Kapitel 1
Damals hieß Vietnam noch Indochina. Meine Eltern hatten Frankreich als frisch verheiratetes Paar aus lauter Fernweh verlassen. Sie hatten zunächst eine Schiffsreise nach Madagaskar gebucht, mein Vater mit einem Diplom der Pariser Wirtschaftshochschule, meine Mutter mit Palette und Pinseln. Ich unternahm die Reise als Embryo im Bauch meiner Mutter.
Madagaskar war nur eine Zwischenetappe. Die Reise sollte weiter gehen: bis zum Land der Reisfelder und mit Binsen bestandenen Ebenen, mit einem Fluss, der so breit ist, dass man ihn mit dem Meer verwechseln kann, und der einmal im Jahr in der Regenzeit mit seinem gewaltigen Hochwasser die Erde befruchtet.
Auch Hügel und Berge bietet dieses Land, riesige Wälder, die man wochenlang durchstreifen kann, und man hört dann nur die Geräusche des Dschungels, welche die Sinne ansprechen, eingehüllt in diesen Geruch nach Humus, der aus weiter Ferne kommt, um in das tiefste Innere einzudringen.
Ein Land der Feen, Drachen und Götter, mit unzähligen Pagoden und einer vom Dschungel verschlungenen Riesenstadt, die einzig aus gewaltigen Tempeln besteht. Ein Land mit einer unberührten Natur, das aber auch mit der unglaublich reichen Gegenwart und Vergangenheit des Volkes verwoben ist. Land der Träume, in dem sich in einem vielseitigeren, tieferen und reicheren Leben Ost und West begegnen können.
Meine Eltern haben sich also auf dem Weg nach Indochina gemacht, wo ich einige Wochen später auf die Welt kam. Meine Mutter und meine chinesische Amme sangen mir die Wiegenlieder ihrer Heimatländer, mit ihren Drachen, die sich im tiefsten Geheimnis der beiden so verschiedenen Kulturen verbargen. Aber es waren dieselben Drachen, die es zu bekämpfen galt.
Françou kam im darauf folgenden Jahr zu Welt, Jacky ein Jahr später. Später erblickte meine neun Jahre jüngere Schwester Babette das Licht der Welt und einige Jahre danach kam noch mein jüngster Bruder Gilbert. Und Assam, unsere chinesische Amme, für uns wie eine zweite Mutter, sollte 27 Jahre bei uns bleiben, bis zu unserem Abschied von Indochina, ebenso wie der Koch Minh, der kurz nach der Geburt von Jacky in unser Haus kam.
Jedes Jahr während der drei Monate Schulferien, die wir in unserem Dorf an der Küste des Golfs von Siam, ganz nahe an der Grenze zu Kambodscha verbringen, genießen meine Brüder und ich eine nahezu unbegrenzte Freiheit; eine innere und äußere Freiheit, die uns ebenbürtig mit den Tieren des Waldes macht.
Die restliche Zeit verbringen wir in der Großstadt; in der Schule, im Schwimmbad, in unserem Haus, auf Ausflügen und auf der Straße. Denn kurz nach der Ankunft in Indochina hatte mein Vater einen kleinen Importbetrieb in Saigon übernommen.
Saigon... Klänge, Gerüche, Menschengewimmel. Tausende von Menschen, die mit den Holzsohlen ihrer Sandalen auf den Bürgersteigen klappern. Menschen, die Lasten auf den Schultern tragen, Karren und Rikschas ziehen oder wild klingelnd radfahren.
Auf den Straßen wimmelt es von „Tacatacs“, Karren wie Streichholzschachteln auf zwei großen eisenbeschlagenen Holzrädern, die von einem mit Schellenband geschmückten Pferdchen gezogen werden. Und der Kutscher schlägt mit der flachen Hand auf den Kasten, um sich einen Weg zu bahnen.
Hier wird alles mit Muskelkraft bewegt. Autos sind eine Rarität und Motorgeräusche sind auf der Straße oder in den Werkstätten der Handwerker nur selten zu hören. Dennoch hört man überall in der Stadt ein Rauschen, das von den Unmengen an fliegenden Händlern ausgeht. Sie verströmen den Duft von Trockenfisch aus dem Großen See in Kambodscha1, von der Garnelenpaste aus der Region Camau, von Nuoc-mam2 aus Phu Quoc3 und Phan Thiêt4; Düfte von chinesischer Suppe, Gewürzen, Ingwer, Minze, Kampfer, Durians, in Kokosöl gebackenen oder Chili gewälzten Küchlein und einen etwas schalen Geruch von lebenden Fischen, die in großen geflochtenen Bambuskörben, die mit einer Mischung aus Kuhdung und Harz abgedichtet sind, begutachtet werden.
Auf dem Rückweg von der Schule mache ich mit meinen Brüdern oft einen Abstecher auf den Markt. Vor einer Auslage drückt eine alte Frau mit dem Daumennagel in eine Guave, um zu prüfen, ob sie ihrem Geschmack entspricht. Sie legt die Frucht zurück auf den Haufen, nimmt eine andere, drückt mit dem Nagel in das Fruchtfleisch, einmal, zweimal, dreimal, schnüffelt, spuckt Betelsaft aus, feilscht endlos, riecht an einer vierten Guave, bevor sie mit dem Nagel hineindrückt, entscheidet sich für diese... Nein, sie nimmt eine andere, drückt erneut mit dem Nagel in das weiche Fruchtfleisch, diskutiert lauthals über den Preis. Dies wiederholt sich hundertfach entlang der Obstberge, in einem Gegacker, das alles übertönt. Am Boden sieht der Betelsaft wie Sterne aus Blut aus.
