Der Zusammenbruch
Der 11. September 2001 veränderte das Leben der ganzen Welt, besonders das der Amerikaner. Der 7. Juli 2011 veränderte das Leben unserer Familie, insbesondere meins, das meines Freundes, meiner Enkelkinder und das meiner Tochter, obwohl die zunächst nichts von diesen Veränderungen mitbekam.
Dabei fängt der 7. Juli – ein Donnerstag – ganz normal an: aufstehen, frühstücken, ins Büro, halt das Übliche.... Gegen zehn Uhr der Anruf von Clara, meiner Enkeltochter, die total aufgeregt ist: "Mama liegt in E. im Krankenhaus auf der Intensivstation." Dann ein Schluchzen: "Die wissen nicht, ob sie durchkommt." In mir fängt es an zu rauschen, ein Zittern geht durch meinen Körper. Was soll das? Was ist denn passiert? Ich war doch gestern noch bei meiner Tochter und den Kindern. Da war soweit alles in Ordnung! Na ja, in Ordnung?!?
Tanja hatte eine Lungenentzündung, es ging ihr nicht besonders gut, aber das Fieber war weg. Ich hatte ein paar Sachen eingekauft und Tanja hatte auch ein bisschen gegessen. "Wäre es nicht besser, du gingst ins Krankenhaus?" "Aber nein, mir geht es schon wieder gut. Auf keinen Fall gehe ich ins Krankenhaus. Ja, wenn es mir schlechter ginge, aber es geht mir schon viel besser – wirklich!" Gestern ließ ich mich beruhigen, und jetzt dieser Anruf von Clara.
Ihre Lehrerin kommt ans Telefon: "Es tut mir furchtbar leid, aber es sieht wirklich nicht gut aus. Ihre Tochter liegt im Koma, sie ist lange reanimiert worden." Koma – reanimiert – meine Gedanken rasen. Die Lehrerin weiter: "Clara kam heute Morgen zur normalen Zeit in die Schule. Sie war aber ganz verstört, weil sie wohl mehrmals in der Nacht und auch am Morgen versucht hatte, ihre Mutter auf dem Mobiltelefon zu erreichen – erfolglos! Das Handy war aus, der Teilnehmer nicht zu erreichen. Dann habe ich im Krankenhaus angerufen. Ja, Ihre Tochter ist da – aber man konnte mir keine Auskunft geben. Ich bin dann mit Clara ins Krankenhaus gefahren."
Ich muss auch zu ihr – vielleicht ist es ja nicht so schlimm – das kann doch gar nicht sein.
Tanja war laut den aufgeregten Erzählungen meiner Enkeltochter mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden. Sie wollte sich melden, wenn sie dort bleiben musste. Mir sollten die Kinder nichts sagen. Sie sollten mich erst informieren, wenn man wüsste, was los ist und wie es weitergeht. Vielleicht war es auch nicht so schlimm – aber Vorsicht ist besser. Die Kinder hatten darauf bestanden, dass der Notarztwagen meine Tochter mitnimmt. Sanitäter und Notarzt wollten das nämlich zunächst nicht, meinten sie hyperventiliere, obwohl Tanja schlimm hustete, keine Luft bekam....
Mein Sohn Tim und seine Freundin Hanna holen mich im Büro ab und fahren mit mir ins Krankenhaus. Mein Chef will mich nicht selbst fahren lassen, was sicher richtig ist: Ich kann keinen klaren Gedanken fassen – mache mir schreckliche Vorwürfe: Warum habe ich gestern Abend nicht darauf bestanden, Tanja ins Krankenhaus zu bringen? Warum habe ich mich von ihr beruhigen lassen – obwohl sie doch so schlecht aussah?
Es ist furchtbar, mein Kind so da liegen zu sehen, an den tausend Schläuchen und Apparaten – aber sie atmet. "Man muss abwarten", sagt die Ärztin – sie ist ruhig und nett, ihr Gesicht ist sehr ernst. "Ihre Tochter musste lange reanimiert werden."
Tanja hatte wohl zu Hause schon mehrere kleine Embolien und ist dann in der Notfallambulanz während der Aufnahme plötzlich zusammengebrochen – akutes totales Organversagen – und auch jetzt stehe sie bei der hohen Medikation praktisch unter Dauerreanimation, sagt die Ärztin. "Wir versuchen alles – die nächsten 24 Stunden werden entscheiden, ob Ihre Tochter durchkommt. Sie liegt im künstlichen Koma – der ganze Körper wird gekühlt, damit sich der Kreislauf erholt. Wir hoffen!"
Diese Situation kenne ich nur zu gut – ich will das nicht noch einmal erleben. Auch Micha, mein Mann, hatte so auf der Intensivstation gelegen – vor sieben Jahren.... und jetzt das Ganze noch einmal? Warum? NEIN NEIN NEIN!
Tim und Hanna haben die Kinder geholt – beide sind fix und fertig – natürlich. Sie sind jetzt 15 und fast 17 Jahre alt – trotzdem können sie nicht verstehen, was mit ihrer Mutter passiert ist.
Freitag, 8.7.2011:
Bei mir herrscht Ausnahmesituation – ebenso bei Tanjas Kindern! Rolf, mein Freund, den ich jetzt seit neun Monaten kenne, ist im Krankenhaus – eine Knie–OP. Eigentlich sollte ich ihn abholen und wollte dann übers Wochenende bei ihm bleiben! Ich habe in meiner Aufregung gerade noch daran gedacht, ihm telefonisch Bescheid zu sagen.
