KAPITEL 1
Das Stadion – ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?
NSU-Mundlos in der Dortmunder Szene
»Der Fußball kennt keine Grenzen.« Das hat niemand Geringeres gesagt als Bundeskanzlerin Angela Merkel. Als die Fußballwelt 2006 in Deutschland zu Gast war und um den Weltmeistertitel spielte. Kennt der Fußball wirklich keine Grenzen?
Kommerzielle Grenzen scheint es für das zynische Milliardengeschäft Fußball in der Tat nicht mehr zu geben. Es kann und darf sie auch niemals geben, da sich die Branche sonst selbst ad absurdum führen würde. Aber wie steht es eigentlich um die Moral? Dieser längst aus der Mode gekommenen Haltung, die allenfalls noch als belächelte Floskel existiert. Moral? So etwas braucht der moderne Mensch heute offenbar ebenso wenig wie rassistische Grenzen – oder? Und wie sieht es mit der Menschlichkeit aus? Vielleicht benötigen wir wenigstens davon hin und wieder ein Mindestmaß auf und neben dem Fußballplatz. Denn mit Verlaub, Frau Bundeskanzlerin, wo der grenzenlose Fußball hinführen kann, zeigt schon allein das Beispiel des Düsseldorfer Fortuna-Fans »Obi«.
In seiner Stammkneipe, im »Tills«, ist er von jedermann schnell zu finden. Dort sitzt er Tag für Tag, immer mit dem Rücken zur Wand, seit Monaten schon. Das »Tills« ist sein Zuhause. In dieser Düsseldorfer Altstadtkneipe trinken nur Gleichgesinnte ihr Bier. Fans der abgestiegenen Düsseldorfer Fortuna und Anhänger der Düsseldorfer Eishockey-Cracks. Und trotzdem hat »Obi« – dessen wirklicher Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden kann – fortwährend Angst. Seit dem 20. Oktober 2012, als die Bayern in Düsseldorf spielten und ihm dabei drei unbekannte Männer mit gezielten Kniestößen den Schädel zertrümmerten. Tatort: Fankurve. In einer Notoperation wurde »Obi« der zerstörte Stirnknochen weggefräst und durch eine Titanplatte ersetzt. »Obi«, der Logistiker, »Obi«, der Fortuna-Fan, hat überlebt. Die Angst aber wird ihn wohl noch ein Leben lang begleiten.
Alles halb so schlimm, wiederholt sich Ralf Jäger, Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, wenn es mal wieder zu solchen oder ähnlichen Vorfällen gekommen ist. Dass sich seit 2012 auch vermehrt und gezielt Rechtsradikale unter die prügelnden Fans mischen, vor allem im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo Fußball eine ganz besondere Rolle spielt, stört Jäger offenbar auch nicht sonderlich. Warum auch? Man dürfe, sagte der überzeugte Sozialdemokrat schon im Jahre 2012, Nazis in einem Fußballstadion ganz einfach »nicht überbewerten«. Hassgesänge sowie Übergriffe auf Migranten wurden durch die Äußerungen Jägers bagatellisiert. Ein »Mann ohne Verantwortung?«, fragte deshalb auch der Publizist Klaus Happel in seinem gleichnamigen Buch. Das war 2010 nach der Duisburger Loveparade-Katastrophe, und auf Happels damalige Frage erfolgte bis heute keine Antwort.
Das Schlimmste daran ist: Jäger spricht nur das aus, was viele seiner Kollegen auch nicht anders sehen wollen. Ein fataler Fehler. Denn immerfort zu behaupten, das Fußballstadion sei historisch betrachtet schon immer ein Ort unpolitischer Auseinandersetzungen gewesen, man könne also durchaus ignorieren, was sich dort abspielt, begünstigt in allererster Linie die Werbestrategen der nationalen und internationalen Fußballverbände. Deren Millionen- und Milliardengeschäfte laufen mit derartiger Hilfe nämlich erst recht wie geschmiert. Es hilft aber auf keinen Fall denen, für welche die Politiker angeblich die Verantwortung übernommen haben, also für die ohnehin schon Benachteiligten in der Bevölkerung. Es hilft vor allem nicht jenen Mitbürgern, die von rassistischen und nazistischen Gewalttaten heimgesucht werden; und erst recht nicht denen, die sich dagegen wehren oder gar organisieren.
