentthematik identische Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten versehen werden. Die einzelnen Sportverbände haben eine eigene Sprachregelung entwickelt. Diese Tatsache ist mir von Herrn Prof. Dr. Winfried Joch in einem persönlichen Gespräch bestätigt worden (vgl. Anhang Mündl. Auskunft 2001d).
Für JOCH ist der zentrale Begriff der Talentthematik derjenige der Talentförderung. Begründet wird dies dadurch, dass die Talentsuche, -erkennung, -auswahl und -bewahrung ihre praktische Wirksamkeit, ihre besondere Qualität und inhaltliche Bedeutung erst im Zusammenhang mit dem Förderaspekt erhalten. Dabei spielt das Talentfördertraining eine entscheidende Rolle. Erst in dem langfristig orientierten Trainingsprozess erscheint es möglich, Talente zu sichten, erkennen und auszuwählen (vgl. 1997, S. 343).
Ein Unterschied hierzu lässt sich bei den Ausführungen von GERISCH/RUTEMÖLLER feststellen, die eher der verbandlichen Sprachregelung zuzuordnen sind. Hier sind die Talentbestimmung und die Talentauswahl die Säulen, von denen die Talentsuche, Talentsichtung und Talentförderung ausgehen. Die Talentauswahl (vgl. Kap. 3.2) behandelt die Frage, mit welchen Verfahren die Ausprägung der sportartspezifischen Voraussetzungen der bestimmten Talente ermittelt werden soll. Im Mittelpunkt des Interesses stehen bei der Talentsuche und -sichtung in erster Linie die organisatorischen Maßnahmen, während die sportliche und pädagogisch-psychologische Betreuung der erfassten Talente den Kern der Talentförderung bilden (vgl. 1986, S. 272).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass kein Begriff der Talentthematik isoliert für sich steht, sondern dass sie alle einander bedingen und nur verknüpft miteinander betrachtet werden dürfen. Im Folgenden wird auf die für mich entscheidenden Elemente bzw. Merkmale der einzelnen Talentbegriffe eingegangen. Zudem wird versucht, eine inhaltliche Beziehung zum Fußballsport herzustellen.
In der sportwissenschaftlichen Literatur werden die Begriffe Talentsuche und -sichtung von Wissenschaftlern wie CARL synonym verwendet. Diesem schließe ich mich in den weiteren Ausführungen an. CARL definiert als Talentsuche alle Maßnahmen, „die mit dem Ziel durchgeführt werden, eine hinreichend große Anzahl von Personen (in der Regel Kinder oder Jugendliche) zu finden, die zur Aufnahme einer Allgemeinen Grundausbildung oder eines (sportartspezifischen) Nachwuchstrainings bereit sind“ (1988, S. 17).
An Möglichkeiten einer systematischen Talentsuche können nach CARL unterschieden werden:
Sichtung über Sportzensur
Auswertung schulischer Wettkämpfe
Spezielle Sichtungswettkämpfe der Vereine und Verbände
Sichtung über standardisierte Tests
Subjektive Beobachtung sporttreibender Kinder und Jugendliche durch Lehrer, Übungsleiter und Trainer
Welche dieser Maßnahmen unter welchen Bedingungen am effektivsten sind, darüber gibt es bisher keine wissenschaftlich abgesicherten Erfahrungen (vgl. 1988, S. 18).
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es wegen der Autonomie der Sportvereine und –verbände kein abgestimmtes System der Talentsuche. Dagegen wurde in der ehemaligen DDR seit Mitte der siebziger Jahre eine einheitliche und umfassende Talentsuche bei den Kindern des 1. und 3. Schuljahres durchgeführt (vgl. Kap. 4.2).
Der Zeitpunkt der Talentsuche bzw. –sichtung kann sportartspezifisch sehr unterschiedlich sein. Er wird vor allem bestimmt durch die Anforderungen an sportliche Höchstleistungen und die damit verbundene Struktur des Nachwuchstrainings, durch die entwicklungsspezifischen Besonderheiten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Heranwachsenden (vgl. RÖTHIG 1992, S. 497).
Eine Talentsichtung ist die organisatorische Maßnahme, in der Talente erkannt werden sollen. Wie im nächsten Kapitel aufgeführt, dienen bei einer zu sichtenden Person neben den aktuellen Fähigkeiten in entscheidendem Maß die Entwicklungsmöglichkeiten als Sichtungskriterium.