Ein Zahnzieher kauert vor seinem Patienten und massiert eine schwarze Paste in sein Zahnfleisch. Dann packt er den Backenzahn hinten im Rachen zwischen Daumen und Zeigefinger, hält den Kopf mit der anderen Hand fest, drückt mit voller Körperkraft und reißt den Zahn heraus. Anschließend legt er ihn in einen kleinen Korb voller Zahnstümpfe, die auf die gleiche Weise nur mit Hilfe der Zauberpaste und seinen Fingern aus Stahl entfernt wurden. Dann tupft er das Zahnfleisch mit dem Ende des Tuches ab, das an seinem Gürtel hängt, hackt eine Messerspitze von Blättern, die er aus einem Kästchen nimmt, fein, formt daraus eine Zauberkugel und drückt diese in die Zahnlücke. Der Patient erhebt sich und hält sich dabei die Backe, zahlt einen Piaster und geht, nachdem er versichert hat, dass er keine Schmerzen mehr habe, von dannen.
Françou und Jacky rufen mich lauthals. Ich durchquere die Reihen mit Hühnern, deren Flügel einer hinter dem anderen festgebunden sind, wie die verdrehten Arme nach einem Judokampf. Die Franzosen halten diese Art des Umgangs mit Hühnern für brutal. Ich weiß nicht, ob sie Recht haben, denn die Hühner machen nicht den Eindruck, als ob sie leiden würden, und bleiben ganz ruhig, obwohl sie sich nicht bewegen können. Wenn ihre Flügel auf diese Weise gefesselt sind, können sie sich nicht aufrichten und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dies einer zu stramm angezogenen Schnur um die Füße vorziehen. Es ist allemal besser als das Schicksal der Hühner in Afrika. Dort werden sie anscheinend bei lebendigem Leib gerupft und so auf den Märkten verkauft.
Ich komme an den Ort, zu dem mich meine Brüder gerufen haben. Eine laut lärmende Gruppe kommentiert einen Fischkampf. Zwei Fische, so groß wie der kleine Finger, liefern sich in einer Flasche mit breitem Hals einen erbitterten Kampf. Man könnte sie mit Puppenfächern verwechseln, mit ihren riesigen Flossen in den prächtigsten Farben von Rot bis Violettblau, in allen Farben des Feuerregenbogens5. Um die Flasche herum liegen die Piaster der Wetteinsätze am Boden. Nach einigen Minuten heftigen Kampfes wird ein Fisch ganz grau und sinkt leblos zu Boden. Der Besitzer des Unterlegenen nimmt seinen Fisch aus dem Glas und verteilt Piaster an die Gewinner der Wette.
Am Ausgang des Marktes bleiben wir noch eine Zeitlang stehen, um eine Szene zu beobachten, die uns immer wieder von Neuem fasziniert. Ein Greis kauert vor einem Käfig, in dem ein kleiner Vogel, mit roten Punkten und einem Schopf auf dem Köpfchen, zwitschert. Neben dem Käfig befindet sich eine Tafel mit chinesischen Schriftzeichen. Wenn er genügend Spieleinsätze auf den Feldern der Tafel sieht, erzeugt der Alte mit seiner Zunge einen Pfiff. Der Vogel schlüpft dann am Ende des Käfigs durch ein rundes Loch in einen Kasten. Nach einigen Sekunden kommt er wieder heraus und hat in seinem Schnabel ein winziges Plättchen aus poliertem Bambus mit einem chinesischen Schriftzeichen. Anschließend hüpft er quer durch den Käfig und legt das Plättchen auf den Zeigefinger seines Meisters und bekommt dafür ein Reiskorn. Dreimal hintereinander holt der Vogel ein Plättchen aus dem geheimnisvollen Kasten und erhält zur Belohnung sein Reiskorn. Dem Gewinner winkt zusätzlich zum vier- oder fünffachen Einsatz ein Horoskop. Der Alte versenkt den Rest des Geldes in der Innenseite seines dort mit Knöpfen versehenen Gürtels.
Etwas weiter fächelt eine dicke Händlerin den Brennraum ihres Ofens aus gebranntem Ton an. Im darauf stehenden Kochtopf kocht sie Eier. Drei Kulis kauern um den Kochtopf und verkosten eines der beliebtesten Gerichte. Es handelt sich um Eier, die unterschiedlich weit entwickelte Küken enthalten, je nach dem gewünschten Geschmack, anscheinend besonders delikat mit etwas Salz und Chili. Hühnereier sind doppelt so teuer wie Enteneier.
Tag und Nacht hat jeder fliegende Händler, jede Zunft einen eigenen unverkennbaren Ruf. Am Klappern der Bambussandalen eines chinesischen Suppenverkäufers, durchdringend wie ein Zikadenzirpen, erkennt man genau, in welcher Ecke einer Straße er sich gerade befindet. Die Zunft der blinden Masseure hat wiederum einen ganz anderen Ruf, wie auch die Fischverkäufer, die Zahnzieher, die Wahrsager, die öffentlichen Schreiber und selbst die Kinder, die ihre Schildkröten aus Lehm verkaufen. Die Schildkröten bringen Glück, sind so groß wie ein Fingernagel und im Inneren befindet sich eine lebendige Fliege zum Bewegen der Beine, die aus Bambussplittern nachgebildet sind.
So hört man bereits von weitem aus diesem Konzert von sonoren Schwingungen heraus, wer in diesem erstaunlichen Gefüge des Gewimmels von Saigon was macht.
Trotz der Gefahr einer ordentlichen Tracht Prügel, treibe ich mich während der Unterrichtszeit am Arroyo6 herum, um die Dschunken zu betrachten.
Am erstaunlichsten sind diejenigen, die von der Küste von Annam kommen. Nur das Äußere des Aufbaus ist aus Holz, ebenso wie Vor- und Achtersteven. Der Rest des...