Technikgeschichten: Zur Einführung in diese Einführung
Technik als Reflexionsbegriff
Das Erstaunliche an der Technikphilosophie ist, dass es sie noch nicht sehr lange gibt. Während die Technik so alt ist wie die Menschheit selbst und die Philosophie immerhin auf eine fast dreitausendjährige Geschichte zurückblickt, taucht die »Technikphilosophie« unter diesem Namen erst 1877 auf (Kapp 1877). Sie entwickelte sich im 20. Jahrhundert in vielen Gestalten und führt immer noch ein Schattendasein neben prominenteren Disziplinen wie Erkenntnistheorie, Ethik oder Ästhetik. Dass es sich um ein philosophisches Fachgebiet ohne eigene Tradition handelt, macht eine Schwierigkeit dieser einführenden Darstellung aus. Einerseits führt das technikphilosophische Interesse zu Anfängen bei Aristoteles, Spuren bei Kant oder Hegel, Ansätzen bei Marx. Andererseits steht es mit leeren Händen da, wenn sich selbst in neueren philosophischen Wörterbüchern nichts (z.B. Edwards 1967) oder nur ein relativ knapper Abriss (z.B. Ritter 2007) unter dem Stichwort »Technik« findet. Diese Traditionslosigkeit soll in diesem Buch nicht kompensiert werden, indem etwa eine Geschichte rekonstruiert wird, die chronologisch von Aristoteles in die Gegenwart führt. Auf Aristoteles, Bacon oder Descartes wird stattdesssen dann zurückgegriffen, wenn sie in den aktuellen Diskussionen einiger Kernfragen ins Spiel kommen.
Eine zweite Schwierigkeit unterstreicht die Reichweite und enorme Bedeutung der Technikphilosophie. Nicht nur handelt es sich bei ihr um ein Fachgebiet ohne Tradition, sie ist vor allem ein Fachgebiet ohne eigene Fragestellung. Im Grunde ist die Technikphilosophie die ganze Philosophie noch einmal von vorn – diesmal unter Einbeziehung der Technik. Sie stellt beispielsweise die Frage nach dem Wesen der Technik und stößt dabei auf den homo faber, den Menschen als herstellendes und hervorbringendes Wesen. Das ist philosophische Anthropologie im Blickwinkel der Technik. Die Technikphilosophie beschäftigt sich auch mit der von Menschen geschaffenen Welt und ihren technisch strukturierten Lebensformen. Das ist Naturphilosophie und die alte Frage nach dem Seienden in der zweiten Natur unserer technisierten Welt. Auch die Geschichtsphilosophie kehrt in der Technikphilosophie mit der Behauptung wieder, dass unsere Lebenswelt eine zunehmende Technisierung erfährt. Wenn nach technischer oder instrumenteller Rationalität gefragt wird, nach Funktion und Funktionieren, nach Konstruktionsprinzipien und Ingenieurswissen, haben wir es mit einer Erweiterung der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie zu tun, die viel zu lange versucht haben, ohne Technikbezug auszukommen. Insofern unsere Beziehung zu Technik jenseits praktischer Nützlichkeitserwägungen mit Lust und Unlust verbunden ist, kommen Ästhetik und Philosophie der Künste ins Spiel, die von der Betrachtung technischer Kunstwerke nur profitieren können. Am wenigsten überrascht schließlich, dass innerhalb der Technikphilosophie auch Ethik und politische Philosophie unter dem Vorzeichen der Technik neue Fragen stellen. Dabei ist das Problem eines angemessenen Verhältnisses zur Technik und einer verantwortlichen Technikentwicklung mit den Fragen der philosophischen Anthropologie, der Natur- und Geschichtsphilosophie, der Erkenntnistheorie und Ästhetik eng verknüpft. Sie kommen in den Auseinandersetzungen um die oft widerstreitenden Visionen für die technische Gestaltung unserer Welt zusammen. Die Anordnung der folgenden Kapitel entspricht dieser Aufzählung von Fragen nach dem Wesen der Technik, nach Technik als Lebensform, nach Technisierungsprozessen, nach technischer Rationalität und schließlich nach technischen Kunstwerken. Das Problem eines angemessenen Technikverhältnisses durchzieht das Buch und wird abschließend explizit zur Sprache gebracht.