Die auf den ersten Blick plausibelste Strategie der Erkennung von Talenten bezieht sich auf ein überdurchschnittliches und auffälliges Leistungsvermögen. Dieses Kriterium ist mit begründeter Skepsis zu bewerten, denn im Vordergrund des Interesses steht eine mögliche hohe Endleistung. Der Beziehungszusammenhang zwischen der Anfangs- und der Endleistung ist geringer als zu vermuten wäre (vgl. JOCH 1997, S. 62). Dieser Sachverhalt lässt sich anhand von verschiedenen Untersuchungen belegen (vgl. COMI 1985, S. 1211-1214; vgl. FEIGE 1973 u. 1978; vgl. JOCH 2000b, S. 26-31; vgl. WITT 1970, S. 593). Der Veränderungsprozess und damit die Talentperspektive und -prognose ist die tragende Säule der Talentförderung (vgl. JOCH 1997, S. 344). Unter Talentprognose „wird im Spitzensport die begründete Vorhersage des individuell erreichbaren höchstmöglichen Erfolges in einer Sportart/Sportdisziplin bezeichnet“ (RÖTHIG 1992, S. 496).
Der Entwicklungs- und Prozesscharakter muss also bei der Talentdiagnostik (vgl. Kap. 3.1.2). Berücksichtigung finden. In der Praxis, speziell auch im Fußballsport, bezieht sich die Talentdiagnostik allerdings oftmals auf einen Sichtungspunkt oder ein Sichtungsereignis, wie es ein Test oder eine Wettkampfbeobachtung sein können. Hierbei bleibt der perspektivische Charakter der Talentthematik unberücksichtigt. Aus diesem Grund ist die punktuelle Fixierung auf ein Ereignis für die Talenterkennung relativ bedeutungslos. Erst die Integration der Talenterkennung in Maßnahmen der Talentförderung, die langfristig geplant und trainingsmäßig organisiert sind, gewährleistet eine hinreichende Diagnosesicherheit. Talenterkennung ist damit von Talentförderung nicht zu trennen (vgl. JOCH 1997, S. 64-65).
„Leistungsdiagnostik beinhaltet das Erkennen und Benennen des individuellen Niveaus der Komponenten einer sportlichen Leistung oder eines sportlichen Leistungszustandes“ (RÖTHIG 1992, S. 277).
Die Leistungsdiagnostik stellt zusammen mit der Trainingsplanung die entscheidende Voraussetzung für die Trainingssteuerung dar. An leistungsdiagnostischen Verfahren können unterschieden werden:
Befragung, Interview
Beobachtung (durch Trainer/Berater; mit Dokumentation, Raster, Video/Film, Computer u.ä.)
Sportmotorische Tests
Sportpsychologische Verfahren
Sportmedizinische (kardiologische, physiologische und biochemische) Verfahren
Funktionell-anatomische Verfahren
Biomechanische Verfahren
(vgl. WEINECK 1997, S. 51)
Bei der Durchführung von leistungsdiagnostischen Tests ist zum einen auf entsprechende Gütekriterien, zum anderen auf ihre Durchführbarkeit zu achten. Unter den Aspekt der Durchführbarkeit fallen die Praktikabilität, der organisatorische Aufwand und die eventuell anfallenden Kosten. Aus sportwissenschaftlicher Sicht wird zwischen Hauptgütekriterien (Exaktheitskriterien) und Nebengütekriterien unterschieden. Nebengütekriterien sind vor allem bezüglich der praktischen Umsetzbarkeit von Bedeutung.
Hauptgütekriterien:
Die Gültigkeit (Validität) eines Tests gibt an, in welchem Ausmaß er wirklich das erfasst, was er entsprechend seiner Fragestellung erfassen soll.
Die Zuverlässigkeit (Reliabilität) eines Tests gibt den Grad der Genauigkeit an, mit der das entsprechende Merkmal gemessen wird (Messgenauigkeit).
Die Objektivität eines Tests drückt den Grad der Unabhängigkeit der Testleistung von der Person des Untersuchers, des Auswerters und des Beurteilers aus.
Nebengütekriterien:
Ökonomie (Wirtschaftlichkeit)
Normiertheit
Nützlichkeit
Vergleichbarkeit
(vgl. WEINECK 1997, S. 51-52)
Bei der Leistungsdiagnostik, auch als Leistungskontrolle bezeichnet, wird in eine direkte und indirekte unterschieden. Als direkte Leistungskontrolle wird dabei die Registrierung der komplexen sportlichen Leistung bzw. deren interessierende Merkmale in Verbindung mit einem Wettkampf bezeichnet. Unter indirekter Leistungskontrolle wird hingegen die Registrierung einzelner Leistungskomponenten verstanden, die während der Trainingszeit oder zusätzlich zum Training in speziellen Situationen (mit besonderen Aufgabenstellungen) erhoben werden (vgl. GROSSER/NEUMAIER 1988, S. 20).
...