Heute Morgen der Anruf einer Schwester aus dem Krankenhaus: Tanja ist in der Nacht wieder zweimal reanimiert worden und man rechnet jetzt mit dem Schlimmsten.....
NEIN NEIN! Ich fahre mit Ramon, Tim und Hanna sofort nach E. Der Blutdruck ist etwas gestiegen – Gott sei Dank! Es gibt wieder ein Fünkchen Hoffnung.
Wir halten Tanjas Hand – immer wieder der Blick auf den Monitor – und dann steht Rolf auf einmal im Zimmer. Endlich ein Arm, an den ich mich lehnen kann, jemand der meine Hand hält – obwohl er an zwei Krücken hereinkommt und bestimmt nicht Auto fahren darf. Aber Rolf will jetzt bei mir sein – das tut trotz der schrecklichen Situation unheimlich gut.
Und dann kommt auch noch Olaf, Tanjas Mann, von dem sie sich vor einer Woche räumlich getrennt hatte. – D.h. er war aus der Wohnung ausgezogen – nach schlimmen Krächen – wie die Kinder mir gesagt haben. Natürlich habe ich ihn angerufen. Alles ist jetzt zweitrangig – Tanja muss wieder gesund werden!
Die Ärzte machen ein sehr ernstes Gesicht: "Wir müssen abwarten, erst mal ist die schlimmste Krise überwunden – aber...." Tausend Fragezeichen! Wir hoffen! Es wiederholt sich wirklich: Auch im Juli vor sieben Jahren hatte ich gehofft..., obwohl die Ärzte mir damals nur einen winzigen Funken Hoffnung ließen. Das darf nicht wieder passieren – Tanja muss leben! Sie ist stark, sie ist noch jung – erst 39, sie kann kämpfen!
Samstag, 9.7.2011:
Anruf im Krankenhaus: Tanja hat hohes Fieber – der Puls rast. Wir fahren sofort hin und bleiben den ganzen Tag bei ihr. Als wir am Abend gehen, steht das Fieberthermometer auf 40,7 und der Puls auf 180! "Wir können nichts tun", sagen die Ärzte. "Abwarten, hoffen und beten!" Das mache ich – ich weiß nicht, wie viele Kerzen für Tanja brennen. Die ganze Familie, meine Schwestern, mein Bruder, meine Freunde – alle beten, hoffen mit uns auf eine bessere Nachricht aus dem Krankenhaus.
Sonntag, 10.7.2011:
Die Nachricht aus dem Krankenhaus ist heute besser: Der Kreislauf hat sich stabilisiert, das Fieber ist gesunken, der Puls hat sich etwas beruhigt. Aber die Schwester sagt auch, das bedeute nicht, dass Tanja über den Berg sei. Aber nur das will ich hören!
Tim und Hanna sind in diesen Tagen für uns da: Die Kinder haben mehrmals bei den beiden in Köln geschlafen – auch Carlo, den Hund, haben sie mitgenommen. Und ich bin bei all dem Schrecklichen, das gerade passiert, so froh und dankbar, dass Rolf jetzt zu mir gehört und für mich da ist, dass ich so viele Freunde habe, so einen tollen Chef und Kollegen, die alle Anteil nehmen und mit uns hoffen.
Montag, 11.7.2011:
Wieder bin ich den ganzen Tag im Krankenhaus, ich streichele meine Tochter, halte ihre Hand. Die Kinder halten es fast nicht aus, sie wollen wieder mit ihrer Mutter sprechen, sie soll die Augen aufmachen. Abends fahre ich mit Clara und Ramon in Tanjas Wohnung – ich schlafe in dem Bett meiner Tochter, während sie in E. auf der Intensivstation liegt.
Dienstag, 12.7.2011:
Tanjas Zustand ist unverändert. Sie scheidet nur viel zu wenig Urin aus – das ist jetzt die größte Sorge der Mediziner. Die Ärzte verstehen zwar unseren gedämpften Optimismus und unsere Zuversicht – schließlich hat Tanja jetzt schon vier Tage überlebt. Aber die Freude darüber wird von ihnen nicht unbedingt geteilt – sie sind sehr vorsichtig in ihren Aussagen.
Mittwoch, 13.7.2011:
Tanja ist jetzt in Köln! In E. gibt es keine Dialyse – und Tanjas Körper wird immer dicker und aufgedunsener, die Nieren arbeiten nicht. Es muss etwas geschehen, wenn sie noch eine Chance haben soll. Die Ärzte haben abgewogen: In E. können sie nichts für Tanja tun. Sie muss in eine andere Klinik – also wird ein Hubschrauber angefordert, auch wenn man nicht weiß, wie sie den Transport überstehen wird.
Als wir in E. im Krankenhaus ankommen, ist Tanja schon auf dem Weg in den Helikopter. Gott sei Dank! In der Klinik in Köln wird man ihr bestimmt besser helfen können. Die Ärzte und auch die Schwestern hier sind zwar unheimlich nett und fürsorglich zu Tanja und zu uns allen, aber die medizinischen Möglichkeiten sind eben begrenzt. Nun steigt meine Hoffnung wieder: Jetzt wird man noch mehr für meine Tochter tun können, schließlich ist es eine neurologische Spezialklinik.
Die Ärzte dort sind auch zufrieden: Tanjas Zustand bleibt zunächst stabil. Laut Aussage des Stationsarztes haben sie Tanja in einem noch schlechteren Zustand erwartet. Allerdings...