Gernot Böhme stellt ebenfalls vier Paradigmen der Technikphilosophie vor – das anthropologische, ontologische, geschichtsphilosophische und epistemologische – und hat trotzdem den Eindruck, »dass es eigentlich noch gar keine richtige Technikphilosophie gibt« (Böhme 2008, 23-29). Dass die Technikphilosophie keine eigenen Fragen hat, soll hier vor allem unterstreichen, dass sie die alten Fragen neu und angemessener stellt. Dabei kommt nun aber eine weitere grundlegende Schwierigkeit ins Spiel. Der Technikphilosophie fehlen nämlich nicht nur die Tradition und die eigene Fragestellung, sondern sie hat auch keinen klar definierten Gegenstand. Obwohl das Wort »Technik« hier schon mehrfach gebraucht und vielleicht auch vage verstanden wurde, lässt sich gar nicht so leicht sagen, was mit diesem Wort gemeint ist. Wir sprechen von Elektrotechnik als einem Oberbegriff für technische Geräte, technische Systeme, technische Prozesse und technisches Wissen – wobei jedes einzelne Gerät, jedes System und jeder Prozess wieder als Technik bezeichnet werden kann. Aber wir sprechen auch von Kulturtechniken wie dem Schreiben und Lesen, von Kontroll- und Sozialtechniken, die für die Beherrschung großer Menschenmengen oder die Durchleuchtung des Kunden an der Kasse eingesetzt werden. Dass motivierte Mitarbeiter höhere Leistungen erbringen, verdankt sich gewissen Managementtechniken, und auch die Rituale eines Schamanen sind Techniken, um den sozialen Zusammenhang zu stärken oder den Regen herbeizuführen. Unser Sprachgebrauch kennt van Goghs Technik des Farbauftrags, die Technik eines Fußballspielers und die Überzeugungstechniken großer Redner. Das Handwerk und die industrielle Fertigung bedürfen der »Technik«, die aus der Wissenschaft hergeleitet oder ganz unberührt von ihr sein kann. Die chemische Synthese eines medizinischen Wirkstoffs, aber auch das Kochen einer Mahlzeit ist ein technischer Vorgang. Und immer wenn das Wort »Technik« gebraucht wird, sind einige, aber nicht alle dieser Bedeutungen im Spiel. Dementsprechend mag es scheinen, dass erst einmal die Begriffe geklärt werden müssen, ehe es mit der Technikphilosophie losgehen kann. Allerdings ist zu befürchten, dass so ein Ansatz in begrifflichem Vorgeplänkel steckenbleibt oder allzu willkürliche Festsetzungen und Einschränkungen vornimmt. Auch angesichts dieser dritten Schwierigkeit sollten wir erwarten, dass die Technikphilosophie über Begriffsklärungen hinausgeht, selbst wenn sie zunächst nach dem Wesen der Technik fragt.
An dieser Stelle kommt ein Vorschlag von Armin Grunwald und Yannick Julliard zu Hilfe. Sie reden von »Technik als Reflexionsbegriff« und bieten dafür eine Definition an, die auf den ersten Blick höchst unbefriedigend erscheint, aber auf den zweiten Blick das Definitionsproblem hinter sich lässt: Technik sei das, was wir meinen, wenn wir allgemein über Technik reden (Grunwald/Julliard 2005, 140). In dieser Formulierung kommt »Technik« zweimal vor, und die erste Reaktion darauf ist, dass in einer ordentlichen Definition der zu definierende Begriff nicht verwendet werden darf. Aber hinter dem Vorschlag, Technik sei ein Reflexionsbegriff, steckt mehr: In der zweifachen Verwendung hat das Wort nicht dieselbe Bedeutung. Wenn wir über Technik reden, gehen wir von einem undefinierten Vorverständnis aus. Wir reden eigentlich über das, was uns zum Stichwort »Technik« einfällt. Fangen wir nun an, darüber zu reflektieren, dann führt uns dieses Vorverständnis auf allgemeinere Überlegungen. Was zunächst nur ein erster Einfall war, wird nun zu einer Art Sinnbild für das, was Technik sein und bedeuten kann. Zum Stichwort »Technik« fällt einigen die Maschine ein, andere denken vielleicht an den perfektionierten Bewegungsablauf eines Sportlers, wiederum andere an die Nanotechnologie oder die Vernetzung der Menschen durch das Internet. Reflexionen über diese Sinnbilder führen weg von den Dingen und hin zu ihren Bedeutungen für uns und schließlich hin zu uns selbst oder der Stellung des Menschen in der technisierten Welt. Je nachdem, was uns zum Stichwort »Technik« einfällt, sprechen wir von Hoffnung auf medizintechnische Heilung oder Angst vor Kontrollverlust und technischer Überwachung. Auf einer weiteren Reflexionsstufe kommen dann vielleicht Fragen nach menschlicher Freiheit oder nach der Gestaltbarkeit der technischen Entwicklung ins Spiel: Wie unaufhaltbar ist die scheinbare Eigendynamik der Technik, wenn wir etwa an Halbleiter oder Elektronikprodukte denken, und wie abhängig von politischen Entscheidungen ist sie, wenn es um die Bekämpfung von Infektionskrankheiten in Entwicklungsländern geht?
Wenn Technik das ist, was wir meinen, wenn wir allgemein über Technik reden, dann interessiert sich Technikphilosophie zunächst einmal für diese Reflexionsbewegungen und dafür, wie sie uns von einem unreflektierten Vorverständnis zu Fragen darüber führen, auf welche Weise unser Verhältnis zur Welt über die Technik organisiert ist, d.h. zu den Fragen der philosophischen Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Naturphilosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie oder Ästhetik. Methodisch kann die Technikphilosophie nicht viel mehr leisten, als diesen Weg immer wieder zu gehen, also immer wieder von konkreten Vorstellungen ausgehend zu allgemeinen Reflexionen zu gelangen. Und diesen Weg immer wieder gehen heißt letztlich so...