Aber so etwas lässt sich ja an den vielen runden Tischen landauf, landab mit Vehemenz zerreden. Zum Beispiel auch die gern gestellte, aber niemals beantwortete Frage: Ist das Fußballstadion nun ein Zerr- oder möglicherweise ein Brennspiegel unserer Gesellschaft? Oder anders ausgedrückt: Offenbart sich unsere Gesellschaft, wie unter einem Brennglas betrachtet, in einem Fußballstadion ganz besonders akzentuiert? Ganz ohne Verharmlosungen? Auf alle Fälle spiegelt das, was sich auf und neben deutschen Fußballplätzen abspielt, kein Minderheitenprogramm wider, sondern den deutschen Mainstream. Vielleicht sogar das, was gern und mithin undefinierbar als »deutsche Seele« bezeichnet wird. Darin sind sich viele linke und rechte Demokraten einig. So stellten sowohl das erzkonservative Domradio des Erzbistums Köln wie auch die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung bereits im Oktober 2010 übereinstimmend fest, dass in Deutschland rechtsextreme Tendenzen kräftig und unaufhaltsam auf dem Vormarsch seien. Eine These, die beide Institutionen mit Zahlen untermauert haben. Nach Umfragen der Friedrich-Ebert-Stiftung bekennt sich demnach bereits jeder vierte Bundesbürger zu ausländerfeindlichen Einstellungen. Jeder Zehnte stimmte sogar – und zwar ohne Einschränkungen – antisemitischen Äußerungen zu. 35 Prozent meinten frank und frei, Deutschland sei »in einem gefährlichen Maße überfremdet«. Das Kölner Domradio schlussfolgerte daraus, es würde sich hier keineswegs um ein Randphänomen unserer Gesellschaft handeln; vielmehr befänden sich diese starken rechtsextremen Tendenzen »im besorgniserregenden Maße in der Mitte der Gesellschaft«. Aus diesem braunen Bodensatz entsteht in der Fankurve deutscher Fußballstadien derzeit ein rechter, scheinbar grenzenloser Tatort. Alles übertrieben?
Naturgemäß mag nun der Einwand provoziert werden, das alles gelte wohl per se nur für die neuen Bundesländer, also für die Bewohner der ehemaligen DDR und nicht etwa für den demokratisch gefestigten Westen. Weit gefehlt. Ausgerechnet eine Langzeitstudie der Universität Leipzig im ostdeutschen Freistaat Sachsen förderte bei 17 000 Befragten in den Jahren 2002 bis 2012 zutage, dass Rechtsextremismus in allen deutschen Bundesländern besonders ausgeprägt ist: im Osten vor allem bei Jugendlichen, im Westen hingegen bei den älteren Jahrgängen. Übrigens: Entsprechend der Leipziger Studie gelten zwar 32 Prozent der Ost-, aber immerhin 23 Prozent der Westdeutschen als »ausländerfeindlich«. Diese Statistik zeigt zwar nicht zwangsläufig, dass alle Fußballfans seit jeher dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, doch es lohnt sich zu untersuchen, inwieweit rechte Tendenzen unter hiesigen Fußballfans bereits verbreitet sind. Die Nähe zwischen Fußballfans und Rechtsradikalen ist jedenfalls nicht zu unterschätzen, auch nicht von der Politik.
So berichtete Mitte März 2013 ein V-Mann der Dortmunder Polizei von einem Treffen zwischen dem Ex-V-Mann Toni S. mit Uwe Mundlos. Er galt vor seinem Freitod am 4. November 2011 als einer der führenden Männer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Mundlos, so der V-Mann der Dortmunder Polizei, habe sich damals in der Nähe jenes Tatorts aufgehalten, an dem wenig später der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik ermordet wurde. Offenbar habe sich Mundlos dort mit einem oder mehreren Mitgliedern der Fußball-Hooligans von der »Borussenfront« getroffen. Nach Recherchen der WAZ-Mediengruppe in Essen, die inzwischen Funke Mediengruppe heißt, hätten Mitglieder der rechtsradikalen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) weitaus intensivere Kontakte in Dortmund unterhalten, als bis zu jenem Zeitpunkt vermutet wurde und noch immer vermutet wird. Gehören dazu womöglich auch die Kontakte ostdeutscher NSU-Mitglieder zur rechtsradikalen »Borussenfront«, deren Mitglieder sich immer dann auf den Stadionrängen ausbreiten, wenn der BVB Dortmund aufspielt? Die hierbei entstandenen Fotos kommentiert die Polizei lapidar, man habe Mundlos auf einigen dieser Bilder deshalb nicht ausmachen können, weil man ihn in Dortmund und in Nordrhein-Westfalen gar nicht gekannt hätte.
Dass ost- und westdeutsche Hooligans aber schon vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989 gemeinsam handgreiflich wurden, ist kein Gerücht mehr, sondern längst aktenkundig. Das sollte sich auch bis in den tiefen Westen rumgesprochen haben, denn der Fußball bildete dabei immer das tragende Fundament. Nur ein Beispiel: Am 17. Oktober 1987 hatten Fans des Ostberliner Stasi-Clubs Dynamo Berlin gemeinsam mit Neonazis aus Westberlin in der Ostberliner Zionskirche ein Konzert der Westberliner Band Element of Crime überfallen. Helfer der Ostberliner Schläger waren die damals ihrer Brutalität wegen besonders gefürchteten und in Einzelgruppen noch immer aktiven »Hertha-Frösche«, also Hooligans des gerade wieder in die erste Bundesliga aufgestiegenen Westberliner Fußballvereins Hertha BSC. Und das, obwohl damals noch die Mauer stand. Wie die »Hertha-Frösche« seinerzeit unerkannt nach Ostberlin und wieder zurück nach Westberlin gekommen sind, bleibt bis heute unklar.
Mit...