II. Fernöstliches im Westen
1. Karma und Reinkarnation
a) Beobachtungen
Vor dem Verwaltungsgericht Münster war es im November 1986 um einen etwas ungewöhnlichen Prozess gegangen. Eine junge, verheiratete Diplompädagogin hatte behauptet, durch ein sogenanntes »Wiederverkörperungserlebnis« plötzlich ihre »wahre Identität« gefunden zu haben. Demzufolge sei sie in einem früheren Leben eine Inderin namens »Rima« gewesen und könne nun mit den von ihren Eltern ausgewählten Vornamen Dagmar Luise Giesela nichts mehr anfangen; diese Namen seien ihr »wesensfremd«. Vom Ehemann und von ihren Freunden werde sie zwar schon »Rima« gerufen, das sei ihr aber zu wenig: Die »neue Identität« müsse auch im Personalausweis dokumentiert werden. Deren offizielle Nichtanerkennung bereite ihr nämlich Schlaflosigkeit und Magenbeschwerden.
Das Gericht entschied, dass der Glaube an die hinduistisch-buddhistische Lehre von der »Seelenwanderung« und die angebliche Offenbarung einer neuen »Identität« nicht zur Namensänderung in der Geburtsurkunde führten. Dieser Glaube sei kein wichtiger Grund im Sinne des Gesetzes, um in die Kontinuität der Namensführung einzugreifen. Im privaten Bereich könne die Klägerin aber, wie schon bisher, als »Rima« gelten (Aktenzeichen: 1 K 2269/85, Frankfurter Rundschau, 17. November 1986).
Ein zweijähriger, spanischer Junge namens Osel Iza Torres aus Alpujarras, der von tibetischen Mönchen als die Reinkarnation des 1984 in Kalifornien verstorbenen Lama Thubten Yeshe gesehen wird, ist im nordindischen Dharmsala in das Amt eines Lama eingeführt worden. Gleichzeitig wurde er Nachfolger Thubtens als Vorsteher eines buddhistischen Klosters in Nepal. Der Junge hatte sich vorher schon in anderen buddhistischen Zentren (seine Eltern leiten ein solches in Spanien) verschiedenen Zeremonien und Prüfungen unterziehen müssen.
Für die Anhänger des tibetischen Buddhismus steht die »Reinkarnation« Thubten Yeshes in dem kleinen Spanier außer Frage. »Sein Auftreten und einige Gesten sind wie bei Thubten«, meinte eine Frau, die den verstorbenen Lama gekannt hatte. Da lebe die Seele eines 40-jährigen Mannes im Körper eines Kindes. Auch der Dalai Lama habe diese Reinkarnation schon anerkannt (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März 1987; Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 1986).
Die amerikanische Schauspielerin Shirley McLaine veröffentlichte im Sommer 1986 ein Buch mit dem Titel Dancing in the Light«, in dem sie von einigen ihrer früheren Leben erzählt. Shirley berichtet darin: »Ich war Tänzerin in einem Harem. Ich war ein meditierender Mönch. Ich war eine russische Ballerina. Ich war ein Japaner im Kimono. Ich war ein mongolisches Nomadenmädchen. Ich war ein russischer Soldat. Ich war ein Inkajunge in Peru« (Stern, 26. Juni 1986, S. 26f).
Die Zeitschrift esotera berichtete im Juli 2000, dass Shirley McLaine außerdem eine »Affäre mit Karl dem Großen« gehabt haben wollte. »In einem Interview in der (amerikanischen) TV-Sendung ›60 Minutes‹ wurde sie jetzt ganz konkret. Vor rund 1200 Jahren will sie in ihrer damaligen Inkarnation eine Affäre mit Karl dem Großen gehabt haben. Aber nicht nur das. Sogar in ihrem derzeitigen Leben habe sie die Freuden der Liebe mit dem Frankenkaiser genossen: in dessen späterer Inkarnation als Olof Palme, dem 1986 ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten.«
Der Comedian und TV-Entertainer Hans-Peter »Hape« Kerkeling beschreibt in seinem 2006 erschienenen Buch Ich bin dann mal weg eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien. Unter anderem berichtet Kerkeling darin auch von seiner Teilnahme an einem »Reinkarnationsseminar« in Frankfurt/M. Er habe nach der Behandlung durch einen Therapeuten das Gefühl gehabt, schon einmal gelebt zu haben und als Franziskanermönch am Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Kloster in der Nähe von Breslau von deutschen Soldaten erschossen worden zu sein. So jedenfalls habe er die visionären Bilder gedeutet, die während der Sitzung auftauchten.
Als die BILD-Zeitung am 30. Mai 2006 diesen entsprechenden Auszug aus dem Buch abdruckte, gab es ein breites, öffentliches Echo, in dem zahlreiche Leser ebenfalls von ihren früheren »Inkarnationen« berichteten. Auch Prominente wurden mit der Behauptung zitiert, schon einmal gelebt zu haben. Uschi Glas: »Ich habe schon mal in Hongkong gelebt. Bei meiner ersten Reise dorthin erkannte ich eigentümlich eingefärbte Kacheln wieder.« – Franz Beckenbauer: »Ich habe sicher schon einige Male gelebt. Unter anderem als Tier und als Pflanze.« – Veronica Ferres: »Ich war ein Delfin …« – Katerina Jacob: »Ich habe im Jahre 800 als Nonne in einem Kloster gelebt.« – Gotthilf Fischer: »Ich war zur Zeit Beethovens ein Kuschelbär, der dauernd in den Arm genommen wurde.« – Ruth-Maria Kubitschek: »Ich war im 17. Jahrhundert Mätresse eines französischen Herzogs.« – Madonna: »Ich war ganz sicher in einem früheren Leben ein chinesischer Kaiser.« – Tina Turner: »… ich war die ägyptische Königin Hatschepsut« (BILD, 31. Mai 2006).
Was diese geschilderten Einzelerlebnisse trotz äußerer Distanz eng miteinander verbindet, ist der Glaube an die »Reinkarnation«. Dabei geht es, kurz gesagt, um die Vorstellung, ein bestimmtes, unsterbliches Element des Menschen (»Seele«, »Selbst«, »Ich«, »Bewusstsein« o. Ä.) könne bzw. müsse sich nach dessen Tod innerhalb kürzerer oder längerer Zeit erneut in einem anderen lebenden Wesen »inkarnieren« (verkörpern).
Normalerweise werden solche Dinge zu den asiatischen Religionen gezählt. Aber auch im Westen erfährt diese Idee seit einigen Jahren eine stärker werdende öffentliche Beachtung und Popularität. In esoterischen Gruppen wie Theosophen, Anthroposophen, Rosenkreuzer oder in spiritualistischen Sekten wird dieses Gedankengut schon seit Jahrzehnten gepflegt. Besonders das angeblich nun aufkommende neue »Zeitalter des Wassermanns« (New Age) bietet einen günstigen weltanschaulich-spirituellen Nährboden, auf dem sich die Reinkarnationsvorstellungen weiter ausbreiten können.
b) Fernöstliche (hinduistische und buddhistische) Vorstellungen von der Wiederverkörperung
Das Modell von »Karma« und »Reinkarnation« ist in Indien entwickelt worden, und zwar im brahmanisch-hinduistischen Kontext. Später wurde dieses Konzept auch vom Buddhismus übernommen, jedoch etwas anders interpretiert, sodass diese beiden Ansätze getrennt betrachtet werden müssen.
Religionswissenschaftler nehmen an, dass sich entsprechende Vorstellungen schon in den zwischen 800 und 600 v.Chr. entstandenen Upanischaden finden, einer Textsammlung von zunächst geheimen brahmanischen Abhandlungen über religiöse Fragen, Opferkulte und Priestertum. Hier gibt es Hinweise darauf, dass die »Seele« mehrfach in einem neuen Körper wiedergeboren werde und dass der Mensch alle Folgen seiner Taten in diesem bzw. einem zukünftigen Leben tragen müsse. Es gebe aber auch Wege, diesen Kreislauf von Leben, Sterben und Wiederverkörperung zu beenden und Erlösung zu erlangen. Später, in der Bhagavad-Gita, dem »Gesang des Erhabenen« (Krishna) aus dem Hindu-Epos Mahabharata (zwischen 400 v.Chr. und 400 n.Chr.), spricht »Gott Krishna« zu Arjuna: »Wie die Seele bereits in diesem Körper Kindheit, Jugend und Alter hat, so geschieht es auch, dass sie einen anderen Körper ergreift. Der Weise wird daran nicht irre.« Und: »Dem Geborenen ist der Tod gewiss, dem Toten ist die Geburt gewiss. Darum sollst du über eine unvermeidliche Sache nicht trauern« (II, 13 und II, 27; Sarvapalli Radhakrishnan, Die Bhagavadgita, Wiesbaden o. J., S. 118 u. 124).
In den wichtigsten Strömungen des Hinduismus wird davon ausgegangen, dass die Menschen eine unsterbliche »Seele« in sich tragen, eine Art göttlichen Funken (= »atman«), der in seiner Substanz mit der göttlich-kosmischen All-Seele (= »brahman«) identisch sei. Das »brahman« ist demnach die absolute, ewige und unveränderliche Realität hinter allem Sichtbaren und Unsichtbaren, womit auch der »atman« keinen Anfang und kein Ende hat. Die in den Menschen befindlichen »Seelen« werden quasi als Emanationen des »brahman« in die Welt der Materie und Gefühle (= »maya«) hineingedacht, mit der sie aber von der Substanz her nichts gemein haben.
Wenn der physische Körper am Lebensende alt und verbraucht ist, wird er im Augenblick des Todes von der Seele abgestreift,...